by Kiefer, Lena
Du weißt aber schon, dass du einen kaum drei Jahre alten Campervan in der Halle deines Vaters stehen hast, oder? Ja, das wusste ich. Nur behauptete ich seit dem Sommer, Loki brauche ein paar Verbesserungen, und fuhr seither alles, nur nicht ihn. Genau genommen hatte ich den Motor nicht mehr angelassen, seit ich den Wagen nach meiner Gewaltfahrt aus Schottland Ende August vor dem Haus abgestellt hatte. Mein Dad hatte ihn ausgeräumt und in die Firma gebracht, wo er in einer Ecke stand und geduldig darauf wartete, dass ich mich wieder hineintraute. Was wohl nie passieren würde. Am besten schenkte ich ihn Willa. Oder ich wartete, bis Eleni alt genug war, um zu fahren.
Fozzie hatte schließlich doch noch ein Einsehen und sprang, nachdem ich auf eine von Willas früheren Anweisungen hin das Armaturenbrett gestreichelt hatte, an. Miles wohnte nicht weit von meinem Elternhaus entfernt, also verbrachte ich die Fahrtzeit in eisiger Kälte, denn die Heizung des Fiat wurde erst nach einer halben Stunde warm – oder manchmal auch gar nicht.
»Ist jemand da?«, rief ich, nachdem ich die Haustür aufgeschlossen hatte und mich noch in Mantel und Schal bibbernd vor den Kamin hockte.
»Nur ich.« Willa kam die Treppe herunter, in Trägertop und Jogginghose. Im Gegensatz zu mir fror sie im Winter so wenig wie im Sommer. »Bist du zurück von deinem Sexdate ?«
Ich rümpfte die Nase. »Nenn es nicht so.«
»Wieso nicht? Es ist doch genau das.« Sie stieg die restlichen Stufen hinunter und ging zum Kühlschrank. »Wie findet Miles das eigentlich? Kann er sein Glück kaum fassen?«
»Sozusagen.« Ich verlor kein Wort darüber, dass er mich nach einem Date gefragt hatte, sondern zog meinen Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe. Dann wickelte ich mir den Schal vom Hals und schaute ins Wohnzimmer. »Wieso hat Juliet die Weihnachtsdeko denn immer noch nicht abgehängt und auf den Dachboden gebracht? Wir haben Mitte Januar, Herrgott.«
Willa hob die Schultern. »Wir mögen die Lichterketten eben. Sie spenden Wärme in dieser dunklen Zeit.« Sie nickte bedeutungsvoll.
»Ich dachte, diese Ciara spendet dir Wärme«, grinste ich. Willas neueste Eroberung war eine Kollegin von ihr aus dem Kino und erst seit zwei Wochen aktuell.
»Nein, das ist vorbei. Aber ich habe am Samstag was mit Bear ausgemacht. Du weißt schon, der Typ aus dem Fitnessstudio. Hot. As. Hell.« Sie betonte die drei Wörter mit Nachdruck.
Ich lachte auf. »Na, hoffentlich isst er Kohlenhydrate nach 19 Uhr.« Die Bemerkung war unbedacht, aber sie katapultierte mich abrupt zurück in den vergangenen Sommer, als ich eine folgenschwere Entscheidung getroffen und geglaubt hatte, das Richtige zu tun. Nur um kurz darauf zu erfahren, dass alles, was ich geglaubt hatte, falsch gewesen war. Fuck. Wieso war es immer noch so furchtbar, daran zu denken? Es war doch schon fast ein halbes Jahr her.
Ich war aber nicht die Einzige, die daran dachte. Meine Schwester sah mich aufmerksam an. »Hast du eigentlich etwas von … du weißt schon wem gehört?«
»Nein.« Ich wandte mich ab, um das Gemüse für das geplante Abendessen aus dem Kühlschrank zu holen. »Hilfst du mir beim Kochen? Ich wollte Auflauf machen und bräuchte dringend noch zwei Hände und ein Messer.«
Willa wackelte mit den Fingern. »Sie gehören ganz dir. Wenn du meine Frage beantwortest.«
»Hab ich doch. Ich habe nichts von ihm gehört.« Und es tat weh. Natürlich war ich schockiert gewesen, stinksauer und abgrundtief enttäuscht. Aber er hatte nicht einmal versucht, es richtigzustellen.
Hast du das zu ihr gesagt, Lyall?! Hast du es gesagt und danach hat sie sich umgebracht? – Ja.
Das war alles gewesen. Ein schlichtes Ja. Kein Lass es mich erklären , kein Bitte hör mir nur fünf Minuten zu . Ich weiß, dass ich zugehört hätte. Vielleicht hätte es nichts geändert, aber ich hätte es getan. Nur war nichts gekommen. Er hatte nichts mehr gesagt, mich nicht angerufen, mir keine Nachricht geschickt, keine Mail, keine verfluchte Brieftaube. Damit hatte er es bestätigt: dass ich mich in jemanden verliebt hatte, dessen dunkle Seite ich nicht hatte sehen wollen. Und dass es falsch gewesen war, ihm zu vertrauen. Lyall hatte damit nicht nur mein Herz gebrochen. Er hatte mich gebrochen. Und ich hasste ihn dafür. Zumindest meistens.
»Kenz?«, fragte Willa. »Ich weiß, du willst nicht darüber reden, aber bist du sicher, dass du ihn nicht anrufen solltest?« Meine Schwester gab sich immer tough, dennoch war sie empfänglich für die Stimmungen von uns anderen. Sie wusste, da war etwas faul.
Ich hatte meiner Familie nie gesagt, dass Lyall und ich uns in Kilmore wieder versöhnt hatten – und was danach passiert war. Daher glaubten sie immer noch, dass ich das zwischen uns beendet hatte, um ihn zu beschützen. Und dass ich mich deswegen zurückgezogen hatte oder diese Sache mit Miles begonnen hatte. Sie wussten nichts davon, was ich erfahren hatte: dass der Kerl, in den ich mich mit jeder Faser verliebt hatte, für den Tod eines jungen Mädchens mitverantwortlich war – und es mir verschwiegen hatte. Natürlich hätte ich jedes Recht gehabt, es jemandem zu sagen, aber ich wollte nicht zugeben, dass ich mich geirrt hatte. Nicht die schockierten Blicke sehen, wenn meiner Familie bewusst wurde, mit wem ich da zusammen gewesen war.
»So sicher wie nie«, antwortete ich und begann, die Paprika zu waschen. »Er ist kein Thema mehr, Willy. Ich bin einfach nur ein bisschen gestresst von allem. Hier, kannst du die Karotten schälen?« Ich trocknete die Hände ab und schob ihr einen Beutel hin. »Wo ist eigentlich Leni? Sie sollte doch längst zurück sein.« Die Uhr an der Wand zeigte viertel vor sieben.
Willa bearbeitete die Karotten mit dem Sparschäler, als wäre sie König Artus und das Gemüse ein stumpfes Schwert. »Sie ist noch bei Cameron. Seine Mum bringt sie, hat sie vorhin geschrieben.«
Ich lachte bitter auf. »Na, immerhin eine von uns, die in der Lage ist, eine längere Beziehung zu führen.«
»Wenn man vierzehn ist, dann ist das ja auch einfach. Da reicht es, wenn du den Typen süß findest und zusammen Hausaufgaben machen kannst.« Meine Schwester trug die Karottenschalen zum Mülleimer in der Ecke. »Kompliziert wird es erst, wenn … Moment, was ist das denn?« Mit spitzen Fingern zog sie etwas aus dem Abfall und hielt es hoch. Oh nein. Ich habe sie doch extra unter die Kartoffelschalen von gestern gestopft.
»Willy –«, begann ich.
»Eine Einladung?«, fragte meine Schwester mit großen Augen, als sie das schmutzige Schriftstück entzifferte. »Vom Kilmore Grand ? Du bekommst eine Einladung von den Hendersons und wirfst sie in den Müll? Bist du komplett bescheuert?«
»Nein, bin ich nicht.« Entschlossen nahm ich ihr das durchgeweichte Papier ab und warf es wieder in den Eimer. »Ich werde da nicht hinfahren.«
Willa verschränkte die Arme. »Aber es ist die Eröffnung. Von dem Neubau, in dem dein Konzept umgesetzt wurde. Bist du nicht gespannt, wie es da aussieht?«
»Natürlich bin ich neugierig. Aber ich will mit dieser Familie nie wieder etwas zu tun haben.« Das Öffnen der Haustür hielt mich davon ab, weiterzusprechen. Eleni kam herein, Camerons und Miles’ Mutter – Melinda – im Schlepptau.
»Danke, dass du sie hergefahren hast«, lächelte ich sie an, nachdem wir uns begrüßt hatten. Ich hatte sie schon immer sehr gemocht – sie zu verlieren, hatte ich nach der Trennung schwerer verkraftet, als Miles nicht mehr zu sehen.
»Ach, für Eleni doch immer gerne. Wir haben es ja nicht so weit.« Sie sah mich an. »Sag mal, Kenzie, ich habe gehört, du und Miles, ihr seid wieder …?«
Ich gab mir Mühe, den Schreck über diese Frage zu verbergen. »Hat er das gesagt?«
»Nein, er hat nur erwähnt, dass ihr euch wieder trefft. Ich bin davon ausgegangen, dass das bedeutet, ihr würdet es noch einmal versuchen.«
Na toll. Wie sagte man der Mutter des Ex, dass man ihn nur sah, um mit ihm zu schlafen und dann fluchtartig das Haus zu verlassen? Willa hätte sicher genau das gemacht, aber ich wollte Elenis Freundschaft zu Cameron nicht gefährden.
»Wer weiß?«, lächelte ich. »Vielleicht wird ja wieder etwas draus. Momentan ist es eher eine lose Sache.«
Sie strahlte. »Das wäre toll, Kenzie, wirklich. Du hast ihm so gutgetan.«
Zum Glück
bewahrten mich mein Vater und Juliet davor, ihr eine Antwort geben zu müssen, und nach ein paar Minuten Small Talk verabschiedete sich Melinda und ging. Als ich die Tür hinter ihr schloss und in die Küche zurücklief, tuschelten meine Schwestern miteinander.
»Was?«, fragte ich.
»Kilmore«, antwortete Juliet. »Ist es wahr, dass du nicht hinfahren willst?«
Ich verdrehte die Augen. »Ja, ist es. Danke, Willy, dass du es zu einem Fall für das Plenum machst.«
»Sehr gerne, Schätzchen.« Sie grinste nur. »Hör dir ruhig an, dass niemand versteht, warum du nicht dorthin willst.«
»Ich zumindest nicht.« Juliet runzelte die Stirn. »Ich würde sofort fahren, wenn ich du wäre.«
Eleni nickte. »Ich auch. Es ist bestimmt echt schön dort im Winter.«
»Und die würden dir sicher auf die Schulter klopfen, weil du deine Arbeit gut gemacht hast«, sagte Willa. »Könnte für deine Karriere hilfreich sein.«
Ich holte Luft. »Seid ihr mal auf die Idee gekommen, dass er da sein könnte?«, raunzte ich meine Schwestern an. »Und dass ich ihm nicht begegnen will? Er war an dem Projekt beteiligt, garantiert verlangt seine Familie, dass er zur Eröffnung kommt. Ich bin endlich über ihn hinweg, und ich will nicht, dass ein Treffen das kaputtmacht.«
Eleni sah mich an. »Du sagst nie seinen Namen«, stellte sie fest. »Ist man über jemanden hinweg, wenn man seinen Namen nie sagt?«
»Alles klar, dann nur für dich – ich will Lyall nicht begegnen, okay?« Ich bemühte mich, eiskalt zu wirken, gefestigt, stark. Aber Fakt war, ich hatte seinen Namen nicht mehr ausgesprochen, weil ich Angst davor hatte. Angst vor genau dem Gefühl, das mich jetzt überfiel, vor dem Schmerz, der Trauer über das, was wir hätten sein können. Ein Für immer . Wie lächerlich mir das im Nachhinein vorkam.
Meine Schwestern wechselten einen dieser Blicke, die ich nur zu gut kannte. Ich ignorierte sie und warf die rohen Karotten in die Form. Ich wollte nicht über Lyall reden. Am besten nie mehr.
»Ich werde nicht hinfahren«, sagte ich mit fester Stimme. »Also spart euch die Mühe. Und jetzt häng die Lichterketten ab, Juliet. Kein Mensch braucht diesen Mist noch.«
Sie funkelte mich an, dann stapfte sie hinüber ins Wohnzimmer. »Ich mochte dich lieber, bevor du was mit Lyall angefangen hast«, hörte ich sie murmeln.
Ja, dachte ich. Ich mich auch.
3
Lyall
Missmutig starrte ich auf mein Modell, das auf dem Couchtisch inmitten von Pappschnipseln stand und mir mit jeder Sekunde weniger gefiel. Je länger ich es betrachtete, desto überzeugter war ich, dass ich damit den Kurs niemals bestehen konnte. Es war uninspiriert, langweilig und hatte nichts von dem, was ich rüberbringen wollte. Ich war kurz davor, das ganze Ding in die Ecke zu pfeffern und komplett neu anzufangen. Und das, nachdem ich die halbe Nacht daran gearbeitet hatte. Jetzt war es acht Uhr morgens und ich wusste nicht, wie ich es bis heute um fünf am Nachmittag retten sollte. Denn da war spätestens Abgabe.
Eigentlich war es ein einfaches Thema – wir hatten freie Wahl in Bezug auf das Gebäude, und ich hatte mein absolutes Traumprojekt genommen, ein Hotel in New York, das modern war und sich dennoch perfekt in die Struktur der alten Gebäude der Stadt einfügte. Die Details hatte ich schon seit Jahren im Kopf, aber jetzt bekam ich es ums Verrecken nicht hin, sie auch umzusetzen.
Ein Klingeln an der Tür hielt mich davon ab, dem Modell den Todesstoß zu versetzen. Ich sah hoch und runzelte die Stirn. Wer konnte das denn sein? Es gab nur ein paar Leute, die vom Portier hochgelassen wurden, ohne dass er mich vorher anrief. Also war es entweder Sophia, was ich nach der Abfuhr nicht glaubte, oder aber jemand aus der Familie. Finlay, meine Mum oder …
»Edina«, stellte ich fest, als ich die Tür öffnete.
»Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, Bruderherz.« Sie hielt eine Papiertüte hoch und lächelte. »Ich habe Frühstück dabei.«
»Was machst du hier?«, fragte ich, ohne auf ihre Worte einzugehen. Seit ich erfahren hatte, dass meine Schwester Kenzie im letzten Sommer dazu überredet hatte, sich von mir zu trennen, um mich zu beschützen, war unser Verhältnis alles andere als gut. Zwar war sie an der späteren Katastrophe nicht schuld gewesen, aber manchmal hatte ich das Gefühl, dass mit ihrer Intrige alles angefangen hatte, den Bach runterzugehen. Und obwohl Edina mir fehlte und ich ein seltenes Gefühl der Wärme spürte, weil sie hergekommen war, verzog ich keine Miene.
»Ich wollte dich sehen.« Ihre Schultern sanken ein wenig und sie atmete aus. »Mum hat gesagt, mit dir stimmt was nicht. Und nachdem du schon an deinem Geburtstag niemanden von uns sehen wolltest, dachte ich, jetzt muss ich nach dir schauen.«
Ich ging zur Seite und ließ sie damit in die Wohnung. »Du hättest nicht kommen müssen, mit mir ist alles in Ordnung. Mum übertreibt, wie immer.«
»Du siehst nicht aus, als wäre mit dir alles in Ordnung, Lye.« Der besorgte Ton in der Stimme meiner Schwester ließ mich innehalten. Ich presste die Lippen aufeinander und drehte mich zu ihr um. Edina deutete auf meine Klamotten, und ich ahnte, wie ich auf sie wirkte – in Jogginghose und ausgeleiertem Shirt, dazu barfuß und unrasiert. Natürlich sah ich nicht aus, als wäre ich okay.
»Wenn du vorher angerufen hättest, hätte ich mir was anderes angezogen«, sagte ich nur. Keine Erklärung, dass ich heute Nacht an dem Modell gesessen hatte, weil ich es später an diesem Tag abgeben musste – und deswegen so aussah. Ich musste mich vor ihr nicht rechtfertigen. Ich wollte es auch nicht.
Edina legte die Tüte auf den Tresen meiner offenen Küche und seufzte. »Du weißt, dass es mir leidtut, was ich getan habe, oder?« Wie immer verlor sie keine Zeit mit Small Talk.
»Ja«, antwortete ich. »Schließlich habe ich ungefähr dreihundert Sprachnachrichten auf dem Handy, in denen du mir das mitteilst.«
»Und trotzdem kannst du mir nicht verzeihen?« Sie sah mich bittend an.
Ich ging an ihr vorbei zur Kaffeemaschine. »Ich weiß, wieso du es getan hast. Und ich bin auch nicht sauer, weil du mich beschützen wolltest. Sondern weil du es hinter meinem Rücken gemacht hast, so wie sie es tun würde. Das ist genau Grandmas Stil. Immer schön unbemerkt die Fäden ziehen.«
Edina sank auf einen Küchenhocker. »Ich wusste einfach nicht, wie ich es in deinen sturen Dickschädel kriegen soll, dass du alles riskierst. Ich kenne dich, du hättest dich nicht davon abhalten lassen, mit Kenzie zusammen zu sein.«
Ich funkelte sie wütend an. »Das ist kein Grund, sie dafür zu benutzen, oder? Ihr aufzuladen, mir wehtun zu müssen, obwohl sie …« Ich beendete den Satz nicht, weil ich merkte, dass es sinnlos war. Das mit Kenzie war lange vorbei. Darüber zu reden brachte es nur wieder an die Oberfläche.
»Liegt es daran , dass das mit euch nicht weitergegangen ist?«, fragte Edina fast schon zaghaft. »Weil ich sie darum gebeten habe?« Meine Schwester wusste nichts vom wahren Grund für Kenzies und meine endgültige Trennung. Normalerweise wäre sie mit Finlay die Erste gewesen, der ich davon erzählt hätte. Aber wir hatten ja keinen Kontakt gehabt.
»Nein«, sagte ich ehrlich. »Das war nicht der Grund. Willst du einen Kaffee?« Ich holte zwei Becher aus dem Schrank, weil ich die Antwort auf die Frage kannte.
»Immer«, nickte Edina und wartete, bis ich ihr einen vollen Becher und die Milch aus dem Kühlschrank hinstellte. Zum ersten Mal sah ich sie aufmerksam an und stellte fest, dass ich nicht der Einzige war, der dunkle Schatten unter den Augen hatte. Edina sah müde und traurig aus – außerdem schien sie abgenommen zu haben, denn der blaue Pullover, den sie trug, wirkte zu groß für sie.
»Was ist los mit dir?«, fragte ich und merkte, dass meine Sorge die Wut auf sie zurückdrängte. »Macht dir das Studium zu schaffen?« Sie hatte erst im Herbst in London angefangen – Wirtschaft und Politikwissenschaften. Ich glaubte zwar nicht, dass irgendein Fach zu schwer für meine Schwester war, aber nach dem viel wahrscheinlicheren Grund wollte ich nicht fragen.
»Nein, das Studium ist okay.« Edina nickte, dann traten ihr jedoch Tränen in die Augen und sie kämpfte mit sich, um sie in Schach zu halten.
Sofort war ich b
ei ihr und zog sie in meine Arme, wie ich es schon mit zehn, mit vierzehn oder achtzehn getan hatte. Und sie lehnte sich an mich, wie sie es schon immer getan hatte, aber sie weinte nicht. Sie atmete nur tief ein und ließ mich nach kurzer Zeit wieder los.
»Geht schon«, murmelte sie und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. »Heilige Scheiße, Lyall! Auf welche Stufe hast du die Maschine eingestellt?«
»Die höchste.« Anders war mit so wenig Schlaf nicht über die Runden zu kommen.
»Offensichtlich.« Sie griff nach der Milchpackung und füllte ihren Becher damit bis zum Rand. Ich ging derweil zum Sofa und setzte mich hin, wartete darauf, dass Edina mir folgte. Sie faltete ihre langen Beine unter den Körper und schwieg.
»Geht es um Finlay?« So viel dazu, dass ich das Thema nicht hatte ansprechen wollen. »Was hat er jetzt wieder angestellt? Es war doch alles gut mit euch.« Oder so gut, wie es sein konnte. Nach der Entscheidung des Rates hatten sowohl Edina als auch Finlay alles darangesetzt, einander zu vergessen, das wusste ich von ihm. Meine Schwester hatte sogar damit angefangen, in London ein paar Kommilitonen zu daten, das wusste ich von Mum. Und mein Cousin … der fuhr sein übliches Programm – Models, Partys, ein bisschen Studium nebenher. Er hatte mir nicht gesagt, dass etwas vorgefallen war. Aber gut, auch mit ihm hatte ich sicher schon zwei Wochen nicht mehr geredet.
»Ja, war es«, schnaubte Edina, die Finger fest um ihren Becher gelegt. »Bis wir dann zufällig beide an Silvester in New York waren.«
Ich ahnte nichts Gutes. »Was ist passiert?« Ich wusste, wie verletzend beide werden konnten, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlten. Und da sie nach Monaten Funkstille aufeinandergetroffen waren, hatten sie bestimmt übel gestritten. »Seid ihr euch an die Gurgel gegangen?«
»Schlimmer.« Sie sah mir in die Augen. »Wir haben miteinander geschlafen.«
Schockiert starrte ich sie an. »Fuck«, stieß ich dann aus.