by Kiefer, Lena
Kaum hatte ich das gesagt, drehte ich mich von Kenzie weg, ballte die Fäuste und versuchte krampfhaft, die Fassung zu behalten. Ich trug diese Sache seit über drei Jahren mit mir herum, und die meiste Zeit war sie wie eine Narbe, die dumpf pochte. Aber wenn ich darüber redete, so wie jetzt, wurde sie zu einem tiefen Schnitt, der blutete und höllisch wehtat. Ein Schmerz, der so mächtig war, dass ich ihn nicht in Schach halten konnte.
Kenzie antwortete nichts, und ich wusste nicht, ob sie gegangen war – oder nur zu geschockt, um zu antworten. Aber dann spürte ich plötzlich eine Hand auf meinem Rücken, die sanft über den Stoff des Pullovers strich.
»Lyall«, sagte sie leise.
Die Art, wie sie meinen Namen aussprach, brachte mich dazu, mich umzudrehen und sie die Tränen sehen zu lassen, die sich in meinen Augen gesammelt hatten. Ich versuchte mit letzter Kraft, mich zusammenzureißen, aber ihr mitfühlender Blick machte es vollkommen unmöglich. Sie schreckte jedoch nicht vor meinem Schmerz zurück, im Gegenteil. Kenzie tat das, was nur jemand tun konnte, der wusste, wie sich Verzweiflung anfühlte: Sie schlang ihre Arme um mich und hielt mich fest, während mehrere Jahre Einsamkeit und Kummer über mich hinwegfegten wie ein Sturm. Und sie blieb bei mir, obwohl sie jedes Recht dazu gehabt hätte, mich bis in alle Ewigkeit zu hassen.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir so dastanden, eng umschlungen und reglos. Aber als die Tränen langsam versiegten und ich tief Luft holte, war es endgültig dunkel geworden. Kenzie sah mich prüfend an, dann ließ sie mich los.
»Besser?«, fragte sie nur. Ich nickte.
»Danke. Tut mir leid, dass ich –«
»Hör auf«, unterbrach sie mich sanft. »Es gibt ein paar Dinge, für die du dich gerne später bei mir entschuldigen darfst, aber bestimmt nicht für deine Gefühle.«
Ich schwieg, denn darauf fiel mir keine Antwort ein. Kenzie lächelte leicht.
»Willst du deine Ruhe?«, fragte sie.
»Würdest du gehen, wenn ich Ja sage?« Ich grinste schief.
»Wahrscheinlich nicht.« Sie lachte leise auf. »Du weißt doch, mein Glucken-Gen. Ich kann niemanden im Stich lassen, dem es scheiße geht.«
»Das unterscheidet uns beide dann wohl.«
Sie antwortete nicht darauf, sondern ließ sich auf einer altersschwachen Liege nieder, die einige Meter weiter einsam am Strand stand. Ich ging zu ihr und setzte mich neben sie. Eine Weile sagte keiner von uns etwas, dann holte ich Luft.
»Was willst du wissen?«, fragte ich und spürte, wie allein bei dieser Frage mein Puls in die Höhe schoss. Kämpfen oder fliehen, das war es, was mein Körper dachte, tun zu müssen. Aber nichts davon würde helfen. Ich war Kenzie die Wahrheit schuldig. Und sie würde sie bekommen, wenn sie das wollte. Egal, was es mit mir machen würde.
Kenzie atmete aus und sagte nicht sofort etwas, so als würde sie ihre erste Frage mit Bedacht wählen. Dann schien sie sich entschieden zu haben.
»Weißt du, was Ada hatte? Welche … Krankheit?«
»Nein, nicht genau«, antwortete ich. »Sie war nie in Behandlung, also hat auch nie jemand eine Diagnose gestellt. Der Therapeut, bei dem ich nach ihrem Tod war, meinte aufgrund der Symptome, es wäre wohl eine Borderline-Störung gewesen. Die Stimmungsschwankungen, die übersteigerte Bindung an mich, die krasse Angst vor dem Verlassenwerden … das passt alles zusammen. Leute, die an Borderline leiden, stellen ihren Partner so lange auf einen Sockel, bis er sie irgendwann zurückweist.«
»Und dann?« Kenzie sah mich an.
»Dann verfallen sie ins andere Extrem. Beleidigungen, Drohungen, Manipulationen. Wenn das auch nicht wirkt, kommt die hilflose Phase mit Verzweiflung, Angst und …« Ich brach ab.
»Selbstmorddrohungen«, murmelte Kenzie.
Ich nickte. »Nachdem ich gesagt hatte, mir wären ihre Eifersuchtsanfälle und das klammernde Verhalten zu viel, hat sie regelmäßig damit gedroht, sich etwas anzutun. Mal war es subtil, mal ganz direkt. Einmal hat sie sogar Moira angerufen, um zu sagen, dass sie nicht ohne mich leben kann und deswegen mit dem Auto in den See fahren wird, wenn ich nicht sofort bei ihr auftauche.« Während ich darüber sprach, merkte ich, wie nah das alles noch war. Wie sehr es mich immer noch mitnahm, auch nur daran zu denken.
Kenzie schien es ebenfalls zu merken, denn sie strich mir flüchtig über den Arm. Mehr jedoch nicht. »Wie hast du darauf reagiert?«
»Die ersten Male bin ich sofort zu ihr gegangen, weil ich Angst hatte, sie macht es wirklich. Aber sie war nie tatsächlich in Gefahr, und erst mit der Zeit habe ich gemerkt, dass es nur ihr letztes Mittel war, um mich wieder zu sich zurückzuholen.« Ich schüttelte den Kopf. »Natürlich bin ich nicht gleich wieder abgehauen, wenn sie vor mir gestanden und geweint hat, ich … ich dachte, ich wäre ein Unmensch, wenn ich sie in dem Zustand allein lasse. Also habe ich sie getröstet. Und sie hat es so interpretiert, dass wir es noch mal versuchen würden.«
»Aber das wolltest du nicht.«
»Nein«, schnaubte ich. »Obwohl ich mich in den letzten Jahren tausendmal gefragt habe, ob ich uns nicht eine Chance hätte geben müssen. Ich hätte ihr sagen können, dass sie eine Therapie machen soll, um ihre Kindheit zu verarbeiten, oder –«
Kenzie unterbrach mich. »Ihre Kindheit? Kamen die daher, ihre Probleme?«
»Ich nehme es an.« Ich verknotete meine Hände ineinander. »Ihr Vater ist früh gestorben, ihre Mutter war mit vier Kindern völlig überfordert und hat Ada oft geschlagen oder in den Keller gesperrt, wenn ihre Brüder Mist gebaut hatten, weil sie es sich bei denen nicht getraut hat. Ada hat mir nur einmal davon erzählt. Deswegen wollte sie ja unbedingt von ihrer Familie weg und hat jeden Sommer gearbeitet, um genug Geld zusammenzubekommen.«
»Kann ich gut verstehen«, sagte Kenzie und ich ahnte, dass sie daran dachte, wie ähnlich sich Adas und ihr Schicksal waren – und auf der anderen Seite auch nicht. Beide hatten ein Elternteil verloren und trotzdem war ihr Leben vollkommen anders verlaufen. »Für Ada musst du wie der strahlende Ritter auf dem weißen Pferd ausgesehen haben.«
»Ja, nur dass ich das komplette Gegenteil war.« Ich schüttelte den Kopf. »Wenn ich Ada heute treffen würde, dann wüsste ich spätestens nach dem ersten Date, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Damals dachte ich nur, sie wäre eben eines dieser nervigen Mädchen, die klammern und nach der Trennung eine Weile rumspinnen, sich aber dann bald damit abfinden. Spätestens, wenn sie wieder zu Hause ist und ich zurück in Eton bin.«
Kenzie schob mit dem Schuh den Sand unter ihren Füßen glatt. »Aber so war es nicht«, stellte sie fest. »Dieser Anruf, den ich da gehört habe … war also einer von vielen?«
»Es war bestimmt der fünfte allein an diesem Abend. Sie kamen im Abstand von wenigen Minuten, nachdem Ada abgehauen war – du weißt schon, als ich angeboten hatte, sie nach Hause zu fahren. Ich habe sie mehrfach gefragt, wo sie ist, aber sie hat nur geweint, mich verflucht, sich dafür entschuldigt und gesagt, dass sie mich liebt … und dann aufgelegt. Irgendwann ist mir der Geduldsfaden gerissen.«
»Deswegen diese Andeutung mit dem anderen Mädchen? Es klang so, als hättest du jemanden bei dir.«
Kenzie schien diese Nachricht sehr oft angehört zu haben, wenn sie die Details so genau kannte. Mein Innerstes zog sich zusammen, als ich daran dachte, wie das alles auf sie gewirkt haben musste. Und sie war völlig allein damit gewesen, weil ich nichts dazu gesagt, mich nicht gerechtfertigt hatte. Das konnte ich allerdings auch jetzt nicht. Nur ihre Fragen beantworten und erzählen, was passiert war.
»Ich habe nur so getan, als wäre da jemand«, gab ich zu, »schließlich war ich immer noch bei dem Abendessen nach den Highland Games. Ich dachte, wenn Nettsein nicht hilft, dann vielleicht das Gegenteil. Dass sie mich zwar für ein Arschloch hält, aber wenigstens einsieht, dass ich ihre Liebe nicht wert bin. Deswegen war ich so ätzend zu ihr, so kalt und desinteressiert. Und als sie gesagt hat, sie verschwindet, das … das war genau das, womit sie schon zigmal gedroht hatte. Also habe ich ihr gesagt, sie soll es tun. Ich hatte doch keine Ahnung, dass sie tatsächlich …« Meine Stimme brach und ich holte zittrig Luft.
Kenzie griff nach meiner H
and und drückte sie fest. »Wann hast du es erfahren?«, fragte sie sehr leise.
»Moira hat mich frühmorgens geweckt, da dämmerte es gerade erst. Ich weiß noch, wie sie vor meinem Bett stand, leichenblass, und mir gesagt hat, ich solle aufstehen und mich anziehen, weil etwas passiert wäre.« Ich dachte mit Grauen daran, wie sie geklungen hatte. »Erst dachte ich, es wäre etwas mit Edie oder Fin oder meiner Mum. Aber dann hat sie mir gesagt, sie hätte Ada gefunden. Moira geht immer früh in dem Waldstück laufen, das hinter dem Hotel liegt und unserer Familie gehört. Dabei hat sie jemanden in der kleinen Hütte liegen sehen, die dort für Spaziergänger steht. Sie dachte wohl, es wäre ein Obdachloser oder jemand, der nach dem Pub den Weg nach Hause nicht mehr gefunden hat. Aber es war Ada. In einer Lache aus Blut. Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten.« Jetzt, wo ich einmal angefangen hatte, wollte die ganze Geschichte so schnell wie möglich aus mir heraus. »Moira hat sofort unseren Arzt gerufen, aber er konnte nur noch ihren Tod feststellen. Und dann … dann haben sie beschlossen, es zu vertuschen. Da der Skandal um Jamie noch so frisch war, dachte Grandma, es würde der Familie schaden, wenn noch jemand von der Presse an den Pranger gestellt wird.« Ich presste die Lippen aufeinander. »Mir wäre es lieber gewesen, sie hätten die Polizei geholt und alles seinen Gang gehen lassen. Das wäre gerecht gewesen. Aber stattdessen gab es ein anonymes Grab, eine sechsstellige Summe für Adas Mutter und die Verpflichtung zum Stillschweigen für jeden, der davon wusste. Was nicht fair ist. Die Leute sollten erfahren, was mit ihr passiert ist, statt sich zu fragen, ob sie noch lebt.«
Kenzie schwieg.
»Ich bin nicht sicher, ob das stimmt«, sagte sie dann. »Wenn niemand wusste, dass sie krank war, hätten sie dich dafür gelyncht. Und du hättest es ihnen kaum erzählt, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie mochten sie so sehr. Ihren Zustand preiszugeben, ohne dass sie dazu etwas sagen kann, wäre noch schlimmer gewesen als die Vertuschung ihres Todes.«
»Hast du mir deswegen nicht die Wahrheit gesagt?«, fragte Kenzie leise. »Weil du dachtest, du ziehst sie in den Dreck, wenn du erzählst, was mit ihr los war?«
Ich schüttelte den Kopf. Ihre Worte waren eine Einladung, einfach zu nicken, aber ich würde sie nie wieder anlügen. »Ich habe es vor allem getan, weil ich Angst hatte, dich zu verlieren. Du hattest die ganzen Warnungen aus Kilmore gehört und auch mitbekommen, wie ich mit Drew umgesprungen bin … und wolltest trotzdem mit mir zusammen sein. Ich dachte, wenn ich dir die Wahrheit über Ada sage, wäre es zu viel, sogar für dich – ich dachte, niemand könnte so etwas verzeihen, wenn ich es nicht einmal selbst schaffe. Natürlich wäre es einfach gewesen, alles auf Ada zu schieben. Auf ihre Anrufe, ihre Drohungen, ihr Verhalten. Aber auch wenn ich nicht gewusst habe, was mit ihr los ist: Ich hätte das niemals zu ihr sagen dürfen.«
Kenzie schwieg, schwieg lange. Dann nickte sie.
»Stimmt. Das hättest du nicht.«
34
Kenzie
Ich sah Lyall an und erkannte Angst in seinen Augen – dieselbe Angst, die schon darin flackerte, seit ich ihn dazu gedrängt hatte, mir zu sagen, was passiert war. Und ich wollte sie ihm nehmen, nach allem, was ich nun wusste. Denn vollkommen egal, was zwischen uns beiden falsch gelaufen war, dass er mich belogen und dann keinen Schritt getan hatte, um das alles aufzuklären … er trug eine Schuld mit sich herum, die in ihrem gewaltigen Umfang nicht seine war. Eine Schuld, die er sich aufgeladen hatte, weil er am Ende genau das war, was ich die ganze Zeit gewusst hatte: ein zutiefst anständiger Mensch. Spätestens, seit er in meinen Armen bitterlich geweint hatte, war mir das vollkommen klar.
»Du hättest es nicht sagen dürfen«, wiederholte ich und fügte schnell hinzu, »genauso, wie man zu seinen Eltern nicht sagen darf, dass man sie hasst, nur weil sie einem verbieten, zu einer Party zu gehen. Oder der kleinen Schwester, dass sie die Klappe halten soll, nur weil sie als Einzige verstanden hat, was wirklich mit einem los ist.« Ich schüttelte den Kopf. »Adas Tod ist eine fürchterliche Tragödie, und vielleicht hätte man ihr helfen können, damit sie sich nichts antut. Das wäre der Job ihrer Familie gewesen oder der von Profis. Aber garantiert nicht deiner.«
Lyall rieb die Hände langsam aneinander und sah mich nicht an. »Ich habe mich benommen wie ein komplett unsensibler Idiot.«
»Weil du das warst.« Ich lächelte schief. »Ein unwissender, überforderter und deswegen unsensibler Idiot. Wie fast alle in dem Alter. Nur, dass das meistens keine Rolle spielt, weil es keinerlei Konsequenzen hat außer einem gebrochenen Herz, das schnell wieder heilt.« Erst jetzt verstand ich tatsächlich, warum Lyall war, wie er war. Warum er mit Anfang zwanzig schon eine Ernsthaftigkeit ausstrahlte, die man oft nicht einmal bei Menschen fand, die doppelt so alt waren wie er. Warum er über alles so genau nachdachte und fast nie unbeschwert wirkte. Weil die Sache mit Ada ihn gelehrt hatte, dass es, egal was man sagte oder tat, Konsequenzen hatte.
»Wie man sieht, habe ich seitdem nichts dazugelernt.« Lyall lachte bitter auf. »Sonst hätte ich dich nicht angelogen.«
»Ja, das stimmt. Du hättest es mir gleich sagen sollen.« Ich hob die Schultern. »Aber ich verstehe jetzt, wieso du es nicht getan hast.« Er hatte seine eigene verdrehte Logik dessen, was passiert war – anders als Finlay konnte Lyall die Geschichte mit Ada nicht als das sehen, was sie war: eine unglückliche Verkettung von Umständen, die niemand hätte voraussehen können. Und als mir das bewusst wurde, merkte ich, wie sich in mir etwas entspannte. Nicht nur, weil dieser Widerspruch in meinen Gefühlen aufgelöst war. Sondern auch, weil jetzt der Weg dafür frei war, den Schmerz der letzten Monate hinter mir zu lassen. Egal, wie dieser Weg aussah.
»Ich dachte, wenn ich es dir sage, dann ist alles vorbei.« Lyall sah mich an, und ich sah eine Offenheit in seinen Augen, die er nur sehr selten zeigte. »Aber ich hätte wissen müssen, dass es irgendwann rauskommt. Ich habe es wohl einfach verdrängt, weil ich froh war, dass du nach den Games wieder bei mir warst. Und als Drew dann bei mir angerufen hat, weil er wissen wollte, warum du die Flucht ergriffen hättest … da habe ich es schon geahnt. Also habe ich mir Finlays Auto geschnappt und bin dir nachgefahren, in der Hoffnung, es gäbe einen anderen Grund. Aber kaum warst du ausgestiegen, war mir klar, dass du Bescheid wusstest.«
Ich konnte meine Gefühle zu dem Zeitpunkt nur schlecht in Worte fassen, aber ich versuchte es dennoch. Nicht für Lyall. Eher für mich selbst. »Ich stand völlig neben mir in dem Moment. Gerade eben hatte ich noch neben dir im Bett gelegen und wir hatten Bali geplant – und nur fünf Minuten später hat dieser Anruf meine komplette Welt auf den Kopf gestellt. Zu hören, was du gesagt hast und wie … das hat etwas bei mir getriggert. Eine alte Erinnerung. Ich war nämlich selbst einmal in einer solchen Situation.« Ich beugte mich vor, nahm eine Hand voll Sand und ließ ihn durch meine Finger rieseln. Nur einen Moment überlegte ich, ob ich wirklich von diesem schwarzen Tag in meiner Vergangenheit erzählen sollte, aber dann entschied ich mich dafür. »Es war ein paar Wochen, nachdem meine Mum gestorben war. Man hatte uns ein Bild geschickt, die letzte Aufnahme von ihr. Ich war allein zu Hause und neugierig, also habe ich das Paket aufgemacht. Aber als ich die Plakette mit ihrem Todesdatum drauf gesehen habe, haben die Trauer und die Gewissheit, dass sie tot ist, mich total überrollt. Etwas in mir ist vollkommen ausgetickt, ich bin losgefahren und an einer Eisenbahnbrücke gelandet. Und dann bin ich draufgestiegen.«
Schockiert sah er mich an. »Du wolltest …?«
»Keine Ahnung.« Ich hob die Schultern. »Im Nachhinein glaube ich nicht, dass ich tatsächlich in Versuchung war. Ich stand dort oben und wollte nur diese Verzweiflung loswerden. Aber dann habe ich an meine Schwestern und meinen Dad gedacht, also bin ich wieder runtergeklettert.« Tief atmete ich ein. »Als ich allerdings im letzten August gehört habe, was du zu Ada gesagt hast … da dachte ich: Was, wenn jemand in dem Moment so etwas zu mir gesagt hätte wie du? Wäre ich dann gesprungen? Hätte ich mein Leben beendet? Deswegen bin ich so ausgeflippt. Normalerweise hätte ich dir wenigstens die Chance gegeben, es mir zu erklären, nachdem ich die Aufnahme bekommen hatte. Aber in dem Moment �
��«
»Himmel, Kenzie, du musst dich nicht rechtfertigen, dass du so reagiert hast«, unterbrach Lyall mich, und seine Stimme war rau vor Schuld. »Niemand hätte da nachgefragt. Nicht bei einer solchen Lüge. Oder bei einem solchen Telefongespräch.«
Ich schwieg, weil er recht hatte, vermutlich hätte niemand anders reagiert als ich. Aber ich wünschte, ich hätte es gekonnt. Um uns beiden eine Menge Unglück zu ersparen.
»Es tut mir so leid«, sagte Lyall leise in unser Schweigen hinein, und obwohl die Worte so simpel waren und die meisten sie für vollkommen unzureichend gehalten hätten, hatten sie für mich unendlich viel Bedeutung. Weil ich nun nicht mehr sämtliche Begegnungen, Gespräche und Gefühle immer wieder durchgehen musste, um herauszufinden, an welcher Stelle ich einen Fehler gemacht hatte – den Fehler, mich in jemanden verliebt zu haben, der diese Liebe nicht verdiente.
»Ich weiß.« Als ich meine Hand wieder in die von Lyall schob und meine Finger mit seinen verschränkte, stiegen mir Tränen in die Augen. Ich versteckte sie nicht, sondern sah ihn an. »Und ich bin froh, dass ich die Wahrheit jetzt kenne. Ich weiß nur nicht, ob ich es vergessen kann. Ob ich … ob wir …« Der Kloß in meinem Hals erstickte meine Worte.
»Shhhht«, machte Lyall und zog mich in seine Arme. »Du schuldest mir nichts, Miss Bennet. Und ich erwarte nichts von dir. Gar nichts.«
Als er meinen Spitznamen sagte, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Also erlaubte ich mir, stumm in seinen Pullover zu weinen und seine Umarmung zu spüren, die mir wie die erste Sonne nach einem langen Winter vorkam. In einem Film wäre nun alles geklärt gewesen und der Weg zum Happy End frei. Aber das hier war kein Film. Verletzungen heilten nicht in Sekunden und Gedanken verschwanden nicht, nur weil man das gerne so gehabt hätte. Ich wusste nicht, ob ich Lyall je wieder vertrauen konnte oder mich ständig fragen würde, ob er mir etwas verschwieg. Meine Gefühle für ihn waren immer noch da – sie hatten sich nie vertreiben lassen. Aber die Frage, ob es eine Chance für uns gab … ich konnte sie jetzt nicht beantworten.