by Kiefer, Lena
38
Kenzie
Der Morgen kam mit Sonne und Erinnerungen, die mich alle auf einmal überfielen, als ich aufwachte und bemerkte, neben wem ich lag. Lyall schlief noch, und ich lächelte schief, als ich die geklammerte Wunde an der Braue sah. Sanft ließ ich meine Finger über seine Wange gleiten und atmete auf, als er die Augen öffnete.
»Hey, Miss Bennet«, murmelte er.
»Hey, Mister Darcy«, flüsterte ich. »Wie fühlst du dich?«
»Als hätte mich Lady de Burgh mit der Kutsche durch den Park geschleift.« Er bewegte probehalber die Schultern und verzog das Gesicht. »Aber keine Sorge, so schnell gehe ich nicht kaputt. Schon gar nicht, wenn es diese furchtlose Heldin gibt, die mich bei Bedarf rettet.«
Ich lächelte wieder und beugte mich vor, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu drücken. Dabei fiel mein Blick auf seine Armbanduhr, die auf dem Nachttisch lag. »Ich sollte gehen«, sagte ich leise. »Wir haben kurz nach sieben, jetzt schaffe ich es vielleicht noch aus dem Hotel, ohne dass mich jemand sieht.«
»Vergiss es, du gehst nirgendwohin.« Er schlang die Arme um mich. »Die Zimmermädchen sind längst da, und ich kann dich jederzeit rausschleusen, ohne dass es jemand merkt. Also bleib hier, okay? Ich bin verletzt, ich brauche Betreuung.«
»Brauchst du nicht.« Ich schmiegte mich trotzdem wieder an ihn. Nach gestern wusste ich, dass ich mich nicht von ihm fernhalten konnte. Aber die Bedrohung war deswegen nicht verschwunden. »Sicher, dass du nicht zu viel riskierst?«, fragte ich. »Ich will nicht, dass du gezwungen wirst, dich zwischen deiner Familie und mir entscheiden zu müssen.«
»Vielleicht ist es ein Risiko«, gab er ehrlich zu. »Aber ich werde schon einen Weg finden, wie ich die alte Hexe davon abhalten kann, mich in die Verbannung zu schicken. Und wenn ich ihren Fahrer William bitten muss, sie nach Alaska zu kutschieren und dort auszusetzen.« Er strich mir eine Haarsträhne zurück und fuhr mit dem Daumen über meine Unterlippe. Fast brachte er mich dazu, ihn zu küssen. Aber nur fast.
»Das klingt nicht nach einem guten Plan«, kommentierte ich seinen Scherz. Die Angst davor, was passieren könnte, wenn wir unvorsichtig waren, ließ sich nur schwer abschütteln.
»Fürs Erste habe ich nur den Plan, dich daran zu hindern, dieses Bett zu verlassen«, witzelte Lyall und berührte meine Wange. »Und wie du siehst, mache ich das richtig gut.«
»Sei nicht blöd.« Ich stieß ihn gegen die Schulter und fuhr erschrocken zurück, als er zusammenzuckte. »Mist, tut mir leid! Alles okay?«
»Alles super«, ächzte er und hatte mich in der nächsten Sekunde wieder in seinen Armen. »Kenzie, meine Zukunft ist meine Sache. Es ist schlimm genug, dass Edina dir die Verantwortung dafür aufgeladen hat. Ich will nicht, dass so was noch einmal passiert.« Er berührte mit seiner Nase meine. »Ich will dich nicht verlieren. Nie mehr.«
Ich sah ihn an und da war es plötzlich: ein tiefes, echtes Gefühl von absolutem Glück.
»Nie mehr?«, flüsterte ich.
»Nie mehr.« Lyall lächelte und küsste mich sanft, aber dann räusperte er sich und seine Haltung veränderte sich plötzlich. »Oder wie Mister Darcy sagen würde: Vergebens habe ich dagegen angekämpft. Es geht einfach nicht. Meine Gefühle lassen sich nicht unterdrücken. Sie müssen mir gestatten, Ihnen zu sagen, wie glühend ich Sie verehre und liebe.«
Ich bemühte mich, ernst zu bleiben, und straffte meine Schultern. »Ich weiß Ihr Ringen zu würdigen«, sagte ich dann hoheitsvoll. »Und wenn Sie durch mich Schmerzen erlitten haben, tut es mir leid. Es war nicht meine Absicht und geschah in Unwissenheit.«
Lyall runzelte die Stirn. »Das ist aber aus dem Film, oder?«
»Aus dem Theaterstück meiner Schwester«, gab ich grinsend zu und hätte ihn wohl noch einmal geboxt, wenn nicht der schillernde Bluterguss an seiner Schulter mich daran erinnert hätte, dass ihm das ernsthaft wehtun würde. »Nicht jeder von uns war in Eton, du Snob.«
»Glaub mir, da hast du nichts verpasst.« Lyall streichelte mich, dann lehnte er seine Stirn an meine und sein Gesicht wurde sehr ernst. »Vertraust du mir, Kenzie?«
»Voll und ganz«, antwortete ich ohne Zögern.
»Dann vertrau mir, dass ich das regeln werde. Ich bin gut in so was.« Er lehnte sich vor und küsste mich, und in den nächsten Minuten gab es absolut nichts zu sagen. Aber als ich draußen im Park Geräusche hörte, hielt ich inne und lehnte mich in die Kissen, ganz benebelt davon, dass wir uns tatsächlich wiederhatten.
»Woran denkst du?«, fragte Lyall.
»Daran, wie es jetzt weitergeht«, gab ich zu.
»Ich hätte da ein paar Ideen«, grinste er. »Aber falls du meinst, wie es nach heute Morgen weitergeht … warst du mal auf Bali?«
Ich schnaubte belustigt. »Nein, noch nie.«
»Willst du mal hin? Edina und ich wollten dort Urlaub machen, weil Mum mich gebeten hat vorbeizuschauen. Sie hat sicher nichts dagegen, wenn du auch mitkommst.«
»Bist du irre?« Erschrocken sah ich ihn an. »Ich kann nicht mit dir in den Urlaub fahren. Wenn das jemand aus deiner Familie mitkriegt!«
»Ich lasse Mum dir einfach ein Praktikum anbieten. Dann sind wir safe.« Lyall vergrub sein Gesicht an meinem Hals. »Komm schon, Miss Bennet«, murmelte er. »Lass uns eine Woche abhauen, an einen Ort, wo sich niemand für uns interessiert. Das Resort auf Bali liegt einsam am Meer und ist komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Außerdem können wir den ganzen Tag im Bett bleiben. Ich nehme sogar den Kilt mit, wenn du willst.«
»Wie könnte ich da Nein sagen?« Ich lachte und war plötzlich aufgeregt, als mir klar wurde, dass er das tatsächlich ernst meinte. Und immer, wenn ich aufgeregt war, verfiel ich in Aktionismus. »Ich müsste nur ein paar Sachen holen, Drew wegen Loki Bescheid geben und Paula eine Nachricht schicken, ob sie mir auch eine Bescheinigung gibt, wenn ich eine Woche eher verschwinde. Am besten mache ich das direkt jetzt.« Ich schlüpfte unter der Decke hervor und wollte aufstehen, da zog mich Lyall wieder zurück ins Bett.
»Eine Minute noch«, raunte er leise.
Dann küsste er mich erneut, und ich spürte sofort, dass keiner von uns es länger schaffte, sich zurückzuhalten – oder das, was in uns nacheinander verlangte. Lyalls Hände fuhren durch meine Haare, meinen Nacken, ich öffnete meine Lippen für ihn und er ließ sich nicht zweimal bitten. Ich strich über seinen Oberkörper, berührte dabei seine lädierte Schulter … und er konnte das schmerzhafte Keuchen nicht unterdrücken.
Sofort hielt ich inne.
»Hey, stopp, du bist verletzt. Wir sollten nicht …« Ich ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen, während allein sein Körper, den ich deutlich spürte, meine Vernunft ernsthaft ins Wanken brachte.
»Doch, sollten wir«, sagte er rau. »Sollten wir unbedingt.« Er beugte sich vor und küsste mich wieder, diesmal tief und fordernd, sodass ich kaum noch widerstehen konnte.
Es ist so unvernünftig.
Das war mein erster Gedanke.
Aber so verdammt gut.
Das war der zweite und letzte.
In den Highlands waren wir hastig gewesen und ungeduldig, und auch diesmal zitterten meine Hände vor unterdrücktem Verlangen, weil ich Lyall zwei lange Wochen nicht auf diese Art hatte nah sein dürfen. Aber ich ließ mir dennoch Zeit, um jeden Zentimeter seiner Haut zu berühren, jeden Muskel unter meinen Fingern zu spüren, jede seiner Reaktionen in mich aufzunehmen. Nicht nur, weil ich ihm nicht wehtun wollte. Sondern weil ich mir vorgenommen hatte, das hier bis zum Letzten auszukosten.
Er atmete scharf ein, als ich versehentlich eine Stelle berührte, die gestern etwas abbekommen haben musste.
»Entschuldige«, flüsterte ich und küsste als Wiedergutmachung sein Schlüsselbein.
»Halb so wild«, murmelte er. Dann griff er nach dem Saum meines Shirts und schob es quälend langsam nach oben, während er mich ansah, in seinem Blick nichts außer der Gewissheit, dass er mich wollte. Jeder Kontakt seiner Finger mit meiner Haut schickte Schauer in die Mitte meines Körpers, wo sich bereits so viel Hitze gesammelt hatte, dass ich glaubte, eine weitere Berührung würde mich explodieren lassen. Also befreite ich u
ns von allem lästigen Stoff, der noch übrig war, ließ meine Finger über Lyalls nackte Haut nach unten wandern und sah ihm tief in die Augen, als er unter meiner Hand aufkeuchte.
Lange ließ er mich jedoch nicht gewähren. In der nächsten Sekunde war er über mir und stützte sich mit seinen Armen neben mir ab. Ich liebte diese Position, weil die Aussicht unbezahlbar war. Aber ich erkannte in Lyalls Gesicht, dass der Schmerz in seiner Schulter es fast unmöglich machte, sich so zu halten.
»Hey«, flüsterte ich dicht an seinen Lippen und schob ihn von mir, damit er sich auf den Rücken legte. »Lass mich mal.« Ich glitt rittlings auf ihn, strich mit den Händen über seinen Oberkörper und genoss den Blick, mit dem Lyall mich bedachte, diese Mischung aus rohem Verlangen und hingebungsvoller Sehnsucht.
Er zog mich zu sich herunter, holte nebenbei irgendwoher ein Kondom, und ich konnte es kaum erwarten, endlich wieder zu spüren, wie es war, wenn uns nichts mehr voneinander trennte. Und dann senkte ich mich auf ihn, bestimmte unseren Takt, und sorgte schließlich dafür, dass Lyall meinen Namen auf eine Art ausstieß, als hätte ich es in der Hand, ihn endgültig zu retten oder zu zerstören.
Dabei war die Entscheidung darüber doch längst gefallen.
39
Kenzie
Der Tag war irgendwie heller als alle anderen in der letzten Zeit, als ich eine Stunde später aus dem Personaleingang trat und den Weg hinunter in den Park nahm. Passend zu diesem mehr als nur perfekten Morgen begegnete ich niemandem aus Lyalls Familie, und das Personal interessierte sich nicht für mich – ich war schließlich in den letzten Wochen oft genug bei Mister Adair gewesen, um ihn wegen der Werkstatt etwas zu fragen. Also lief ich nicht nur beschwingt, sondern auch vollkommen unbehelligt durch den Park in Richtung Campingplatz. Im Kopf ging ich bereits durch, was ich alles mitnehmen musste für einen Trip nach Bali. Wahrscheinlich brauchte ich nur die kurzen Klamotten, meinen Badkram, vielleicht die zusätzlichen Sandalen … aber wieso eigentlich, wenn Lyall und ich das Bett doch gar nicht verlassen wollten? Bei dem Gedanken daran grinste ich breit. Wie glücklich konnte man wohl sein, bevor man ausflippte?
Ich war gerade am Zaun, als mein Handy klingelte. Umständlich schälte ich es aus der Rocktasche und sah Anonym auf dem Display stehen. Dennoch ging ich dran, vielleicht war es etwas Wichtiges.
»Hallo?«
»Spreche ich mit Kenzie Stayton?« Es war eine weibliche Stimme, nicht jung, aber auch nicht zu alt, die mich das fragte.
»Ja, das bin ich.« Ich klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter, um über den Zaun zu klettern, in Gedanken nur bei Lyall. Brauchte ich Sonnencreme oder gab es im Hotel welche? Hatte ich überhaupt eine Reisetasche im Camper? Eigentlich lud ich ja alles direkt ein. Aber irgendwo musste noch mein Rucksack sein …
»Die Kenzie Stayton, die gestern Abend verhindert hat, dass Lyall Henderson zusammengeschlagen wurde?«
Ich sprang vom Zaun und blieb stehen. Woher wusste sie das? »Wer sind Sie?«
»Jemand, der dich warnen möchte. Dein Freund ist nicht das, was er zu sein vorgibt. Und du tust gut daran, ihm nicht zu vertrauen, ganz egal, was er dir über sich erzählt.«
»Hören Sie«, sagte ich höflich, obwohl ich eigentlich total genervt war. »Ich verstehe, dass Sie denken, Sie müssten mich beschützen. Jeder in Kilmore denkt das. Aber ich versichere Ihnen, es ist nicht nötig. Ich weiß, wer Lyall ist. Und ich vertraue ihm vollkommen.«
»Dann sagt er dir also immer die Wahrheit? Über alles?«
Ich hätte auflegen sollen, weil es langsam wirklich bescheuert wurde. »Es geht Sie absolut nichts an, aber ja, er sagt mir die Wahrheit. Über alles.«
»Auch über Ada Warner?«
»Auch darüber«, beharrte ich, obwohl sich meine Nackenhaare aufstellten, als ich den Namen hörte. Er wurde voller Schmerz und Wut ausgesprochen, als hätte diese Frau am anderen Ende Ada sehr gut gekannt. »Ich weiß, was mit ihr passiert ist. Und es tut mir wirklich leid, dass sie spurlos verschwunden ist. Es muss furchtbar für alle sein, denen sie etwas bedeutet hat. Aber Lyall ist nicht daran schuld.«
»Dann hat er es dir also nicht gesagt«, stellte die Frau fest, und sie klang dabei nicht mehr wütend, sondern nur noch traurig.
Mein Überlebensinstinkt riet mir, das Gespräch zu beenden und so schnell wie möglich zu vergessen, dass sie mich angerufen hatte. Aber ich tat es nicht.
»Was meinen Sie?«, hörte ich mich stattdessen sagen.
»Ada ist nicht verschwunden … Sie ist tot . Meine Tochter ist tot. Und Lyall Henderson ist der Grund dafür.«
Tot? Kälte kroch mir in den Nacken, und ich fröstelte, obwohl es so ein warmer Tag war. Mein Hals war plötzlich sehr trocken, und ich musste schmerzhaft schlucken, weil ich das Gefühl hatte, ich könnte sonst nicht weiteratmen. »Sie ist tot?«, fragte ich so leise, dass man mich vermutlich kaum verstand.
»Sie starb am 24. August. Im Sommer vor drei Jahren.«
»Wie?«, flüsterte ich. Die Möglichkeiten, die mir durch den Kopf schossen, waren ebenso grausam wie vielfältig. Nein , sagte ich mir. Lyall hatte damit nichts zu tun . Wenn er daran irgendeinen Anteil gehabt hätte, dann wüsste ich das. Alle wüssten es.
»Sie hat … sich die Pulsadern aufgeschnitten«, sagte die Frau am anderen Ende und ihre Stimme brach. »In einem Waldstück ganz in der Nähe von Kilmore. Das Gelände gehört zum Hotel. Moira Henderson hat sie morgens bei einer ihrer Laufrunden gefunden.«
»Großer Gott …« Ada hatte sich umgebracht? Ich presste die Hand auf den Mund und fühlte mich in die Vergangenheit zurückversetzt. Plötzlich war ich wieder 14 Jahre alt und stand auf einer Eisenbahnbrücke im Wald von Wycombe, einen Fuß in der Luft, nicht sicher, ob ich mit der Verzweiflung in meinem Herzen weiterleben konnte. »Das tut mir sehr leid«, brachte ich erstickt hervor. »Es muss schrecklich für Sie sein.«
Sie stieß einen Laut aus, der so viel Kummer beinhaltete, dass er mir direkt in den Magen fuhr. »Viel schlimmer fühlt es sich an, wenn man weiß, dass der Schuldige sein Leben weiterlebt, als wäre nichts gewesen. Sich amüsiert, als wäre er nicht verantwortlich dafür, dass sie tot ist. Als hätte er sie nicht dazu aufgefordert.«
Aufgefordert?
»Das würde er nie tun«, sagte ich leise. Eine unbestimmte Angst griff nach mir. Er hat dich eiskalt angelogen, hat behauptet, Ada sei einfach nur verschwunden, dabei ist sie tot. Warum hat er das getan, wenn er unschuldig ist? Was hat er damit zu tun?
»Ja, es passt nicht, oder?«, sagte Adas Mutter bitter. »Zu dem gut aussehenden, intelligenten Jungen aus reichem Hause. Aber er hat es getan. Weil es ihm nicht gereicht hat, sich von ihr zu trennen. Er wollte sie loswerden. Für immer.«
Ich hielt den Atem an und fand keine Antwort.
Aber sie wollte auch keine. »Falls du mir nicht glauben willst: Ich schicke dir eine Datei, eine Aufnahme des letzten Telefonats zwischen beiden, bevor Ada eine halbe Stunde später … bevor sie es getan hat. Dann wirst du alles verstehen. Sieh zu, dass du verschwindest, Kenzie, bevor es zu spät ist. Du hast keine Ahnung, wer er ist. Wozu er fähig ist. Meine Tochter war ein wunderbares Mädchen und er hat sie zerstört. Ich will nicht, dass dir das Gleiche passiert.«
Damit legte sie auf, aber ich blieb trotzdem, wo ich war. Mein Kopf versuchte das Gespräch zu verarbeiten, scheiterte jedoch kläglich. Ada war tot und ich hatte es nicht gewusst. Ich hatte nichts gewusst. Was bedeutete das? Für mich, für Lyall? Für uns ? Immer noch unter Schock drehte ich mich um und sah zum Hotel, zu dem Fenster, das zu Lyalls Suite gehörte. Der Suite, in der er darauf wartete, dass ich zurückkam. Ohne zu wissen, mit wem ich gesprochen und was sie mir erzählt hatte. Sagte Adas Mutter die Wahrheit oder war das alles ein abgekartetes Spiel? Warum sollte sie lügen? , fragte etwas in mir. Sie hat keinen Grund dazu. Lyall schon.
Eine Mitteilung erschien auf meinem Telefon, es war eine Textnachricht mit Dateianhang. Ich riss mich aus meiner Starre und lief los, rannte förmlich zu meinem Camper, stürzte hinein und schloss hinter mir ab. Dann sank ich schwer atmend auf Lokis Sitzbank und legte das Handy auf den Tisch, brachte es aber nicht fertig, die Datei anzuklicken.
Noch hatte ich die Wahl. Ich konnte sie löschen, mit Lyall über das Telefonat reden, ihn fragen, warum er mich angelogen hatte. Ihn nach seiner Version der Geschichte fragen. Aber würde er mich dann nicht wieder anlügen? Er hatte behauptet, Ada wäre verschwunden. Er hatte gesagt, er hätte nicht mehr mit ihr geredet, nachdem sie weggelaufen war …
Nein, ich musste das hören. Ich musste die Wahrheit kennen. Vielleicht klärte es ja auch alles auf. Damit ich danach meine Sachen packen und mit Lyall nach Bali fliegen konnte. Und das hier vergessen.
Ich holte tief Luft und drückte mit klammen Fingern auf den Startbutton der Audiodatei. Es war kurz still, dann hörte ich eine unbekannte Stimme, die Ada gehören musste. Sie klang jung, nach den siebzehn oder achtzehn Jahren, die sie gewesen war, und sehr verzweifelt.
»Lyall, bitte, hör mir zu –«, flehte sie, wurde jedoch unterbrochen.
»Ich will dir nicht zuhören, Ada!« Lyall klang ebenfalls etwas jünger, aber so hart und abweisend, dass mein Frösteln zurückkam. »Ich will nicht hören, was du für Gründe hast, was für Erklärungen. Ich will einfach nur, dass Schluss ist, okay?«
Sie begann zu weinen, aber das konnte ihn nicht erweichen. Es machte ihn nur noch wütender.
»Hör auf zu heulen, Herrgott!«, schnauzte er sie an. Ich zuckte zusammen. Mit dem mitfühlenden Mann, der mich getröstet hatte, als ich wegen meiner Mutter verzweifelt gewesen war, hatte dieser Lyall nichts gemeinsam. Er erinnerte mich vielmehr an den Typen, der Drew in Edinburgh gedroht hatte. Der keine Skrupel hatte, alles zu tun, um seine Geheimnisse zu bewahren. »Heulen ist emotionale Erpressung, verdammt!«
»Können wir uns nicht treffen?«, bettelte Ada weiter. »Ich bin unten am Loch –«
»Ich will dich nicht sehen. Und außerdem bin ich beschäftigt.« Lyall ließ es so zweideutig klingen, wie sie es dann auch auffasste.
»Mit wem?«, presste sie hervor.
»Kennst du nicht«, gab er zurück. »Ich lege jetzt auf. Ruf mich nicht mehr an.«
»Nein, bitte leg nicht auf, bitte … Lyall, ich liebe dich!«, versuchte sie es ein letztes Mal. »Ich weiß, es gibt Dinge, die nicht gut gelaufen sind, aber ich mache es wieder gut, okay? Ich schwöre dir, ich mache es wieder gut. Ich liebe dich doch, ich –«