by Leon Uris
Ein instinktives Gefühl ließ Yossi wenige Minuten später wachwerden. Als er sah, daß Jakob fort war, kleidete er sich hastig an und rannte ihm nach. Er ahnte, wohin sein Bruder gegangen war. Gegen vier Uhr morgens hob Jakob Rabinski den Messingklopfer an der Tür von Andrejews Wohnung. Als der bucklige Andrejew die Tür öffnete, sprang Jakob auf ihn zu und rannte ihm das Messer tief ins Herz. Andrejew stieß einen kurzen Schrei aus und fiel tot zu Boden.
Als Yossi kurz danach angestürzt kam, fand er seinen Bruder, der wie hypnotisiert die Leiche des Mannes anstarrte, den er ermordet hatte. Er zog Jakob fort, und beide flohen.
Den ganzen nächsten Tag und die folgende Nacht hielten sie sich im Keller des Hauses von Rabbi Lipzin verborgen. Die Nachricht von der Ermordung Andrejews war wie ein Lauffeuer durch Schitomir gegangen. Der Ältestenrat des Ghettos versammelte sich und faßte einen Beschluß.
»Wir haben Anlaß, zu befürchten, daß man euch erkannt hat«, sagte der Rabbi, als er von der Versammlung nach Haus kam. »Dein rotes Haar, Yossi, ist einigen der Gymnasiasten aufgefallen.«
Yossi biß sich auf die Lippe und sagte nicht, daß er nur versucht hatte, die Tat zu verhindern. Jakob zeigte keinerlei Reue, sondern sagte: »Ich würde es ein zweitesmal tun, gern sogar.«
»Wenn wir auch durchaus verstehen, was euch zu dieser Tat getrieben hat«, sagte der Rabbi, »so können wir sie dennoch nicht gutheißen. Es ist sehr wohl möglich, daß es durch euch zu einem weiteren Pogrom kommt. Andererseits — wir sind Juden, und es gibt für uns vor einem russischen Gericht kein Recht. Wir haben einen Beschluß gefaßt, dem ihr euch zu fügen habt.«
»Ja, Rabbi«, sagte Yossi.
»Ihr müßt eure Locken abschneiden und euch wie die Gojim kleiden. Wir werden euch Nahrung und Geld für eine Woche geben. Ihr müßt Schitomir sofort verlassen und dürft nie mehr hierher zurückkehren.«
So wurden Jakob und Yossi Rabinski, der eine vierzehn und der andere sechzehn Jahre alt, im Jahr 1884 Flüchtlinge. Sie gingen nach Osten, wanderten nur bei Nacht auf der Landstraße und hielten sich tagsüber verborgen. Sie erreichten Lubny, rund dreihundert Kilometer von Schitomir entfernt, suchten sofort das Ghetto auf und begaben sich zum Rabbi. Von ihm erfuhren sie, daß ihnen die Kunde ihrer Tat schon vorausgeeilt war. Der Rabbi berief den Ältestenrat, und man beschloß ohne Zögern, den beiden Brüdern für eine weitere Woche Nahrung und Geld mit auf den Weg zu geben.
Yossi und Jakob machten sich von neuem auf den Weg. Ihr nächstes Ziel war Charkow, rund zweihundertundfünfzig Kilometer entfernt, wo man vielleicht nicht so eifrig nach ihnen fahndete. Der Rabbi von Charkow wurde unterrichtet, daß die beiden Rabinskis dorthin unterwegs seien.
Doch die ganze Gegend war alarmiert, und die beiden Brüder konnten sich nur mit größter Vorsicht bewegen. Sie brauchten zwanzig Tage, um nach Charkow zu kommen. Überall im ganzen jüdischen Wohnbezirk befand sich ihr Steckbrief, und für alle Russen war es geradezu eine heilige Pflicht geworden, nach den beiden Brüdern zu fahnden. Zwei Wochen lang hielten sie sich in dem feuchten Keller unter der Synagoge von Charkow verborgen. Nur dem Rabbi und einigen der Ältesten war ihre Anwesenheit bekannt. Schließlich erschien Rabbi Solomon bei ihnen und sagte: »Ihr seid selbst hier nicht sicher. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man euch entdeckt. Schon jetzt schnüffelt die Polizei hier herum und fragt die Leute aus. Und nun, da der Winter bevorsteht, wird es für euch fast unmöglich sein, weiterzukommen.« Der Rabbi seufzte und schüttelte den Kopf. »Wir haben auch versucht, Papiere für euch zu beschaffen, damit ihr die Grenzen des jüdischen Wohngebiets überschreiten könnt, doch ich fürchte, das ist unmöglich. Ihr seid bei der Polizei allzu bekannt.«
Der Rabbi ging unruhig hin und her. »Wir sind zu der Einsicht gekommen, daß es nur eine Möglichkeit gibt. Es wohnen hier im Distrikt einige jüdische Familien, die sich taufen ließen und jetzt als Kleinbauern leben. Wir meinen, es wird für euch das sicherste sein, wenn ihr euch zumindest bis zum Frühling bei einer dieser Familien verbergt.«
»Rabbi Solomon«, sagte Yossi, »wir sind euch für alles, was ihr für uns getan habt, sehr dankbar. Doch mein Bruder und ich haben etwas anderes beschlossen.«
»So? Und was habt ihr beschlossen?«
»Wir wollen nach Palästina«, sagte Jakob.
»Nach Palästina?« sagte der Rabbi erstaunt. »Wie denn?«
»Wir haben uns einen Weg dorthin überlegt. Gott wird uns helfen.« »Ich zweifle nicht daran, daß euch Gott helfen wird, aber er läßt sich auch nicht dazu zwingen, ein Wunder zu tun. Es sind gut und gern sechshundert Kilometer bis zum Hafen von Odessa. Und selbst wenn ihr Odessa erreichen solltet, wie wollt ihr ohne Papiere auf ein Schiff kommen?«
»Unser Weg führt nicht über Odessa.«
»Es gibt keinen anderen Weg!«
»Wir wollen nicht über das Schwarze Meer fahren. Wir haben vor, zu Fuß zu gehen.«
Rabbi Solomon schnappte nach Luft.
»Moses wanderte vierzig Jahre lang«, sagte Jakob. »So lange werden wir nicht brauchen.«
»Junger Freund, ich weiß sehr wohl, daß Moses vierzig Jahre lang gewandert ist, doch das erklärt noch immer nicht, wie ihr zu Fuß nach Palästina kommen wollt.«
»Ich will es Ihnen erklären«, sagte Yossi. »Wir wollen nach Süden wandern. In dieser Richtung wird die Polizei nicht allzu eifrig nach uns suchen. Wir wollen das jüdische Wohngebiet hinter uns lassen und über den Kaukasus in die Türkei.«
»Unsinn! Wahnsinn! Das ist unmöglich! Wollt ihr mir vielleicht erzählen, daß ihr mehr als dreitausend Kilometer zu Fuß zurücklegen wollt, in der Winterkälte, durch fremde Länder und über ein hohes Gebirge — ohne Papiere, ohne Kenntnis von Land und Leuten und mit einem Steckbrief der Polizei? Ihr seid noch halbe Kinder!«
Jakob sah den Rabbi an, und in seinen Augen brannte das Feuer der Begeisterung. »Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir. Ich will die Deinen sammeln aus Ost und West, aus Nord und Süd; will heranführen meine Söhne aus der Ferne und meine Töchter von den Enden der Erde«, zitierte er.
Und so geschah es, daß die Brüder Rabinski, gesucht wegen Mordes, von Charkow aus weiterflohen. Sie zogen nach Osten und nach Süden durch die Kälte eines unbarmherzig strengen Winters.
Sie arbeiteten sich nachts durch den Schnee, der ihnen bis an die Knie ging, stemmten ihre jungen Leiber gegen den heulenden Wind, während die Kälte ihre Glieder erstarren ließ. Der Magen knurrte ihnen vor Hunger. Sie ernährten sich durch Diebstähle auf dem flachen Lande und verbargen sich am Tage in den Wäldern.
In diesen qualvollen Nächten war es Jakob, der Yossi mit seiner Begeisterung für ihre Mission aufrechterhielt. Und manche Nacht mußte Yossi seinen Bruder acht Stunden lang auf dem Rücken tragen, weil Jakobs Füße so wund waren, daß er nicht laufen konnte. Über das Eis und durch den Schnee wankten sie nach Süden, die Füße mit Lumpen umwickelt, Meter um Meter, Meile um Meile, Woche um Woche. Im Frühling erreichten sie Rostow. Sie brachen zusammen.
Sie fanden das Ghetto, wo man sie aufnahm und ihnen Nahrung und Obdach gewährte. Sie vertauschten ihre Lumpen gegen neue Kleider. Mehrere Wochen lang mußten sie ausruhen, bis sie kräftig genug waren, ihren Weg fortzusetzen. Doch gegen Ende des Frühlings hatten sie sich von den Strapazen des Winters völlig erholt und begaben sich erneut auf die Wanderung.
Sie brauchten sich jetzt nicht mehr mit den feindlichen Elementen herumzuschlagen, mußten sich aber mit noch größerer Vorsicht bewegen, da sie das jüdische Wohngebiet hinter sich gelassen hatten und sich nicht mehr darauf verlassen konnten, bei jüdischen Gemeinden Schutz, Nahrung und Obdach zu finden. Sie gingen von Rostow aus nach Süden, der Küste des Schwarzen Meeres entlang. Sie konnten sich jetzt nur von dem ernähren, was sie auf den Feldern stahlen. Bei Tage ließen sie sich niemals sehen. Als es erneut Winter wurde, waren sie vor eine ungeheuer schwere Entscheidung gestellt. Sollten sie versuchen, den Kaukasus im Winter zu überqueren oder mit einem Schiff über das Schwarze Meer zu fahren? Beide Wege waren gefährlich. Zwar schien es glatter Wahnsinn, sich im Winter in ein hohes Gebirge zu wagen, doch ihr Verlangen, Rußland hinter sich zu lassen, wa
r so brennend, daß sie beschlossen, es zu riskieren. In und um Stavropol, am Fuße des Gebirges, verübten sie eine Reihe von Einbrüchen, um sich für den Angriff auf die Berge ausreichend mit Kleidung und Nahrung auszurüsten. Dann flohen sie weiter in den Kaukasus hinein, noch immer von der Polizei verfolgt, um nach Armenien zu kommen.
Abermals wanderten sie durch die grausame Kälte des Winters. Doch das erste Jahr ihrer Wanderschaft hatte sie abgehärtet und sie allerhand Schliche gelehrt, und ihre Sehnsucht, nach Palästina zu kommen, wurde immer größer. Die letzte Strecke des Weges legten sie halb betäubt zurück, nur noch vom Instinkt vorwärtsgetrieben. Und im Frühling erlebten sie zum zweitenmal das Wunder der Wiedergeburt. Eines Tages richteten sie sich auf und atmeten zum erstenmal freie Luft — sie hatten »Mütterchen Rußland« für immer hinter sich gelassen. Jakob drehte sich, als er die Grenze zur Türkei überschritten hatte, noch einmal um und spuckte aus, in Richtung Rußland.
Jetzt konnten sie sich frei bei Tage bewegen, doch es war ein fremdes Land mit ungewohnten Geräuschen und Gerüchen, und sie hatten weder Pässe noch Ausweise. Die ganze östliche Türkei war gebirgig, und sie kamen nur langsam voran. Wenn sie auf den Feldern keine Nahrung stehlen konnten, arbeiteten sie, und zweimal in diesem Frühjahr wurden sie erwischt und für kurze Zeit ins Gefängnis gesteckt. Yossi meinte, sie müßten nun mit dem Stehlen aufhören, weil es zu gefährlich für sie sei, wenn man sie erwischte: Man könnte sie nach Rußland zurückschicken! Im Sommer kamen sie am Fuß des Berges Ararat vorbei, auf dem die Arche Noah gelandet war. Und weiter ging es, nach Süden. In jedem Dorf fragten sie: »Wohnen hier Juden?«
In einigen Dörfern gab es Juden, und die Brüder bekamen von ihnen Nahrung, Kleidung und Obdach, und wurden mit guten Wünschen auf den Weg gebracht. Diese Juden waren anders als alle, die sie bisher kennengelernt hatten. Es waren unwissende und abergläubische Bauern, doch sie kannten ihre Thora, hielten den Sabbath und feierten die jüdischen Feste.
»Gibt es hier im Osten Juden?«
»Wir sind Juden.«
»Wir möchten gern mit eurem Rabbi sprechen.«
»Wo wollt ihr hin?«
»Wir sind auf dem Weg in das Gelobte Land.« Dies war das magische Wort, das ihnen den Weg ebnete. »Gibt es hier Juden?« »Im nächsten Dorf wohnt eine jüdische Familie.« Überall wurden sie gastlich aufgenommen.
So vergingen zwei Jahre. Die beiden Brüder drängten hartnäckig weiter auf ihrem Weg, machten nur halt, wenn die Erschöpfung zu groß wurde oder wenn sie arbeiten mußten, um sich zu ernähren. »Wohnen hier im Ort Juden?«
Sie überschritten die türkische Grenze und kamen nach Syrien, in ein ebenso fremdes Land. In Aleppo machten sie die erste Bekanntschaft mit der arabischen Welt. Sie durchquerten Bazare, kamen durch Straßen, die von Kamelmist bedeckt waren, und hörten die mohammedanischen Gesänge, die von den Minaretts ertönten. Und weiter wanderten sie, bis sich vor ihnen plötzlich die blaugrüne Weite des Mittelmeeres auftat. Statt der Stürme und der Kälte der hinter ihnen liegenden Jahre begrüßte sie hier glühende Hitze. Sie trotteten die Küste entlang, in Lumpen gehüllt. »Wohnen hier Juden?«
Ja, es gab Juden, doch sie waren wieder anders. Diese Juden sahen aus wie Araber, sprachen wie diese und waren arabisch angezogen. Doch sie sprachen auch Hebräisch und kannten die Thora. Genau wie die Juden in Südrußland und die Juden in der Türkei nahmen auch diese wie Araber aussehenden Juden die beiden Brüder mit Selbstverständlichkeit bei sich auf und teilten ihre Nahrung und ihre Lagerstatt mit ihnen. Sie segneten die Brüder, wie man sie überall auf ihrem Wege gesegnet hatte, um der Heiligkeit ihrer Mission willen.
Und weiter ging der Weg, in den Libanon, vorbei an Tripolis und Beirut, und immer näher kamen sie dem Gelobten Land.
»Wohnen hier Juden?«
Inzwischen war das Jahr 1888 gekommen. Mehr als vierzig Monate waren vergangen seit der Nacht, da Jakob und Yossi aus dem Ghetto von Schitomir geflohen waren. Yossi war zu einem hageren und zähen Riesen von einsachtundachtzig, mit einem Körper aus Stahl, herangewachsen. Er war jetzt zwanzig Jahre alt und trug einen flammend roten Bart.
Jakob war achtzehn. Auch er war durch die mehr als dreijährige Wanderschaft abgehärtet, doch er war nach wie vor von mittlerer Größe, hatte ein dunkles, sensibles Gesicht und war noch immer der unbändige Feuerkopf, der er schon als Knabe gewesen war. Sie standen auf einem Berg. Vor ihnen öffnete sich ein Tal. Jakob und Yossi starrten hinunter auf den Hule-See im Norden von Galiläa. Yossi Rabinski setzte sich auf einen Felsen und weinte. Jakob legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Wir sind da, Yossi, wir sind da!«
Sie waren am Ziel ihrer Wanderschaft angelangt.
V.
Vom Hügel aus schauten sie in das Land. Auf der anderen Seite des Tales erhob sich im Libanon der schneebedeckte Gipfel des Berges Hermon. Unter ihnen dehnte sich der Hule-See mit seinen Sümpfen. Zu ihrer Rechten lag am Hang ein Araberdorf.
Wie schön war das Gelobte Land, wenn man es von hier oben sah! Yossi Rabinski fühlte eine Begeisterung in sich, wie er sie noch nie erlebt hatte. Und wie junge Menschen es oft in solchen Augenblicken tun, schwor er heimlich, eines Tages hierher zurückzukommen, um genau von dieser Stelle aus auf ein Stück Land hinunterzusehen, das dann ihm gehören würde.
Sie blieben dort den Tag und die Nacht, und am nächsten Morgen begannen sie den Abstieg in Richtung auf das Araberdorf. Die weißen Häuser, die sich in einer Mulde zusammendrängten, leuchteten hell in der Morgensonne. Weideland und Olivenhaine zogen sich vom Dorf abwärts zu den Sümpfen des Hule-Sees. Auf den Feldern zog ein Esel eine hölzerne Pflugschar. Andere Esel trugen auf ihren Rücken eine schmale Ernte. In den Weingärten waren Araberfrauen bei der Arbeit. Das Dorf machte den Eindruck, als habe sich hier seit tausend Jahren nichts verändert.
Die Schönheit des Bildes verging, als sie sich dem Dorf näherten. Ein widerwärtiger Gestank ekelte sie an. Von den Feldern und aus den Häusern verfolgten die Dorfbewohner die Brüder mit mißtrauischen Blicken, als sie die schmutzige Straße entlanggingen. Das Leben bewegte sich träge in der glühenden Sonne. Die Dorfstraße war voll vom Mist der Kamele und Esel. Haufen riesiger Fliegen umtanzten die beiden Brüder. Ein Hund lag regungslos im Wasser des offenen Rinnsteins, um sich zu kühlen. Verschleierte Frauen verschwanden ängstlich in armseligen Lehmhütten. Die Hälfte der Hütten war baufällig und schien kurz davor, einzustürzen. In jeder Hütte wohnten ein Dutzend oder mehr Menschen, außerdem auch noch Hühner, Mulis und Ziegen.
Die beiden Rabinskis blieben am Brunnen des Dorfes stehen. Hochgewachsene Mädchen balancierten riesige Wassergefäße auf den Köpfen oder knieten an der Erde, eifrig damit beschäftigt, Wäsche zu schrubben. Beim Erscheinen der Fremden verstummte die Unterhaltung.
»Können wir etwas Wasser haben?« fragte Yossi.
Niemand wagte zu antworten. Sie zogen einen Eimer voll Wasser herauf, wuschen sich das Gesicht, füllten ihre Wasserflaschen und gingen rasch weiter.
Sie kamen zu einer halbverfallenen Hütte, dem Caféhaus des Ortes. Die Männer saßen oder lagen träge herum, während ihre Frauen die Felder bestellten. In der Luft hing der Geruch starken Kaffees und mischte sich mit dem Duft des Pfeifenrauches und den üblen Gerüchen des Dorfes.
»Wir hätten gern nach dem Weg gefragt«, sagte Yossi.
Nach einer Weile erhob sich einer der Araber vom Boden und forderte sie auf, ihm zu folgen. Er führte sie aus dem Dorf heraus an einen Bach; am anderen Ufer des Baches stand eine kleine Moschee mit einem Minarett. Hier am Ufer stand ein ansehnliches Steinhaus und dicht dabei ein Gebäude, das als Gemeindehaus diente. Dorthin führte man die beiden Brüder, bat sie, einzutreten und Platz zu nehmen. Der Raum war hoch, mit weißgekalkten Wänden, dicken Mauern und geschickt angeordneten Fenstern. Eine lange Bank lief rings an den Wänden entlang. Sie war mit bunten Kissen bedeckt. An den Wänden hingen allerlei Schwerter, bunter Tand und Bilder von Arabern und fremden Gästen. Schließlich kam ein Mann herein, der Mitte Zwanzig sein mochte. Er war mit einem gestreiften Umhang bekleidet, der ihm bis zu den Knöcheln ging. Auf dem Kopf trug er ein weißes
Tuch mit einem schwarzen Band. Seine Erscheinung ließ sofort erkennen, daß es sich um einen wohlhabenden Mann handeln mußte.
»Ich bin Kammal, der Muktar von Abu Yesha«, sagte er. Er klatschte in seine mit Ringen geschmückten Hände und befahl, Obst und Kaffee für die Fremden zu bringen. Während sich seine Brüder entfernten, um den Auftrag auszuführen, betraten die Dorfältesten schweigend und erhaben den Raum.
Zur Überraschung der beiden Rabinskis konnte Kammal ein wenig Hebräisch. »Der Ort, an dem dies Dorf steht, ist die Stelle, an der Josua begraben sein soll«, erklärte er ihnen. »Josua ist nicht nur ein hebräischer Kriegsheld, sondern ebenso auch ein moslemischer Prophet.«
Danach versuchte Kammal, der sich an die arabische Sitte hielt, niemals eine direkte Frage zu stellen, auf Umwegen herauszubekommen, wer die Fremden waren und was der Anlaß ihres Besuchs war. Schließlich deutete er versuchsweise an, die beiden hätten sich wohl verirrt. Bisher hatten sich noch nie Juden in das Hule-Gebiet gewagt.
Yossi erklärte, daß sie vom Norden her ins Land gekommen seien und die nächstgelegene jüdische Ansiedlung suchten. Nach einer weiteren halben Stunde versteckter Fragen war Kammal beruhigt. Offenbar waren die beiden Juden nicht mit der Absicht gekommen, hier in diesem Gebiet Land zu erwerben.
Jedenfalls schien er etwas zutraulicher zu werden, und die beiden Brüder erfuhren, daß er nicht nur der Muktar von Abu Yesha war, dem alles Land hier gehörte, sondern auch der geistige Führer und der einzige schriftkundige Mann des Ortes.
Yossi hatte diesen Mann irgendwie gern — warum, wußte er nicht. Er erzählte Kammal von ihrer weiten Pilgerfahrt, der mühsamen Wanderung von Rußland hierher, von ihrem Wunsch, in Palästina seßhaft zu werden und ein Stück Land zu bebauen. Als sie das Obst, das man ihnen anbot, verzehrt hatten und Yossi sich verabschiedete, sagte Kammal: