Don't LOVE me (Die Don't Love Me-Reihe 1) (German Edition)

Home > Other > Don't LOVE me (Die Don't Love Me-Reihe 1) (German Edition) > Page 34
Don't LOVE me (Die Don't Love Me-Reihe 1) (German Edition) Page 34

by Kiefer, Lena


  Der Weg vom Lagerfeuer am Ufer zurück zum Campingplatz war nicht beleuchtet und ich tastete mich eher durch die Dunkelheit statt etwas zu sehen. Als ich kurz vor der Zufahrt war, hörte ich Geräusche – ein dumpfes Aufkeuchen, einen Schmerzensschrei, ein »Halt ihn fest!« und daraufhin wieder einen Schlag. Schnell begriff ich: Da wurde jemand verprügelt. Verdammt.

  »Hey!« Sofort setzte ich mich in Bewegung, dorthin, wo ich die Geräusche ausmachte. Es waren vier Typen, das konnte ich trotz des spärlichen Lichts erkennen. Mehrere gegen einen? Wie feige war das denn? Mein Puls schnellte weiter nach oben, und ich begann zu rennen, direkt auf sie zu. Oft war Überraschung die beste Option.

  »Hört damit auf und verpisst euch!«, brüllte ich sie an.

  Einer von ihnen ließ von seinem Opfer ab und kam auf mich zu – und für eine Sekunde hatte ich Angst, dass er nun mich angreifen würde. Dann zischte er den anderen dreien jedoch knappe Befehle zu und sie rannten zusammen davon. Am liebsten wäre ich ihnen gefolgt, um sie zu stellen, so sauer und voller Adrenalin war ich. Aber es war wichtiger, nach demjenigen zu schauen, den sie verprügelt hatten.

  Ich lief eilig zu der Stelle und beugte mich über die verletzte Person, aktivierte meine Handy-Taschenlampe und sah nun das Gesicht des Opfers.

  Ein Gesicht, das ich kannte.

  Und Blut. Jede Menge Blut.

  Großer Gott.

  35

  Lyall

  »Auf Kilmore!«

  Der Toast hallte durch den großen Speisesaal des Grand , in dem alle wichtigen Leute der Stadt versammelt waren. Das Abschlussessen nach den Highland Games war seit Jahrzehnten eine Tradition – und mein letzter Auftritt hier, bevor ich morgen um ein Uhr mittags in Richtung Bali abfliegen würde. Das Ticket hatte ich bereits vor einigen Tagen gebucht, und eigentlich hätte ich erleichtert sein müssen, Kilmore nach sieben langen Wochen endlich zu verlassen. Aber das war ich nicht. Im Gegenteil, es fühlte sich ziemlich beschissen an.

  Früher hatte ich die Spiele gemocht, nicht nur den sportlichen Wettkampf, sondern auch das ganze Drumherum. Aber obwohl ich dieses Jahr besser in Form war als jemals zuvor, war ich doch froh gewesen, als die Wettkämpfe vorbei waren. Nicht nur wegen der Aufmerksamkeit, die ich dadurch auf mich zog, sondern auch wegen Finlay und Edina. Sich in der Nähe des jeweils anderen aufhalten zu müssen, hatte bei beiden sehr gegensätzliche Bewältigungsstrategien ausgelöst: Finlay war übertrieben gut gelaunt und Edina äußerst gereizt gewesen. Und mir war die dankbare Aufgabe des Prellbocks zugefallen. Yay.

  Und dann war da natürlich Kenzie, die auf der Tribüne gesessen und zugesehen hatte. Zu der mein Blick immer wieder gewandert war, ohne dass ich es verhindern konnte. Vermutlich hätte ich sie nicht vor Edinas Zorn beschützen sollen. Aber meine Gefühle für sie waren immer noch stärker als meine Enttäuschung über unser Ende.

  Plötzlich traf mich ein Ellenbogen in die Rippen. Empört wandte ich mich zu meiner Schwester um, die auf einmal neben mir saß. Hatte sie nicht noch vor einer Minute meine Grandma bespaßt?

  »Spinnst du? Was soll das?« Ich rückte meine Weste zurecht, die Teil des Outfits jedes Henderson-Mannes im Raum war, genau wie der Kilt und das schwarze Hemd.

  »Du guckst, als würde die Welt gleich untergehen. Und die Leute merken das. Also reiß dich zusammen.« Edina sah mich verärgert an und nahm einen Schluck aus meinem Glas. »Wie kannst du ihr auch noch nachtrauern, nachdem sie dich abserviert hat?«

  Ich verengte die Augen. »Ich frage mich, warum du so wütend auf sie bist«, sagte ich leise. Wir saßen zwar an einer Ecke des Tisches unter Leuten, die sich lebhaft unterhielten, aber man konnte nie sicher sein. »Du hast schließlich genau das Gleiche getan.« Mein Blick ging zu Finlay, der am entgegengesetzten Ende der Tafel saß und gerade über einen Scherz der Vorsitzenden der Scottish Highland Games Association lachte. Manchmal beneidete ich ihn um sein schauspielerisches Talent.

  »Ich habe das Gleiche getan?«, zischte Edina. »Ich habe etwas beendet, das von Beginn an zum Scheitern verurteilt war. Um ihn und mich zu schützen! Ich habe ihm nicht mutwillig wehgetan!«

  »Ach nein? Dann hast du nur gesagt, dass eure Gefühle füreinander nicht normal sind, weil du ihn schützen wolltest? Das hat ja echt super funktioniert, Gratulation. Er hat sich deswegen beinahe selbst auf die Abschussliste gebracht, verflucht!« Ich flüsterte, damit niemand etwas davon mitbekam.

  Sie starrte mich an. »Er hat das in Paris mit Absicht getan?«

  »Wundert dich das?«, fragte ich schroff. »Du weißt doch, was er für dich empfindet.«

  Edina zerrupfte ein Stück Brot aus dem Körbchen vor uns. »Ich wollte doch nur einen Schlussstrich setzen, verdammt! Das Ganze geht jetzt seit Jahren, und auch wenn es noch Jahre so weitergeht, wird sich an der Situation nichts ändern. Also ja, vielleicht war ich unfair, aber dafür ist es jetzt endlich vorbei.« Sie sah zu Finlay hinüber, und ihr Blick verriet mir, es war alles andere als vorbei.

  »Wem willst du das verkaufen?« Ich fragte es nicht unfreundlich. Eher müde.

  »Vor allem mir«, gab sie zu und holte tief Luft. »Sag mal … was hältst du eigentlich von einem Geschwister-Urlaub, Lye?«

  Der Umschwung war etwas zu heftig. »Geschwister-Urlaub?«

  »Meine Einführungswoche in London startet erst Mitte September, und die Zeit bis dahin will ich irgendwo verbringen, wo es warm und schön ist. Auf Bali zum Beispiel. Dann hast du ein bisschen Abwechslung von dem Bauprojekt dort und du könntest dich von deinem Exil in Kilmore und dem ganzen Mist hier erholen.« Sie hatte etwas zu laut gesprochen und ein Mann in unserer Nähe sah sie pikiert an. Aber Edina schenkte ihm ihr liebenswürdigstes Lächeln und schon war er besänftigt. »Also, nimmst du mich mit?« Wieder huschte ihr Blick zu Finlay. »Ich kann es gar nicht erwarten, hier wegzukommen.«

  Die Entscheidung fiel mir nicht schwer. Zeit mit meiner Schwester und meiner Mutter an einem der schönsten Orte der Welt zu verbringen, das war genau das, was ich nach den letzten Wochen brauchte. Vielleicht würde es dort in Gesellschaft von Edina leichter sein, nicht an Kenzie zu denken.

  »Immer doch. Wir fliegen um eins von Edinburgh.«

  Später am Abend ließ ich Edina mit der Leiterin der Wettkampfkommission allein und suchte meinen Cousin. Es dauerte ein bisschen, bis ich ihn schließlich in einem der Sessel in Moiras Kaminzimmer fand – ein Glas Scotch in der einen und eine Zigarre in der anderen Hand.

  »Weißt du eigentlich, wie klischeehaft du manchmal bist?«, fragte ich zur Begrüßung und ließ mich lächelnd in den Sessel gegenüber fallen.

  Finlay stieß den Rauch aus. »Natürlich. Aber die Klischees müssen ja irgendwo herkommen, damit Banausen wie du dagegen ankämpfen können. Gern geschehen.«

  Ich sah ihn an. Wie immer war er das perfekte Bild eines Henderson – in Kilt, schwarzem Hemd und Weste noch mehr als sonst. Seine blonden Haare waren jedoch zerzaust, und sein verwaschener Blick sagte mir, dass ihm der Scotch nicht einfach nur schmeckte, sondern ihn auch betäubte. Ich konnte das so gut verstehen.

  »Wo ist Logan?« Ich hatte beide zusammen rausgehen sehen.

  »Im Bett. Er muss morgen um sechs raus, damit er den Flieger nach Princeton kriegt, wegen seiner Prüfungen. Dieser elendige Streber. Ich habe keine Ahnung, wie wir die gleichen Eltern haben können.« Finlay rutschte noch tiefer in seinen Sessel und lehnte den Kopf an das dunkle Leder.

  »Sei froh, dass er den Streber gibt, dann muss das niemand von uns machen.«

  »Ach, tu nicht so, Lye. Wir wissen beide, dass du genauso schlimm bist wie er. Du verkaufst es nur lässiger.«

  Ich grinste, wurde aber schnell wieder ernst. »Wie geht’s dir, Fin?«

  »Fantas tisch.« Er prostete mir zu. »Ich habe Whiskey, ich habe den zweiten Platz in einem völlig bescheuerten Wettbewerb gemacht, ich habe meinen besten Freund bei mir, wie könnte ich nicht total glücklich sein?« Dann hob er den Finger. »Ach ja, weil die Liebe meines Lebens das leider nicht sein will. Und ich mir deswegen unendlich leidtue.«

  »Das kann niemand besser als du«, gab ich neidlos zu.

  »Du sagst es. Ich denke dar�
�ber nach, die verdammte Uni zu schmeißen, damit ich das den ganzen Tag machen kann.«

  Ich warf ihm einen langen Blick zu. »Und womit verdienst du dann dein Geld?«

  »Keine Ahnung. Vielleicht mache ich irgendwo eine Strandbar auf. Oder eine Surfschule.«

  »Du kannst nicht surfen, Fin«, erinnerte ich ihn.

  »Aber ich sehe hervorragend in Shorts aus. Reicht das nicht?«

  Er lachte, und ich stimmte mit ein, obwohl es echt nichts zu lachen gab. Dann stand ich auf und holte mir ebenfalls einen Scotch.

  »Was ist mit dir?«, fragte Finlay. »Schon voller Vorfreude auf das Bauprojekt auf Bali?«

  Ich setzte mich wieder und schwenkte mein Glas. »Ja, aber das wird wohl nicht nur Arbeit. Edie hat vorgeschlagen mitzukommen, damit wir ein bisschen Urlaub machen können.« Ich hob die Schultern.

  »Mach das, es wird dir guttun.« Finlay lächelte. »Hauptsache, du kommst hier so schnell wie möglich weg. Je weniger du Kenzie siehst, desto weniger wirst du an sie denken.«

  Ein trockenes Lachen entfuhr mir. »Das sagst ausgerechnet du ?«

  »Klar. Du warst schon immer schlauer als ich. Du wirst meine Fehler nicht nachmachen. Und wenn doch, trete ich dir in den Hintern, verlass dich drauf.«

  »Ich würde es nie wagen, daran zu zweifeln.« Wir ließen die Gläser aneinanderklirren, da klopfte es.

  Finlay und ich sahen auf. Edina stand mit verschränkten Armen im Türrahmen, aber der Blick aus ihren hellen Augen war viel weicher als ihre Haltung. »Fin? Können wir reden?«

  Ich stellte das Glas weg. »Das ist mein Stichwort.« Ich war zwar nicht sicher, ob Finlays Zustand der passende für ein klärendes Gespräch war, aber ich hatte gelernt, den beiden nicht in die Quere zu kommen. Und wenn ich den Ausdruck im Gesicht meiner Schwester richtig deutete, wollte sie sich entschuldigen und keinen Streit anfangen. »Ich geh mal ins Bett. Wir sehen uns morgen.«

  Im Vorbeigehen lächelte ich Edina an, raunte ihr ein »Sei nett« zu und schloss dann die Tür hinter mir. Als ich jedoch über den Kiesweg von Moiras Haus zum Grand ging, hatte ich plötzlich Lust auf einen Spaziergang. Es war vielleicht merkwürdig, aber ich wollte mich von Kilmore verabschieden, denn ich wusste, so bald würde ich nicht zurückkehren.

  Ich ging hinunter in Richtung Loch – dem Teil der Stadt, den ich immer am meisten gemocht hatte. Aber als ich in die Nähe des Ufers kam, sagten mir Gelächter und Musik, dass ich dort nicht in Ruhe Abschied nehmen konnte. Ich wollte den Pfad zum Nordufer einschlagen, um den Lärm hinter mir zu lassen, da zog etwas meine Aufmerksamkeit auf sich: mein Name. Ich blieb im Schatten der Bäume stehen und horchte.

  »Die waren alle nur scharf auf Lyall, so wie immer. Vielleicht sollten wir endlich mal im Ort ans Schwarze Brett schlagen, was er mit Ada gemacht hat. Damit alle gewarnt sind.« Das war die Stimme von Aaron Delaney. Klar, dass der Idiot das Thema schon wieder aufwärmen musste. So viel dazu, dass man mich mittlerweile nicht mehr für den Stadtfeind Nummer eins hielt.

  »Nee, selbst das hält sie vermutlich nicht ab«, antwortete Drew McCoy ihm. »Es gibt schließlich auch Frauen, die Serienkillern Liebesbriefe in den Knast schreiben, wenn sie nur gut genug aussehen.«

  »Immerhin hat Kenzie noch die Kurve gekriegt«, sagte Aaron gönnerhaft. »Sonst wär sie vermutlich schon längst nicht mehr hier.«

  »Na, dann müsste ich immerhin nicht dein dummes Gelaber ertragen.« Kenzies Tonfall war schneidend und ich verwundert. Verteidigte sie mich etwa? Ich machte noch einen Schritt nach vorne. Im Schein des Lagerfeuers sah ich sie neben Amy sitzen, den Blick mehr als ernst.

  »Oho! Da ist aber jemand bissig heute.« Aaron lachte. »Was ist los? Hat er dich etwa rumgekriegt und danach nicht mehr angerufen?«

  »Nein, leider war da nichts«, sagte sie. »Aber falls doch, wäre es sicherlich fantastisch gewesen. Wenn ihr mich fragt – ich für meinen Teil verstehe, warum sich ihm alle an den Hals werfen. Im Gegensatz zu vielen anderen haben die Hendersons nämlich Klasse.«

  Ich konnte nicht anders – ich musste lächeln. Kenzie hatte einfach Eier, das war ein Fakt. Obwohl sie nicht mit mir zusammen sein wollte, konnte sie offenbar auch nicht ertragen, dass man diesen Mist über mich erzählte. Nicht der Abschluss für diesen Sommer, den ich mir gewünscht hätte, aber es war der beste, den ich kriegen konnte.

  Mit dem Gedanken wandte ich mich ab, ohne noch einmal zu ihr zu sehen, und ging zurück zum Hotel. Ich war gerade an der dunkelsten Stelle des schmalen Pfades, der hinter dem Campingplatz entlangführte, als mich jemand ansprach.

  »Hey, Henderson. Ganz allein hier? Das ist aber nicht sehr schlau.«

  Langsam drehte ich mich um, vorsichtig, mit einem eiskalten Prickeln im Nacken. Alles in meinem Körper signalisierte Gefahr, Angst schoss mir in die Adern, genauso wie Adrenalin. Ich kannte den Menschen, der diese Worte sagte. Ich hatte ihn jedoch seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Und gehofft, ich würde ihn nie wieder zu Gesicht bekommen.

  »Sieht so aus, Freddie«, gab ich gespielt lässig zurück. »Du allerdings nicht. Habt ihr einen ruhigen Platz für ein Date gesucht?« Sie waren zu viert, das konnte ich trotz des Dunkels erkennen, vier stämmige Typen, die jetzt auf mich zukamen. Hau ab , riet mir mein Überlebensinstinkt, du bist nicht stärker als sie, aber garantiert schneller. Verschwinde!

  Ich wusste, es war der richtige Impuls. Trotzdem blieb ich wie angewurzelt stehen, nicht fähig, auch nur einen Schritt zu machen.

  »So sehen wir uns wieder, Lyall.« Freddie kam näher, bis er direkt vor mir stand. Wir waren gleich groß, aber ich konnte seine Augen nicht sehen – dazu war es zu dunkel. »Ich habe echt lange darauf gewartet.«

  Das konnte ich mir denken, genau wie den Grund, warum er hier war.

  »Was willst du?«, fragte ich dennoch.

  »Als ob du das nicht wüsstest«, antwortete er. »Schönen Gruß von meiner Schwester.«

  Dann schlug er zu. Direkt ins Gesicht.

  Der Schlag knockte mich fast aus, so heftig war er. Ich taumelte zurück, stieß gegen seine Mitstreiter. Sie hielten mich fest, während Freddie sich vor mir aufbaute und mir in die Rippen hieb, wieder und wieder. Ich konnte nur meine Muskeln anspannen, die Wucht der Schläge so gut wie möglich abfangen. Aber es war sinnlos. Ich wusste, es war vollkommen sinnlos.

  Die werden mich umbringen.

  Das war der letzte Gedanke, bevor mir jemand auf den Kopf schlug und ich zu Boden stürzte. Ich hatte ihren Schlägen und Tritten nichts mehr entgegenzusetzen, ich konnte mich nicht schützen.

  Und ich wusste eins: Sie würden erst zufrieden sein, wenn ich tot war.

  36

  Kenzie

  »Bitte beeilen Sie sich!« Ich legte auf, nachdem ich der Notrufzentrale gesagt hatte, wo ich war. Sie hatten mir versprochen, so schnell wie möglich zu kommen, aber dass wegen der Veranstaltungen in der Stadt viel los wäre und es etwas länger dauern könnte. Seit ich auf ihre Anweisungen hin festgestellt hatte, dass Lyalls Puls fühlbar war und er atmete, waren sie vorerst beruhigt. Aber das galt nicht für mich.

  »Lyall … verdammt, Lyall, bitte wach auf.« Zittrig drückte ich erneut meine Finger an seinen Hals und bemerkte erleichtert, dass sein Puls immer noch gegen meinen Daumen schlug. Seine Züge regten sich trotzdem nicht, egal wie sehr ich ihn anflehte, die Augen zu öffnen. Ich überlegte, Hilfe in der Nähe zu holen, aber ich wollte ihn nicht allein lassen.

  »Kenzie, bist du das?« Durch die Dunkelheit kam jemand angelaufen. Amy! Vor Erleichterung hätte ich beinahe aufgeschluchzt. »Was machst du hier?«, sie kam zum Stehen und schien zu erkennen, dass ich bei jemandem auf dem Boden hockte. »Was ist passiert?«

  »Ich habe keine Ahnung! Ich kam hier entlang, und da waren diese Typen, die ihn verprügelt haben! Ich konnte sie verscheuchen, aber er …«

  Amy ging neben Lyall auf die Knie und zog eine Taschenlampe von ihrem Gürtel. »Meine Güte«, murmelte sie, als sie das ganze Blut sah. »Das musste ja irgendwann passieren.« Dann brachte sie ihn innerhalb von Sekunden routiniert in die stabile Seitenlage und wandte sich zu mir um. »Hast du den Notruf gewählt?«

  »Ja, aber die habe
n wegen der Spiele so viel zu tun, dass sie zwanzig Minuten brauchen werden, bis sie hier sind.« Ich atmete ein. »Bitte tu irgendwas, Amy!« Schließlich studierte sie Medizin.

  Amy stieß die Luft aus. »Hier, mitten im dunklen Wald? Ohne irgendetwas an Ausrüstung?« Sie stand auf. »Er atmet selbstständig, er kann seine Zunge nicht verschlucken, das viele Blut kommt von einer Platzwunde an der Augenbraue, die sich schon schließt. Also sollten wir auf die Ambulanz warten. Zieh deinen Pullover aus.«

  Ich tat, was sie sagte, und sie schob meinen Pulli unter Lyalls Kopf, legte zusätzlich ihre eigene Jacke über seinen Körper. Da bewegte er sich plötzlich – und krümmte sich nur eine Sekunde später vor Schmerzen. Sein Fluch war jedoch laut und deutlich.

  Amy ging wieder neben ihm in die Hocke. »Nicht bewegen, der Krankenwagen ist gleich da.«

  »Nein«, stöhnte er, »kein Krankenwagen.«

  Amy und ich wechselten einen Blick im Schein ihrer Taschenlampe. »Können wir ihn erst mal ins Hotel bringen?«, fragte ich, denn ich konnte mir denken, warum Lyall nicht in das örtliche Krankenhaus wollte. Trotzdem musste ihn jemand untersuchen. Vielleicht hatten die Hendersons einen Privatarzt für solche Fälle an der Hand.

  »Ist das dein Ernst?« Amy sah zwischen uns hin und her, als frage sie sich, was da lief. Dann seufzte sie. »Okay. Ich hole Drew und Tamhas. Dann können wir ihn ins Hotel bringen und ich kann ihn genauer untersuchen.«

  »Drew?«, sagte ich erschrocken. »Er hasst ihn!«

  »Hast du eine bessere Idee?«, fuhr sie mich an. »Drew wird selbst Arzt, er hilft, wenn ich ihn darum bitte. Bleib du so lange bei Lyall.« Sie drückte mir ihre Lampe in die Hand, dann war sie auch schon in Richtung des Loch davongerannt.

  Ich fiel wieder auf die Knie und strich Lyall die blutverklebten Haare aus der Stirn. »Amy holt Hilfe«, sagte ich leise. »Wie schlimm sind deine Schmerzen?«

  Ein Ächzen drang an mein Ohr. »Nicht der Rede wert«, brachte er heraus.

 

‹ Prev