by Stella Tack
Die letzten Stunden hatten wir in Alex’ Zimmer verbracht – und langsam bereute ich es, dem Horrorfilm-Marathon zugestimmt zu haben. Die Lasagne und das chinesische Essen, das wir danach noch bestellt hatten, lag mir immer noch schwer im Magen.
»Jeff, du hast gesagt, dass wir uns einen Klassiker ansehen. Von Die Vögel war nicht die Rede«, jammerte ich und zuckte zusammen, als sich eine Schar Vögel auf die Dorfbewohner stürzte.
Die Jungs johlten, während ich mich kaum traute, hinzusehen.
»Die Vögel ist ein Klassiker«, stellte Alex klar.
Jeff ließ sich von diesem blutigen Massaker nicht davon abhalten, genüsslich eine Tüte Chips zu essen, während auf dem Bildschirm die Vögel gerade die Dorfbewohner zu Vogelfutter verarbeiteten.
»Können wir nicht bitte etwas anderes schauen?«, stieß ich hervor. Als ein Rabe wie aus dem Nichts auftauchte und sich auf die Leute stürzte, machte ich einen solch erschrockenen Satz, dass ich halb auf Alex landete. Lachend fing er mich auf und schlang schützend die Arme um mich. Der plötzliche Körperkontakt ließ mich zögerlich innehalten. »Sorry«, murmelte ich und spürte, wie ich rot wurde.
»Schon gut«, flüsterte er und wickelte sich eine Strähne meines Haars um den Zeigefinger und zog neckisch daran. »Gibt Schlimmeres, als von Ivy Redmond besprungen zu werden.«
»Ja … ähm … kommt nicht wieder vor«, stammelte ich und machte mich sanft von ihm los. Für einen kurzen Augenblick trafen sich unsere Blicke. Erst jetzt fiel mir auf, dass Alex eine kleine Narbe an der Augenbraue hatte.
»Wo hast du die her?«, fragte ich neugierig und zeigte auf die betreffende Stelle.
»Was? Ach, du meinst diese kleine Narbe hier?«, fragte Alex und fuhr sich über die Augenbraue. Ein Ausdruck, den ich nicht ganz deuten konnte, huschte über seine Züge, und sein Blick zuckte eine Millisekunde zu Jeff hinüber, der gerade gebannt dabei zusah, wie eine Schar Möwen sich über einen armen Dorfbewohner hermachte.
»Kleiner Freak«, murmelte er so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. Er räusperte sich verlegen. »Die ist von einer Prügelei.«
Verwundert sah ich zu ihm hoch. »Du prügelst dich?«
»Nein, eigentlich nicht.« Seine Lippen verzogen sich zu einem wehmütigen Lächeln. »War eine Ausnahme. Es gab da etwas, das ich klarstellen musste …« Sein Blick wanderte wieder zu Jeff und plötzlich wurde seine Miene so weich, dass sich in mir etwas zusammenzog.
»Du hast dich für Jeff geprügelt?«, fragte ich so leise, dass er uns nicht hören konnte.
Alex schenkte mir ein schiefes Lächeln und zuckte mit den Schultern. »Nachdem Jeff von der Highschool abgegangen war, hatten sich die Arschlöcher, die ihm jahrelang das Leben schwer gemacht hatten, sofort ein anderes Opfer gesucht. Da bin ich irgendwie ausgetickt. Bin nicht stolz drauf. Aber eigentlich hätte ich das schon viel früher machen sollen …«, murmelte er.
»Weiß Jeff davon?«, fragte ich.
Alex schüttelte den Kopf. »Er denkt, ich bin betrunken gegen einen Laternenpfosten geknallt.«
Wir lachten leise.
Eine Weile musterte ich Alex nachdenklich. Irgendwie wurde ich nicht ganz schlau aus ihm. Er ließ zwar den arroganten Rich Boy raushängen, aber etwas an ihm war sehr … leidenschaftlich, auch wenn er versuchte, das vor der Welt und vor sich selbst zu verstecken. Und in seinen Augen lag ein Ausdruck, den ich nur zu gut kannte. Einsamkeit.
In einem Anflug von Zärtlichkeit und Verständnis nahm ich Alex’ Hand in meine und unsere Finger verflochten sich. Aufmunternd drückte ich sie. Alex lächelte dankbar und erwiderte meinen Druck.
Plötzlich drang wieder ein Schrei aus dem Fernseher, sodass ich erschrocken zusammenzuckte. Jeff hingegen lachte sich schlapp.
»Heiliges Gatorade!«, stieß ich hervor. Mein Herz pochte so schnell, dass ich meine Hand von Alex’ löste und sie mir an die Brust presste. »Ich bekomme hier noch einen Herzinfarkt mit euch«, krächzte ich.
Alex seufzte und stieß Jeff mit dem Ellenbogen in die Seite. »Alter, mach den Fernseher aus. Wir machen was anderes.«
»Was?« Abrupt sah Jeff auf. »Nein. Jetzt kommen doch erst die guten Stellen.«
»Du bist so ein Freak.« Lachend boxte Alex ihn gegen den Arm. »Ausmachen«, befahl er streng.
Jeff sah Alex mit einem sehr seltsamen Gesichtsausdruck an, seine Wangen waren knallrot angelaufen. Er brummte, schaltete jedoch ab und rieb sich den Arm. »Was sollen wir stattdessen machen?«
»Wir …« Alex grinste, stand ruckartig auf und holte etwas aus seiner Schreibtischschublade. »Wir weihen Ivy in die hohe Kunst des Pokerns ein«, verkündete er und drehte sich mit den Karten in der Hand wieder zu uns um.
»Oh nein«, stieß Jeff hervor und warf mir einen gequälten Blick zu. »Ivy, willst du das wirklich tun? Überleg dir das gut. Der Typ zockt nicht nur beim Pokern, er schlachtet einen praktisch ab.«
Fasziniert beobachtete ich Alex’ Finger, während er die Karten gekonnt auffächerte, wieder zusammensteckte und sie in einer unglaublichen Geschwindigkeit mischte.
»Kannst du pokern, Ivy?«, fragte Alex mit leuchtenden Augen und setzte sich mir und Jeff gegenüber. »Wir spielen Texas Hold’em, sagt dir das was?«
»Ja, aber ich hab es bisher nur am Handy gespielt«, gab ich zu und wechselte in den Schneidersitz.
»Alex war in der Highschool im Bridge und Poker Club. Er hat sogar den landesweiten Wettbewerb gewonnen«, erklärte mir Jeff. »Früher musste ich immer stundenlang mit ihm üben und die Wetteinsätze haben mich jedes Mal Kopf und Kragen gekostet.« Er funkelte Alex an, der breit grinste.
»Ah, tu nicht so, als hätte es dir keinen Spaß gemacht, dem Schulskelett ein Tutu anzuziehen und damit Walzer zu tanzen.«
»Das Video ist immer noch auf YouTube«, beschwerte sich Jeff und brachte mich damit zum Lachen. Dieses Video musste ich unbedingt finden.
Alex grinste amüsiert, während er blitzschnell die Karten austeilte. Erst an uns und danach drei in die Mitte, die er für alle sichtbar aufdeckte. Es waren ein Pik Bube, eine Herz Acht und ein Kreuz Ass. »Machen wir es so: Der Gewinner darf sich von den anderen was wünschen, egal wann, egal was.«
»Geh nicht drauf ein, Ivy«, warnte mich Jeff, nahm jedoch bereits die Karten auf. »Du verkaufst hier gerade deine Seele an den Teufel.«
»Zumindest ist es ein heißer Teufel«, sagte ich und grinste verschmitzt, was mir ein Augenzwinkern von Alex einbrachte, der gerade seine Karten hochnahm.
Ich griff ebenfalls nach meinen beiden Karten und betrachtete sie nachdenklich. Gar nicht mal so schlecht. Eine Karo Zehn und eine Herz Sieben. Das war doch ein guter Anfang. Als ich aufsah, lieferten sich Alex und Jeff bereits einen Blickkampf über ihre Karten hinweg.
»Angst?«, fragte Alex.
»In deinen Träumen, Klemmt«, schoss Jeff zurück.
Offenbar nahmen die beiden Poker wirklich nicht auf die leichte Schulter.
»Lady first«, bot Alex mir schließlich an. »Gehst du mit oder willst du aussteigen?«
Ich ging mit und auch Jeff machte weiter. Alex legte eine Karte verdeckt neben den Stapel und deckte eine weitere auf. Eine Herz Sechs. Das war gut! Oder? Ich schielte zu den Jungs. Jeff knabberte an seiner Lippe, während Alex das perfekte Pokerface aufsetzte. Auch diesmal gingen alle mit und Alex deckte die nächste und letzte Karte auf, diesmal war es eine Zehn. Oh, nicht gut. Ich unterdrückte ein Stöhnen und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Aber es gelang mir nicht so ganz. Dabei sah es bei Alex so einfach aus. Er hatte die Augen zu einem Schlafzimmerblick herabgesenkt und ein cooles Lächeln auf den Lippen, während er gespannt in die Runde blickte.
»Okay, aufdecken«, befahl Alex.
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie ausgerechnet Jeff auf meine Karten schielte. Schnell senkte ich sie.
Jeff seufzte theatralisch und warf seine Karten auf das Bett. »Verloren. Schon wieder. Welche Schmach, von Alexander van Klemmt geschlagen worden zu sein«, jammerte er und ließ sich fallen, direkt auf mich drauf. Übe
rrascht kippte ich hintenüber. Himmel, war der schwer!
»Jeff! Was machst du da?«, rief ich erschrocken und schob ihn lachend von mir.
Doch Jeff ignorierte meine verzweifelten Versuche und blieb einfach liegen. »Aus, vorbei. Jetzt darf ich ihm wieder die Schuhe putzen.«
Alex schnaubte. »Reiß dich zusammen und lass Ivy aufdecken.«
»Ja, Ivy, gewinne und rette meine Ehre«, rief Jeff. Im gleichen Augenblick spürte ich ein Ziehen an meiner Hand. Jeff lag so auf mir, dass Alex nicht sehen konnte, wie er blitzschnell eine meiner Karten austauschte.
»Was m…«, fing ich an, als Jeff ein kurzes »Scht« zischte, mir zuzwinkerte und sich wieder aufrappelte.
Langsam setzte ich mich ebenfalls auf und pustete mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Mein Blick zuckte zu Alex, der uns skeptisch musterte. »Seid ihr zwei jetzt fertig oder soll ich rausgehen?«
»Nein, wir sind fertig«, sagte Jeff und stupste mich an. »Komm schon, Ivy. Zeig dem Weltmeister, was du draufhast.«
»Äh…«, sagte ich verwundert und schaute nochmal kurz in meine Karten. Jeff hatte die Zehn mit einerm Joker getauscht. Zögernd sah ich wieder zu Jeff.
Er nickte eindringlich. War das sein Ernst? Ich sollte schummeln?
Alex’ Augenbrauen wanderten nach oben, während er mich über seine Karten hinweg ansah. »Auf drei decken wir beide auf«, schlug er vor.
»Okay. Eins, zwei … drei!«
Wir legten unsere Karten offen und starrten gebannt auf das Ergebnis. Alex hatte drei Asse! Drei! Also drei einer Sorte, aber ich hatte mit dem Joker eine Straße und damit …
»Gewonnen!«, jubelte Jeff und stieß die Arme in die Luft, als hätte er die Kombination gerade selbst gelegt.
Er sah so begeistert aus, dass ich losprustete.
»Wir … äh, ich meine Ivy hat gewonnen und du hast verloren«, rief Jeff und lachte Alex aus, der ungläubig die Karten anstarrte.
»Was? Nein! Ihr habt doch gemogelt!«, stieß er hervor.
Jeff lachte nur und zog mich in eine stürmische Umarmung. »Ivy, du Champ! Wünsch dir was«, sagte er und ließ mich wieder los. »Komm … lass Alex eine Runde nackt um den Campus laufen. Ich hol die Kamera.«
»Du bist so ein Idiot, Jeff! Im Deck gab es gar keinen Joker«, knurrte Alex.
Jeff und ich rissen überrascht die Augen auf und wechselten einen panischen Blick.
»Oh, äh … echt nicht?«, stieß Jeff hervor.
Und bevor einer von uns beiden reagieren konnte, hatte sich Alex bereits auf Jeff gestürzt. Jeff ruderte wild mit den Armen und kippte nach hinten. Sofort begannen sich die beiden wie zwei Hunde zu balgen.
Lachend krabbelte ich so schnell ich konnte weg, um nicht unter einem von ihnen begraben zu werden.
Im gleichen Augenblick wurde die Tür so abrupt aufgerissen, dass wir alle erschrocken zusammenzuckten.
»Äh…« Ein großer Typ mit Militärhaarschnitt blinzelte uns an. »Alles klar bei euch?«, erkundigte er sich zweifelnd.
»Klar, Mann.« Keuchend richtete sich Alex auf, blieb allerdings auf Jeff sitzen und verpasste ihm noch schnell einen weiteren Hieb.
»Sorry für die Störung.« Der Kerl sah aus, als hätte er uns gerade bei etwas Unanständigem erwischt. »Aber da unten steht ein Typ, der sagt, er heißt Ryan und will das Mädchen abholen.«
»Oh, Gott sei Dank«, stieß ich hervor und korrigierte mich schnell. »Ich meine, oh … schade, gerade wurde es spannend.«
»Kein Problem«, sagte Alex. »Wir machen das nächste Mal einfach eine Revanche. Der Fairness halber. Oder hat jemand was dagegen?« Herausfordernd guckte er zu Jeff hinunter, der unter Alex’ Gewicht ächzte.
»Gerne.« Ich lachte und schnappte mir meine Uni-Tasche. »Okay, dann bis morgen.«
»Alles klar, bis dann«, sagte Alex, während ich dem Typen mit dem Bürstenhaarschnitt in den Flur folgte.
»Lass mich nicht mit ihm allein, Ivy«, rief Jeff mir verzweifelt nach.
Kichernd schloss ich die Tür. »Tschau Jungs!«
Immer noch lachend lief ich die Treppen nach unten. Die Verbindung war ein großes dreistöckiges Haus, in dem eindeutig nur Männer wohnten, denn es roch nach Käse, ungewaschener Wäsche und im Wohnzimmer lief gerade ein Footballspiel. Es war laut und voller Leben. Ich mochte es hier. Ein paar der Jungs nickten mir sogar zu, als ich an ihnen vorbei zur Tür schlüpfte.
Ryan selbst lehnte an der Veranda und richtete sich lächelnd auf, als ich neben ihn trat.
»Danke fürs Retten.«
»Was?«
»Ach, nichts. Danke fürs Abholen«, korrigierte ich mich und starrte mit heißen Wangen zum grollenden Himmel hoch.
»Wir sollten uns beeilen, bevor es zu regnen anfängt«, sagte Ryan. Er sprach genau das aus, was ich gerade dachte.
Ich nickte. »Und? Was gibt es Neues?«, fragte ich Ryan, während wir in Richtung unseres Wohnheims liefen.
Ryan seufzte und fuhr sich müde durchs Haar. Am liebsten hätte ich seine Hand genommen und sie tröstend gedrückt, doch ich hielt mich zurück.
»Wir haben ihn«, sagte er und lächelte schmal. »Er heißt Austin Freeman. Harry regelt das. Der Typ sollte dich in Zukunft also in Ruhe lassen.«
»Gut.« Meine Schultern entspannten sich ein wenig, als die Sorge von mir abfiel. Dabei hatte ich gar nicht bemerkt, wie angespannt ich den ganzen Abend über war. »Dir ist aber nichts passiert, oder?«, fragte ich leise.
Ryan lachte. »Keine Sorge, ich habe nur das Studentenregister durchforstet. Es gab weder eine schweißtreibende Verfolgungsjagd noch eine heftige Prügelei. Explodierende Autos waren leider auch nicht dabei.«
»Wie schade«, sagte ich ironisch.
»Und du?« Ryan zog eine Augenbraue nach oben. »Hattest du einen schönen Abend? War er so, wie du ihn dir vorgestellt hast?«
»Ja, doch.« Abgesehen von dem Horrorfilm. Bei dem Gedanken daran lief es mir immer noch kalt den Rücken runter. Jeese! Der würde mich noch ewig verfolgen. Dabei hatten wir ihn nicht mal ganz gesehen. Als ich einen dunklen Schatten in einem der Bäume sitzen sah, rückte ich unwillkürlich näher an Ryan heran. War das gerade ein Vogel?
Ryan runzelte besorgt die Stirn. »Ist was passiert?«
Flüchtig berührte ich seinen Oberarm. »Nein, nichts, alles gut.« Ich grinste schief. »Jeff war nur der Meinung, mich in die hohe Kunst der Horrorfilme einweisen zu müssen, und das war …« Ich suchte nach den richtigen Worten.
»Gruselig?«, bohrte Ryan amüsiert nach.
»Fürchterlich«, gab ich zu und zog die Strickjacke, die ich heute Morgen eingepackt hatte, noch fester um mich.
Tatsächlich wurde es gerade ein wenig kühl. Zumindest für floridianische Verhältnisse. Niemand außer uns war auf der Straße. Weiter vorn flackerte eine Laterne und ließ spitzkantige Schatten über den Asphalt zucken. Unweigerlich fühlte ich eine Gänsehaut über meinen Rücken kriechen. Als auch noch ein Donner grollte und kurz darauf ein Blitz über den inzwischen fast schwarzen Himmel zuckte, klammerte ich mich so fest an Ryans Hand, dass ich sie fast zerquetschte.
Er guckte irritiert auf meine Finger hinunter. »Und was wird das, wenn es fertig ist?«
»Ich halte mich an dir fest. Dann kann ich dich im Notfall den Monstern zum Fraß vorwerfen und ganz schnell weglaufen«, flüsterte ich. Waren das Vögel in den Bäumen? Würden sie sich gleich wie Piranhas auf uns stürzen und Ryan und mich in kleine Stücke hacken?
»Oje, dich hat es ja richtig erwischt, was?«
»Ja, ich bin wohl wirklich nicht der Horrorfilm-Typ«, krächzte ich und zuckte schon wieder zusammen. Mein Herz raste. Was war das? Was war … oh, nur mein Schatten. Na toll, warum musste der auch so gruselig aussehen?
Ryan verdrehte genervt die Augen. »Hör auf, dir ins Höschen zu machen, Ivy, da ist nichts.«
Toller Bodyguard! Aber zumindest hielt er weiterhin meine Hand, während wir das Verbindungsviertel verließen und das kurze Stück Park, das zum Wohnheim
führte, durchquerten. Hier war allerdings nur spärlich beleuchtet, sodass die gezackten Umrisse der Bäume unheimliche Schatten warfen. Als es am Himmel bedrohlich rumpelte, war ich kurz davor, unter Ryans Hoodie zu kriechen.
Zumindest schien ich nicht die Einzige zu sein, der die aktuelle Atmosphäre an die Nieren ging, denn Ryan beschleunigte seine Schritte. Und im gleichen Augenblick spürte ich etwas Nasses in meinem Nacken. Ryan blieb so abrupt stehen, dass ich stolperte, während der nächste Regentropfen auf meiner Nase landete.
»Was ist?« Hektisch sah ich mich um. »Siehst du Piranhavögel, die uns das Bein abbeißen wollen?«
»Nein, ich … Was?« Entgeistert guckte er auf mich herab und schnaubte belustigt. »Was bitte habt ihr euch angesehen?«, fragte er, während er sich mit der freien Hand durch das Haar fuhr. »Ach egal. Und nein, ich dachte nur, etwas gesehen zu haben, aber da war … nichts.« Er schien selbst nicht ganz überzeugt zu sein, denn der wachsame Ausdruck in seinen Augen blieb. Was mir ganz und gar nicht behagte.
Mein Blick zuckte über die Baumreihen, doch ich konnte nichts erkennen.
»Komm«, murmelte er schließlich und zog mich schnell weiter.
»Vogelpiranhas?«, fragte ich panisch.
Er seufzte nur. Der Regen wurde immer stärker, die Tropfen trafen rhythmisch meine Kopfhaut und liefen kitzelnd über meine Wangen … beinahe wie Fingerspitzen, die sanft über meine Haut wanderten. Ich wischte mir die Haare hinter die Ohren und warf einen kurzen Seitenblick auf Ryan. Auch ihm lief das Wasser übers Gesicht und schon nach wenigen Schritten waren wir vollkommen durchnässt.
Als wir keuchend die Türen zum Wohnheim aufstießen, ging das Unwetter mit voller Wucht nieder. Wo sich gerade noch ein Gehweg befunden hatte, bildeten sich bereits tiefe Pfützen und als wir den Eingangsbereich betraten, quietschten meine Flipflops unanständig laut auf dem Boden. Ein paar Studenten, darunter auch Soya, sahen verwundert auf, als wir wie zwei begossene Pudel an ihnen vorbeiliefen. Flüchtig winkte ich ihr zu. Ich sah noch, wie sie diese Geste amüsiert erwiderte, dann fiel auch schon die Tür zum Treppenhaus hinter uns zu. Ryan hielt meine Hand immer noch umklammert und zog mich weiter die Stufen zu unseren Zimmern hoch. Unsere Finger waren inzwischen wahrscheinlich das einzig Warme an uns. Zumindest an mir, denn die Aircondition war hier drinnen so kalt eingestellt, dass meine Zähne anfingen zu klappern.