by Leon Uris
Die Leute im Bunker starrten Ari an, als ob sie einen Wahnsinnigen vor sich hätten. Eine Minute lang herrschte betretenes Schweigen. Schließlich erhob sich Seew Gilboa. »Ari«, sagte er, »ich habe dich vielleicht nicht ganz richtig verstanden. Hast du tatsächlich vor, zweihundertfünfzig Kinder bei Nacht den Berg hinuntertragen zu lassen?«
»Ja, so ist es.«
»Das ist schon am Tage für einen Mann ein gefährlicher Weg«, sagte Dr. Liebermann. »Und nun erst bei Nacht, mit einem Kind auf dem Rücken — einige der Leute werden bestimmt abstürzen.«
»Diese Gefahr besteht, aber das müssen wir eben riskieren.«
»Hör mal, Ari«, sagte Seew, »sie kommen verdammt nahe an Abu Yesha vorbei. Kassis Leute werden sie bestimmt entdecken.«
»Wir werden jede mögliche Vorsichtsmaßnahme beachten.«
Alle begannen plötzlich gleichzeitig zu reden und zu diskutieren. »Ruhe!« rief Ari. »Hier ist keine Volksversammlung. Ihr habt über diese Sache strengstes Stillschweigen zu bewahren. Keine unnötige Aufregung! Und jetzt verschwindet, alle miteinander. Ich habe eine Menge zu tun.«
Der Beschuß von Fort Esther war den ganzen Tag über besonders heftig. Ari nahm sich jeden Abschnittsleiter einzeln vor, um die Evakuierung bis in jede Einzelheit genau zu besprechen und den zeitlichen Ablauf von Minute zu Minute festzulegen.
Die zwölf Leute, die Kenntnis von dem Plan hatten, gingen bedrückt und mit düsteren Befürchtungen herum. Tausend Dinge konnten schiefgehen. Es konnte jemand ausrutschen, die Hunde in Abu Yesha konnten sie hören oder riechen, Kassi konnte das Manöver entdecken und alle Siedlungen im Hule-Tal angreifen, wenn er feststellte, daß sie ohne automatische Schnellfeuerwaffen geblieben waren.
Und doch war allen bewußt, daß Ari kaum etwas anderes übrigblieb. In einer Woche oder in zehn Tagen würde die Lage in Gan Dafna ohnehin verzweifelt sein.
Am Abend teilte David ben Ami, der mit der Einsatzgruppe in Yad El bereitstand, durch einen verschlüsselten Blinkspruch mit, daß er sich bei Einbruch der Dunkelheit auf den Weg machen werde. Die ganze Nacht hindurch arbeiteten sich die vierhundert Freiwilligen den steilen Hang hinauf und erreichten Gan Dafna kurz vor Morgengrauen, erschöpft und entnervt durch die Anstrengung der Klettertour. Ari empfing sie außerhalb des Ortes und führte sie zu einem dichten Gebüsch, in dem sie sich den Tag über versteckt halten sollten. Kassis Leute sollten sie nicht sehen, und er wollte nicht, daß ihr Erscheinen in Gan Dafna irgendwelche vagen Vermutungen auslöste.
Den ganzen Tag über hielten sich die Freiwilligen verborgen.
Zehn Minuten vor sechs Uhr, genau vierzig Minuten vor Sonnenuntergang: der entscheidende Teil des Unternehmens beginnt. Fünf Minuten vor sechs: die Kinder, die evakuiert werden sollen, werden gefüttert. Jedes Kind trinkt mit seiner Milch ein Schlafmittel. Viertel nach sechs: die Kinder werden in ihren unterirdischen Schlafräumen zu Bett gebracht. Man läßt sie gemeinsam Lieder singen, bis sie, durch das Narkotikum betäubt, in einen tiefen Schlaf fallen.
Sechs Uhr zweiunddreißig: die Sonne geht hinter Fort Esther unter. Sechs Uhr vierzig: Ari ruft sämtliche Angehörige des Stabs von Gan Dafna zu einer Besprechung vor den Schlafbunker der Kinder zusammen.
»Hören Sie bitte alle sehr genau zu«, sagte er mit zwingendem Ernst. »In einigen Minuten werden wir mit der Evakuierung der jüngeren Kinder beginnen. Jeder von Ihnen wird namentlich aufgerufen und erhält einen bestimmten Auftrag. Alles ist auf die Minute genau festgelegt, und die geringste Störung des planmäßigen Ablaufs kann unter Umständen sowohl das Leben der Kinder und ihrer Begleiter als auch Ihr eigenes Leben gefährden. Ich wünsche keinerlei Diskussion. Ich werde gegen jeden, der sich nicht strikt an seinen Auftrag hält, drastische Maßnahmen ergreifen.«
Sechs Uhr fünf und vierzig: Jordana bat Kanaan stellt rund um Gan Dafna eine Wache auf, die aus allen zurückbleibenden Kindern besteht. Diese Wache ist um das Vierfache stärker als normalerweise. Gleichzeitig gehen Seew Gilboa und seine zwanzig Mann Palmach, die zum Schutz von Gan Dafna abkommandiert worden sind, mit einem Spezialauftrag zur Sicherung des Unternehmens auf das Gebirge vor.
Sobald die Meldung kommt, daß alle Posten des dichten Sicherungrings um die Siedlung an Ort und Stelle seien, begeben sich fünfundzwanzig Angehörige des Stabes in die Bunker, um die schlafenden Kinder warm anzuziehen. Kitty geht von einem Kind zum andern und überzeugt sich, daß das Schlafmittel gewirkt hat. Jedem Kind wird der Mund mit einem breiten Klebestreifen zugeklebt, damit es selbst im Schlaf nicht schreien kann.
Sieben Uhr dreißig: die bewußtlosen Kinder sind angezogen und transportbereit. Ari bringt die Einsatztruppe aus ihrem Versteck. Von den Schlafbunkern aus wird eine Kette gebildet, und die schlafenden Kinder werden eins nach dem andern herausgereicht. Aus Gurten hat man behelfsmäßige Tragsitze zusammengenäht, so daß die Männer die Kinder wie Rucksäcke auf dem Rücken tragen können. Dadurch haben sie beide Hände frei für das Gewehr, und um sich beim Abstieg zu stützen.
Acht Uhr dreißig: die zweihundertfünfzig Mann mit ihren kleinen schlummernden Bündeln auf dem Rücken werden einer letzten Kontrolle unterzogen. Man überzeugt sich, daß die Kinder einwandfrei festgegurtet sind. Dann setzt sich die Reihe der Träger in Bewegung und zieht zum Haupteingang hinaus, wo das Sicherungskommando von einhundertfünfzig Mann mit automatischen Waffen bereitsteht. Unter Aris Führung entfernen sie sich über den Rand des Abhangs. Einer nach dem andern verschwindet langsam mit dem Kind auf dem Rücken im Dunkel der Nacht.
Die Zurückbleibenden standen schweigend am Tor von Gan Dafna. Es gab für sie jetzt nichts mehr zu tun, als den Morgen abzuwarten. Sie begaben sich langsam zurück in die Bunker, um die Nacht schlaflos zu verbringen, stumm und bebend vor Angst um die Kinder und um das Schicksal dieses seltsamen Geleitzuges.
Kitty Fremont stand, als der Zug verschwunden war, noch über eine Stunde lang allein draußen am Tor und starrte in die Dunkelheit.
»Es wird heute eine sehr lange Nacht werden«, sagte eine Stimme hinter ihr, »und es ist kalt hier draußen. Wollen Sie nicht lieber hineingehen?«
Kitty drehte sich um. Jordana stand vor ihr. Zum erstenmal, seit sie sie kennengelernt hatte, war Kitty wirklich froh, das rothaarige Sabre-Mädchen zu sehen. Seit sie sich entschlossen hatte, in Gan Dafna zu bleiben, hatte sie in zunehmendem Maße Bewunderung für Jordana empfunden. Denn Jordana trug die größte Verantwortung dafür, daß in Gan Dafna alles ruhig blieb. Sie hatte die Soldaten ihrer Gadna-Jugend mit einer Zuversichtlichkeit erfüllt, die ansteckend wirkte; diese halben Kinder zeigten den kriegerischen Mut erprobter Veteranen. In allen Schwierigkeiten, die sich seit der Sperrung der Straße ergeben hatten, war Jordana unverändert ruhig und energisch geblieben. Für eine junge Frau von noch nicht zwanzig war das eine schwere Bürde. Doch Jordana vermittelte den Menschen in ihrer Umgebung ein Gefühl der Sicherheit.
»Ja, es wird wirklich eine sehr lange Nacht werden«, sagte Kitty. »Dann könnten wir uns doch gegenseitig Gesellschaft leisten«, sagte Jordana. »Ich muß Ihnen etwas verraten. Ich habe im Bunker eine halbe Flasche Cognak versteckt. Heute nacht ist die richtige Gelegenheit, sie auszutrinken. Hätten Sie Lust, in meinem Bunker auf mich zu warten? Ich muß nur noch die Wachen hereinholen. In einer halben Stunde bin ich zurück.«
Kitty stand unbeweglich. Jordana nahm ihren Arm. »Kommen Sie«, sagte sie freundlich drängend, »im Augenblick können wir sowieso nichts machen.«
Kitty hatte nervös im Kommandobunker gesessen und eine Zigarette nach der anderen geraucht, bis Jordana endlich von ihrem Rundgang zurückgekommen war. Jordana nahm die braune Hagana-Mütze ab, und die langen roten Locken fielen ihr auf die Schultern. Sie rieb sich die vor Kälte erstarrten Hände und holte dann die Cognakflasche hervor, die sie an einer Stelle der Bunkerwand verborgen hatte, wo das Erdreich locker war. Sie wischte den Sand von der Flasche und schenkte Kitty und sich einen kräftigen Schluck ein.
»Le Chajim!« sagte Jordana und setzte das Glas an die Lippen.
»Ah, das tut gut.«
»Wie lange wird es dauern, bis sie an Abu Yesha vorbeikommen?« »Das wird erst nach Mi
tternacht sein«, antwortete Jordana.
»Ich habe mir immer wieder gesagt, daß alles gutgehen wird; doch nun fange ich an, an die tausend Dinge zu denken, die schiefgehen könnten.«
»Es ist unmöglich, nicht daran zu denken«, sagte Jordana. »Doch das steht jetzt in Gottes Hand.«
»In Gottes Hand?« sagte Kitty. »Ja, Gott vollbringt in diesem Lande wirklich besondere Dinge.«
»Wer hier in Palästina nicht religiös wird, der wird es vermutlich nirgendwo«, sagte Jordana. »Ich kann mich nicht erinnern, daß wir uns jemals durch irgend etwas anderes als durch unseren Glauben am Leben erhalten hätten. Er ist unsere einzige Stütze.«
Diese Worte klangen seltsam aus dem Mund von Jordana bat Kanaan. Äußerlich schien Jordana nicht tief gläubig; doch was hätte ihr sonst die Kraft und Standhaftigkeit geben sollen, unter dieser beständigen Spannung und Bedrohung zu leben, wenn nicht ihr unerschütterlicher Glaube?
»Kitty«, sagte Jordana plötzlich, »ich muß Ihnen ein Geständnis machen. Ich habe mir sehr gewünscht, daß wir beide Freunde werden.«
»So?« sagte Kitty. »Und warum, Jordana?«
»Weil ich etwas von Ihnen gelernt habe — etwas, worüber ich eine ganz falsche Ansicht hatte. Ich habe gesehen, wie Sie hier mit den Kindern gearbeitet haben, und ich weiß, was Sie für Ari getan haben. Als Sie sich dazu entschlossen, in Gan Dafna zu bleiben, da ist mir etwas klargeworden. Ich begriff plötzlich, daß eine Frau wie Sie genausoviel Mut haben kann, wie — wie wir hier. Ich hatte immer geglaubt, Weiblichkeit sei ein Zeichen von Schwäche.«
»Das ist lieb von Ihnen, Jordana«, sagte Kitty mit schwachem Lächeln. »Doch ich fürchte, gerade heute nacht könnte ich recht gut ein bißchen was von eurer Art von Mut gebrauchen. Ich habe das Gefühl, daß ich drauf und dran bin, die Nerven zu verlieren.«
Kitty brannte sich eine Zigarette an, und Jordana schenkte ihr noch einen Cognak ein.
»Ich habe es mir überlegt«, sagte Jordana. »Sie wären doch die richtige Frau für Ari.«
Kitty schüttelte den Kopf. »Nein, Jordana«, sagte sie. »Wir sind, wie man bei uns sagt, zwei nette Leute, die aber nicht füreinander geschaffen sind.«
»Das ist wirklich schade, Kitty.«
Kitty sah auf ihre Uhr. Sie wußte aus den Besprechungen, daß sich die Männer jetzt dem ersten fast senkrecht abfallenden Steilhang nähern mußten. Man würde die Männer, die die Kinder auf dem Rücken trugen, anseilen und einen nach dem andern den Steilhang hinunterlassen. Es ging fast zehn Meter senkrecht nach unten. Vom Ende des Steilhangs würden sie den Hang im lockeren Erdreich rund hundert Meter weit hinunterrutschen müssen.
»Erzählen Sie mir ein bißchen was von sich und David«, sagte Kitty hastig. »Wo habt ihr euch kennengelernt?«
»An der hebräischen Universität. Ich lernte ihn am zweiten Tag kennen. Ich sah ihn, und er sah mich, und wir liebten uns vom ersten Augenblick an und haben nie aufgehört, uns zu lieben.«
»So war es auch bei meinem Mann und mir«, sagte Kitty.
»Ich brauchte natürlich das ganze erste Semester, um ihm klarzumachen, daß er mich liebte.«
»Bei mir dauerte es noch länger«, sagte Kitty lächelnd.
»Ja, Männer können in solchen Dingen schrecklich schwer von Begriff sein. Doch bis zum Sommer wußte er sehr genau, zu wem er gehörte. Wir machten damals gemeinsam eine archäologische Expedition in die Negev-Wüste. Wir versuchten, den genauen Weg festzustellen, auf dem Moses mit den zehn Stämmen durch die Wildnis von Zin und Paran gezogen war.«
»Die Gegend dort soll ziemlich verlassen sein.«
»Durchaus nicht«, sagte Jordana. »Man stößt dort auf die Ruinen zahlreicher Städte der Nabatäer. Die Zisternen dieser Städte enthalten noch immer Wasser. Wenn man Glück hat, kann man alle möglichen Altertümer finden.«
»Das klingt aufregend.«
»Es ist aufregend«, sagte Jordana. »Doch es ist eine sehr mühsame Arbeit. David findet es wunderbar, Ausgrabungen zu machen. Er fühlt sich überall von der historischen Größe unseres Volkes umgeben. Es geht ihm damit genau wie so vielen anderen — und das ist der Grund, weshalb die Juden so tief mit diesem Land verbunden sind. David hat wunderbare Pläne. Nach dem Krieg wollen wir beide wieder an die Universität gehen. Ich werde meine Abschlußprüfung machen und David seinen Doktor, und dann wollen wir eine große hebräische Stadt ausgraben. Er will die Ruinen von Chazor freilegen, der alten hebräischen Stadt hier im Hule-Tal. Das sind natürlich nur Träume. Dazu braucht man viel Geld — und Frieden.« Jordana lachte ironisch. »Frieden«, sagte sie, »das ist natürlich ein abstrakter Begriff, eine Illusion. Ich möchte wissen, wie das wohl sein mag — Frieden!«
»Vielleicht fänden Sie ihn langweilig.«
»Ich weiß nicht«, sagte Jordana. »Einmal im Leben würde ich doch gern wissen wollen, wie Menschen unter normalen Verhältnissen leben.«
»Wollen Sie auch reisen?«
»Reisen? Nein. Ich tue, was David tut, und gehe dorthin, wo David hingeht. Aber einmal, Kitty, möchte ich gern in die Welt hinaus. Mein ganzes Leben lang hat man mir erzählt, daß unser gesamtes Dasein hier in Palästina beginnt und endet. Und doch — manchmal habe ich das Gefühl, eingesperrt zu sein. Viele meiner Kameradinnen sind aus Palästina fortgegangen. Früher oder später sind sie wieder zurückgekommen. Wir Sabres scheinen eine sonderbare Sorte von Menschen zu sein, deren Lebenszweck es ist, zu kämpfen. Wir sind nicht imstande, uns anderswo einzugewöhnen — doch die Frauen werden hier so rasch alt.«
Jordana unterbrach sich. »Es muß am Cognak liegen«, sagte sie. »Sie wissen ja, die Sabres vertragen überhaupt nichts.«
Kitty lächelte Jordana zu. Zum erstenmal verspürte sie Mitleid mit dem Mädchen. Sie drückte ihre Zigarette aus und sah wieder auf ihre Uhr. Die Minuten schlichen dahin.
»Wo werden sie jetzt sein?« fragte sie.
»Noch immer an dem ersten Steilhang. Es dauert mindestens zwei Stunden, alle einzeln abzuseilen.«
Kitty stieß einen leisen Seufzer aus, und Jordana starrte vor sich hin. »Woran denken Sie?« fragte Kitty.
»Ich denke an David — und an die Kinder. In dem ersten Sommer damals in der Wüste fanden wir einen Friedhof, der mehr als viertausend Jahre alt war. Es gelang uns, das vollkommen erhaltene Skelett eines kleinen Kindes freizulegen. Vielleicht war es auf dem Weg in das Gelobte Land gestorben. David weinte, als er das Skelett sah. Er ist nun einmal so. Der Gedanke an die Belagerung von Jerusalem bedrückt ihn bei Tag und bei Nacht. Er wird bestimmt versuchen, irgend etwas Verzweifeltes zu unternehmen. Das weiß ich. — Wollen Sie sich nicht lieber hinlegen, Kitty? Es wird noch lange dauern, bis wir irgend etwas wissen.«
Kitty trank ihr Glas leer. Dann streckte sie sich auf dem Feldbett aus und schloß die Augen. Im Geist sah sie die lange Reihe der Männer vor sich, die nacheinander am Seil den Abhang hinuntergelassen wurden, und die schlafenden Kinder, die auf ihrem Rücken hingen. Und dann sah sie Kassis Araber vor sich, die im Hinterhalt lauerten und darauf warteten, bis die Reihe der Träger in die Falle ging.
Es war ihr unmöglich, zu schlafen.
»Ich glaube, ich werde einmal zum Bunker von Dr. Liebermann hinübergehen und nachsehen, wie es dort aussieht.«
Sie zog eine dicke Jacke an und ging nach draußen. Den ganzen Abend über war von Fort Esther kein Schuß gefallen. Kitty kam ein erschreckender Gedanke: vielleicht hatte Mohammed Kassi irgend etwas erfahren und war mit der Mehrzahl seiner Leute aus Fort Esther abmarschiert. Das Ganze gefiel ihr nicht. Der Mond war viel zu hell, die Nacht zu klar und still. Ari hätte eine neblige Nacht abwarten sollen, um die Kinder fortzuschaffen. Kitty sah hinauf und konnte oben am Berg die Umrisse von Fort Esther ausmachen. Sie müssen es gesehen haben, dachte sie.
Sie betrat einen der Bunker des Lehrkörpers. Dr. Liebermann und die übrigen Angehörigen des Stabes hockten auf ihren Kojen und starrten vor sich hin, von der Spannung wie gelähmt. Niemand sprach ein Wort. Es war so deprimierend, daß sie es nicht aushielt und wieder hinausging.
Karen und Dov standen Wache.
Kitty ging zurück zu dem Kommandobunker, abe
r Jordana war nicht mehr da. Sie streckte sich wieder auf dem Feldbett aus und legte sich eine Wolldecke über die Beine. Wieder erschien vor ihrem Geist das Bild der Männer, die mühsam Schritt für Schritt den Abhang hinunterstiegen. Die Anspannung des Tages hatte ihre Kräfte verbraucht. Sie versank in einen unruhigen Halbschlaf. Die Stunden verstrichen. Mitternacht — ein Uhr.
Kitty warf sich auf ihrem Lager hin und her. Ein Angsttraum peinigte sie. Sie sah Kassis Leute, die schreiend, mit gezogenen im Mondlicht schimmernden Säbeln, die Trägerkolonne angriffen. Die Verteidiger waren tot, alle Kinder waren in die Hände der Araber gefallen, die dabei waren, ein riesiges Massengrab für sie auszuheben.
Kitty fuhr mit einem Ruck hoch. Sie war schweißgebadet, und ihr Herz hämmerte wie wild. Sie zitterte am ganzen Leibe und drehte langsam den Kopf hin und her. Plötzlich drang ein Geräusch an ihr Ohr. Sie lauschte angespannt, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Was sie hörte, war das Geräusch entfernten Gewehrfeuers!
Sie erhob sich taumelnd. Ja, wahrhaftig! Das war Gewehrfeuer — und es kam aus der Richtung von Abu Yesha! Es war kein Traum! Der Transport war entdeckt worden!
Jordana betrat den Bunker in dem Augenblick, als Kitty gerade zur Tür stürzte.
»Lassen Sie mich hinaus!« schrie sie.
»Nein, Kitty, nein —.«
»Diese Mörder! Sie bringen meine Kinder um!«
Jordana mußte ihre ganz Kraft aufwenden, um Kitty gegen die Wand zu drücken.
»Hören Sie zu, Kitty! Dieses Gewehrfeuer, das Sie hören, ist ein Ablenkungsmanöver Seew Gilboas und seiner Leute. Sie greifen Abu Yesha von der entgegengesetzten Seite an, um Kassis Truppen von der Transportkolonne abzulenken.«