Exodus

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Exodus Page 11

by Leon Uris


  Aage und Meta blieben erwartungsvoll an der Tür stehen, als Karen zögernd und auf Zehenspitzen in das Zimmer ging, das sie für sie eingerichtet hatten. Es war voll von Puppen und Spielsachen und Büchern und Kleidern und so ungefähr von allem, was sich ein kleines Mädchen überhaupt nur wünschen konnte. Doch dann entdeckte Karen den Wuscheligen jungen Hund auf ihrem Bett. Sie kniete sich neben ihn und streichelte ihn, und er leckte ihr das Gesicht, und sie spürte seine nasse Nase an ihrer Backe. Sie drehte sich um und lächelte den Hansens zu, und Aage und Meta lächelten zurück.

  Die ersten Nächte ohne Pappi und Mammi waren schrecklich. Und es war sonderbar, wie sehr sie ihren Bruder Hans vermißte. Sie aß kaum und saß nur still für sich allein in ihrem Zimmer und streichelte den kleinen Hund, den sie Maximilian getauft hatte. Meta Hansen verstand das alles sehr gut. Abends saß sie bei Karen, streichelte sie und hielt ihre Hand, bis das leise Schluchzen aufgehört hatte und Karen eingeschlafen war.

  In der darauffolgenden Woche kam ein nicht abreißender Strom von Besuchern, die Geschenke mitbrachten, mächtig viel Getue um Karen machten und in einer Sprache auf sie einredeten, die sie noch nicht verstehen konnte. Die Hansens waren sehr stolz, und Karen gab sich die größte Mühe, zu allen Leuten nett zu sein. Und ein paar Tage später wagte sie sich zum erstenmal aus dem Haus nach draußen.

  Karen hatte Aage Hansen schrecklich gern. Er rauchte Pfeife, genau wie ihr Pappi, und er machte gerne Spaziergänge. Aalborg war ein interessanter Ort. Es gab da, wie in Köln, ein Wasser, das hieß der Limfjord. Herr Hansen war Rechtsanwalt und ein großer Mann, und beinahe alle Leute schienen ihn zu kennen. Er war natürlich kein so großer Mann wie ihr Pappi — aber das waren sowieso nur sehr wenige Leute.

  Eines Abends sagte Aage: »Hör mal, Karen, du bist jetzt schon beinahe drei Wochen bei uns, und wir möchten gern etwas mit dir besprechen, etwas sehr Wichtiges.«

  Er verschränkte die Hände auf dem Rücken, schritt im Zimmer auf und ab und sprach zu ihr, auf eine ganz wunderbare Art, und so, daß sie auch alles sehr gut verstehen konnte. Er erzählte ihr, es gäbe jetzt in Deutschland so vieles, was gar nicht schön sei, und ihre Eltern meinten, es sei besser, wenn sie vorläufig erst einmal hier bei ihnen bliebe. Und dann sagte Aage Hansen, sie wüßten sehr gut, daß sie ihr niemals die Eltern ersetzen könnten, da aber Gott ihnen nun einmal keine eigenen Kinder gegeben habe, seien sie sehr glücklich, sie bei sich zu haben, und sie möchten gern, daß auch Karen glücklich sei. Doch, Karen verstand das alles sehr gut, und sie sagte Aage und Meta, sie hätte nichts dagegen, vorläufig erst einmal bei ihnen zu bleiben.

  »Und noch etwas, Karen. Da wir uns dich nun für ein Weilchen ausleihen, und weil wir dich so gern haben, wollten wir dich fragen — würde es dir etwas ausmachen, wenn du dir unseren Namen ausleihst?«

  Darüber mußte Karin nachdenken. Ihr schien, Aage hatte noch irgendwelche anderen Gründe. Seine Frage hatte diesen besonderen Ton gehabt, hatte so erwachsen geklungen — genau wie bei Mammi und Pappi, wenn sie hinter geschlossenen Türen miteinander geredet hatten. Dann nickte sie und sagte, ja, das wäre ihr auch recht.

  »Schön! Dann heißt du jetzt also Karen Hansen.«

  Aage und Meta nahmen sie bei der Hand, wie sie das jeden Abend taten, brachten sie in ihr Zimmer und machten die kleine Lampe an. Aage spielte mit ihr und kitzelte sie, und Maximilian sprang aufs Bett und tobte mit. Karen lachte, bis sie nicht mehr konnte, dann schlüpfte sie unter die Bettdecke und sagte ihr Abendgebet. »— und behüte Mammi und Pappi und Hans und mein kleines Brüderchen, und alle meine Onkel und Tanten und Vettern und Kusinen — und auch die Hansens, die so nett zu mir sind — und die beiden Maximilians.«

  »Ich komme gleich und setze mich an dein Bett«, sagte Meta.

  »Das ist nicht nötig. Du brauchst jetzt nicht mehr bei mir zu sitzen. Maximilian paßt auf mich auf.«

  »Gute Nacht, Karen.«

  »Sag mal, Aage, sind die Leute in Dänemark auch so böse auf die Juden?«

  Meine liebe Frau Clement, verehrter Herr Professor, ist es wirklich schon sechs Wochen her, daß Karen zu uns kam? Sie ist ein erstaunliches Kind. Ihre Lehrerin hat uns erzählt, daß sie sich in der Schule sehr gut macht. Es ist kaum zu glauben, wie schnell sie Dänisch lernt. Wahrscheinlich kommt das daher, daß sie mit Gleichaltrigen zusammen ist. Sie hat schon viele Freundinnen hier. Der Zahnarzt riet uns, einen Zahn ziehen zu lassen, um Platz zu machen für einen neuen. Es war nicht weiter schlimm. Wir möchten gern, daß Karen Musikstunden bekommt, und werden Ihnen darüber noch genauer schreiben.

  Jeden Abend schließt sie in ihr Gebet ...

  Und dabei lag ein Brief von Karen, in Blockschrift:

  LIEBE MAMMI, PAPPI, HANS, MAXIMILIAN, UND MEIN NEUES BRÜDERCHEN, ICH HABE SOLCHE SEHNSUCHT NACH EUCH, WIE ICH EUCH GAR NICHT SAGEN KANN —. Im Winter läuft man Schlittschuh auf dem Eis des Limfjords, baut Schneemänner und rodelt, und dann sitzt man am knisternden Kamin, und Aage reibt einem die eiskalten Füße.

  Doch der Winter verging, der Limfjord taute auf, und das Land wurde grün und blühte. Und als der Sommer kam, fuhren alle an die Nordsee, nach Blockhus, und Karen fuhr mit Meta und Aage im Segelboot hundert Meilen weit hinaus auf das Meer.

  Das Leben bei Hansens war schön und abwechslungsreich. Karen hatte eine Menge ,bester' Freundinnen, und sie fand es wunderbar, mit Meta zum Einkaufen auf den Fischmarkt zu gehen, wo es nach allem möglichen roch, oder mit ihr in der Küche zu sein und zuzusehen, wie man einen Kuchen bäckt. Und Meta konnte einem gut helfen bei so vielen Dingen, beim Nähen oder bei den Schularbeiten, und sie war ein so wunderbarer Trost, wenn Karen mal mit Fieber oder Halsschmerzen im Bett liegen mußte.

  Aage hatte immer ein Lächeln für sie und offene Arme, und er schien beinah genauso klug und freundlich zu sein wie ihr richtiger Pappi. Aage konnte auch mächtig streng sein, wenn es mal nötig war.

  Eines Tages, als Karen gerade zum Tanzunterricht war, rief Aage zu Hause an und bat Meta ins Büro zu kommen.

  »Ich habe eben Nachricht vom Roten Kreuz bekommen«, sagte er zu seiner Frau. Er war sehr erregt, und sein Gesicht war blaß. »Sie sind alle miteinander verschwunden. Spurlos. Die ganze Familie. Ich habe alles versucht, aber ich bekomme keinerlei Auskunft aus Deutschland.«

  »Und was vermutest du, Aage?«

  »Was gibt es da zu vermuten? Man hat sie alle in ein Konzentrationslager gebracht — oder an einen noch schlimmeren Ort.«

  »Oh, mein Gott!«

  Sie brachten es nicht übers Herz, Karen zu erzählen, daß ihre ganze Familie verschwunden war. Karen schöpfte Verdacht, als keine Briefe mehr aus Deutschland kamen, doch sie hatte zu große Angst, Fragen zu stellen. Sie liebte die Hansens und vertraute ihnen blind. Ihr Instinkt sagte ihr, daß sie ihre guten Gründe haben mußten, wenn sie Karens Familie mit keinem Wort mehr erwähnten.

  Außerdem geschah etwas Sonderbares. Gewiß, Karen hatte Sehnsucht nach ihren Eltern und Geschwistern, doch allmählich schien das Bild ihrer Mutter und ihres Vaters mehr und mehr zu verblassen. Wenn ein achtjähriges Kind so lange von seinen Eltern getrennt ist, dann wird es immer schwerer, sich an sie zu erinnern. Karen war manchmal traurig, daß sie sich nicht deutlicher erinnern konnte. Gegen Ende des Jahres konnte sie sich kaum noch vorstellen, daß sie einmal nicht Karen Hansen geheißen hatte und keine Dänin gewesen sein sollte.

  WEIHNACHTEN 1939

  In Europa war Krieg, und seit Karens Ankunft bei Hansens war ein Jahr vergangen. Karen sang mit ihrer glockenreinen Stimme ein Weihnachtslied, während Meta sie am Klavier begleitete. Dann ging Karen in ihr Zimmer und holte aus dem Schrank ein Paket, das sie dort versteckt hatte. Es enthielt das Weihnachtsgeschenk, das sie in der Schule gebastelt hatte. Stolz überreichte sie es Meta und Aage. Auf das Papier, womit es eingepackt war, hatte sie geschrieben: FÜR MAMMI UND PAPPI, VON EURER TOCHTER KAREN

  8. APRIL 1940

  Die Nacht war trügerisch und voll Verrat. Durch den Nebel drang das dumpfe Geräusch marschierender Truppen, die sich auf die dänische Grenze zu bewegten. Die dunstige Morgendämmerung brachte Fähre auf Fähre heran. Sie glitte
n lautlos durch die Nebelschwaden über das Wasser, beladen mit Soldaten in Stahlhelmen. Die deutsche Wehrmacht rückte an, schweigend und mit der Präzision eines Roboters, und überzog das ganze Land.

  9. APRIL 1940

  Karen und die anderen Mädchen aus ihrer Klasse stürzten an die Fenster und sahen nach oben zum Himmel, der schwarz war von dröhnenden Flugzeugen, die eins nach dem andern herunterkamen und auf dem Flugplatz von Aalborg landeten.

  9. APRIL 1940

  Die Menschen stürzten verwirrt auf die Straße.

  »Hier spricht der Dänische Rundfunk. Heute früh vier Uhr fünfzehn hat die deutsche Wehrmacht bei Saed und Krussa die dänische Grenze überschritten!«

  Völlig konsterniert durch das unerwartet schnelle Zuschlagen der Deutschen saßen die Dänen an ihren Radiogeräten und warteten verzweifelt auf eine Botschaft König Christians. Dann kam die Proklamation: Dänemark kapitulierte, ohne einen Schuß zu seiner Verteidigung abgegeben zu haben. Das Beispiel Polens hatte deutlich genug gezeigt, daß jeder Widerstand zwecklos war.

  Meta Hansen holte Karen eilig aus der Schule nach Hause und packte die Koffer, um nach Bornholm oder irgendeiner anderen abgelegenen Insel zu fliehen. Aage beruhigte sie und redete ihr gut zu, erst einmal abzuwarten. Es würde Wochen oder gar Monate dauern, bis die Deutschen eine Zivilverwaltung in Gang bekämen. Der Anblick des Hakenkreuzes und der deutschen Uniformen ließ in Karen eine Fülle von Erinnerungen aufsteigen, und mit den Erinnerungen kam die Angst. Alle Leute waren in den ersten Wochen ängstlich und verwirrt; nur Aage blieb ruhig.

  Die deutsche Besatzungsmacht und die deutsche Zivilverwaltung machten großartige Versprechungen. Die Dänen, so sagten sie, seien Arier. Die Deutschen betrachteten sie als ihre Brüder, und das Land hätten sie in erster Linie deshalb besetzt, um die Dänen vor den Bolschewisten zu schützen. Dänemark könne, so sagten sie, seine inneren Angelegenheiten weiterhin selbst verwalten. Dänemark sollte ein Musterprotektorat werden. Auf Grund dieser Zusicherungen traten, nachdem sich die anfängliche Erregung gelegt hatte, wieder annähernd normale Verhältnisse ein.

  Der ehrwürdige König Christian nahm seine täglichen Ausritte vom Schloß Amalienborg in Kopenhagen wieder auf. Ohne jede Begleitung oder Bewachung bewegte er sich furchtlos durch die Stadt, und die Dänen folgten seinem Beispiel. Die Losung des Tages hieß: passiver Widerstand.

  Aage hatte recht behalten. Karen besuchte wieder die Schule, ging zu ihrem Tanzunterricht, und das Leben in Aalborg nahm seinen gewohnten Gang, als sei überhaupt nichts geschehen.

  Es kam das Jahr 1941. Seit der Besetzung durch die Deutschen waren acht Monate vergangen. Mit jedem Tag wurde es deutlicher, daß die Spannung zwischen den Deutschen und der Bevölkerung ihres »Musterprotektorats« wuchs. König Christian ärgerte die Eroberer, indem er sie nach wie vor nicht zur Kenntnis nahm. Auch die Bevölkerung ignorierte die Deutschen, soweit sie irgend konnte, oder aber, noch schlimmer, sie machte sich über die Wichtigtuerei der Deutschen lustig und quittierte ihre großsprecherischen Proklamationen mit Gelächter. Je lauter die Dänen lachten, desto wütender wurden die Deutschen.

  Alle Illusionen, die sich die Dänen im Anfang der deutschen Besatzungszeit gemacht hatten, wurden sehr bald zerstört. Die dänische Industrie, die dänische Landwirtschaft und die geographische Lage Dänemarks waren in den deutschen Herrschaftsplan einbezogen. Dänemark sollte ein weiteres Rädchen der deutschen Kriegsmaschine werden. Gegen Mitte des Jahres 1941 hatte sich daher in Dänemark, wo man das Beispiel Norwegens, des skandinavischen Brudervolkes, vor Augen hatte, eine zahlenmäßig zwar noch geringe, aber sehr entschlossene Widerstandsbewegung gebildet. Reichsbevollmächtigter Best, Oberhaupt der deutschen Zivilverwaltung in Dänemark, war dem »Musterprotektorat« gegenüber für eine Politik der Mäßigung, solange die Dänen friedlich blieben und zur Mitarbeit bereit waren. Die Maßnahmen gegen die Dänen waren milde im Vergleich zu dem Vorgehen in den anderen besetzten Gebieten. Trotzdem wuchs die Widerstandsbewegung unaufhaltsam. Ihre Mitglieder konnten es zwar nicht wagen, die deutschen Truppen mit Waffengewalt zu bekämpfen oder eine allgemeine Erhebung zu planen, doch sie fanden einen Weg, ihrem Haß auf die Deutschen wirksamen Ausdruck zu verleihen. Dieser Weg hieß Sabotage.

  Dr. Werner Best verlor die Nerven nicht. In aller Ruhe erfaßte er diejenigen Dänen, die mit den Nazis sympathisierten, um der neuen Bedrohung Herr zu werden. Die von den Deutschen aufgestellte Hilfspolizei entwickelte sich zu einer Bande dänischer Terroristen, die zu Strafaktionen gegen ihre eigenen Landsleute eingesetzt wurde. Jeder Sabotageakt wurde mit einer Aktion der HIPOS beantwortet. Während die Monate und Jahre der deutschen Besatzung ins Land gingen, erlebte Karen Hansen im abgelegenen Aalborg, wo das Leben ganz normal schien, ihren elften und ihren zwölften Geburtstag. Die Berichte von Sabotageakten und der gelegentliche Krach einer Schießerei oder einer Explosion erschütterten die Ruhe des Städtchens nur für kurze Zeit.

  Karen hörte auf, ein Kind zu sein, und verspürte die ersten Freuden und Leiden einer tiefen Zuneigung, die nicht den Eltern oder einer Freundin galt. Sie schwärmte für Mögen Sörensen, den besten Fußballspieler der Schule, und da ihre Zuneigung nicht unerwidert blieb, wurde sie von allen anderen Mädchen beneidet.

  Ihre tänzerische Begabung war so groß, daß die Lehrerin Meta und Aage Hansen nahelegte, das junge Mädchen die Aufnahmeprüfung für das Königliche Ballett in Kopenhagen machen zu lassen. Karen sei ein sehr begabtes Kind, meinte die Lehrerin, und in ihrem Tanz äußere sich eine Empfindungsfähigkeit, die weit über ihr Alter hinausginge.

  Anfang 1943 wurden die Hansens immer unruhiger. Die dänische Widerstandsbewegung gab den Alliierten durch Funkspruch sehr wertvolle Informationen über die Anlage wichtiger Rüstungsbetriebe und großer Nachschublager auf dänischem Gebiet. Sie ging in ihrer Mitarbeit so weit, der Royal Air Force die genaue Lage dieser Angriffsziele zu übermitteln.

  Die HIPOS und andere von den Deutschen gekaufte Terroristen schritten zu Vergeltungsmaßnahmen. Als die Aktivität auf beiden Seiten zunahm, fing Aage an, sich Gedanken zu machen. Alle Leute in Aalborg wußten, wo Karen herkam. Zwar hatte man gegen die dänischen Juden bisher noch nichts unternommen, doch das konnte sich plötzlich andern. Mit ziemlicher Sicherheit war auch anzunehmen, daß die Deutschen durch die HIPOS über Karens jüdische Herkunft informiert waren. Schließlich faßten Meta und Aage den Entschluß, ihr Haus in Aalborg zu verkaufen und nach Kopenhagen zu ziehen, unter dem Vorwand, daß die beruflichen Möglichkeiten für Aage dort besser seien und daß Karen in Kopenhagen auch eine bessere Tanzausbildung bekommen könne.

  Im Sommer des Jahres 1943 trat Aage als Sozius in ein Rechtsanwaltsbüro in Kopenhagen ein. In dieser Stadt von einer Million Einwohnern hofften sie, völlig anonym untertauchen zu können. Für Karen wurden falsche Papiere beschafft, aus denen hervorging, daß sie ihre leibliche Tochter war. Karen nahm Abschied von Mögen Sörensen und durchlitt heftigen Liebeskummer.

  Die Hansens fanden eine sehr schöne Wohnung am Sortedams Dossering. Das war eine breite Straße, die sich mit vielen Bäumen an einem künstlichen Wasserlauf entlangzog, über den zahlreiche Brücken in die Altstadt führten.

  Nachdem sich Karen in der neuen Umgebung eingewöhnt hatte, fand sie Kopenhagen ganz wunderbar. Diese Stadt war wie ein Märchen. Sie machte stundenlange Spaziergänge mit Aage und Maximilian, um sich all das Wunderbare anzusehen, was es hier gab. Man konnte am Hafen entlanggehen, an der Figur der kleinen Meerjungfrau vorbei, die Langelinie entlang oder durch die Gärten des Schlosses Christiansborg. Da gab es Kanäle und schmale Straßen mit alten, fünfstöckigen Backsteinhäusern. Überall waren zahllose Radfahrer unterwegs, und auf dem riesigen Fischmarkt am GammelStrand herrschte solcher Betrieb, daß der Fischmarkt von Aalborg dagegen gar nichts war.

  Die Krönung von allem aber bildete das Tivoli mit seinen Anlagen und Blumenbeeten, seiner abendlichen Lichterfülle, seinen Rutschbahnen, Schaukeln und Karussells, dem Kinderorchester und dem Wivex-Restaurant, mit Feuerwerk und Gelächter. Karen verstand bald gar nicht mehr, wie sie es überhaupt fertiggebracht hatte, irgendwo anders zu leben als in
Kopenhagen.

  Eines Tages kam Karen die Straße herunter nach Hause gelaufen. Sie rannte die Treppe hinauf und riß die Wohnungstür auf, stürzte auf Aage zu und umarmte ihn.

  »Pappi! Pappi! Pappi!«

  Sie zog ihn vom Stuhl hoch und tanzte um ihn herum. Dann ließ sie ihn verdutzt mitten im Zimmer stehen, tanzte um die Möbel herum, kam zu ihm zurück und warf von neuem die Arme um ihn. Meta erschien an der Tür und lächelte.

  »Deine Tochter versucht dir mitzuteilen, daß sie beim Königlichen Ballett angenommen ist.«

  »So?« sagte Aage. »Na, das ist ja schön.«

  Abends, als Karen schlief, konnte Meta, die schrecklich stolz war, Aage gegenüber endlich ihrem Herzen Luft machen.

  »Soviel Talent wie Karen hat, sagte man mir, gäbe es unter tausend Mädchen nur einmal. Nach fünf bis sechs Jahren intensiver Ausbildung könnte sie ganz große Klasse werden.«

  »Freut mich — freut mich wirklich«, sagte Aage, der versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie stolz er war.

  Doch nicht alles in Kopenhagen war Heiterkeit und Märchenland. Nacht für Nacht erzitterte die Erde von Explosionen, Sprengungen der Widerstandsbewegung, deren Blitze die Nacht erhellten, und die Luft war erfüllt von lodernden Flammen, vom Krachen der Gewehrschüsse, dem Hämmern der Maschinengewehre.

  Sabotage!

  Vergeltungsmaßnahmen!

 

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