by L.J. Shen
»Ich stimme dir zu, Schwesterherz.« Emilia nippte an ihrem Glas. »Trent ist zu Recht wütend.«
»Und verletzt«, fügte Rosie hinzu.
»Ein Grund mehr, darauf zu hoffen, dass die Frau, die seine Welt aus den Angeln gehoben hat, zurückkommt und mit ihm Schadensbegrenzung betreibt.« Mel schenkte sich ihr drittes Glas Wein ein.
Ich versuchte, mir einzureden, dass sie betrunken war, dass sie falschlag, sich völlig auf dem Holzweg befand. Doch tief im Innersten rührte sie an meine schlimmsten Befürchtungen. Mel war an der Highschool Trents Lehrerin gewesen. Sie kannte ihn – wahrscheinlich sogar besser als die anderen Anwesenden, mich eingeschlossen.
Den Rest des Tages wünschte ich mir, weit weg zu sein, bei Theo, wo Männer kein Thema waren. Da meine Lippen noch immer von Trents Kuss brannten, fischte ich einen Eiswürfel aus meiner Limonade und drückte ihn dagegen, während ich meine Gedanken zu ordnen versuchte.
Trent Rexroth war mehr als nur ein Schwarm. Wenn ich mich nicht vorsah, würde er mir das Herz brechen.
Die Menschen neigen zur Melodramatik. Darum glaube ich es nie, wenn jemand prophezeit, dass etwas Schlimmes eintreten wird. Kaum dass ich an jenem Samstagabend meine Haustür öffnete, wurde ich eines Besseren belehrt, als ein ungutes Gefühl von mir Besitz ergriff. Wie sich herausstellte, hatte das Unheil einen Geruch, und zwar nach teurem Alkohol, abgestandenem Zigarettenrauch und Chanel N° 5.
Mein Blick war zu Boden gesenkt, als ginge ich zu meiner Hinrichtung. Ich verstand nicht, warum, aber mit jedem Schritt, der mich der Küche näher brachte, verstärkte sich meine Furcht. Alles wirkte unverändert. Die Wände waren noch immer in einem trendigen Hellgrau gestrichen, die französischen Möbel hell und wuchtig, die mit cremefarbener Seide bezogenen Sofas kosteten immer noch hundert Riesen pro Stück und die Gemälde an den Wänden mehr, als der Normalbürger sich je auf seinem Konto erträumen konnte.
Ein gurgelndes Geräusch kam aus der Küche, und ich erstarrte.
Es ist nichts. Du hast nichts gehört. Geh weiter.
Noch ein Schritt und noch einer. Ich wollte mich wie ein Feigling in mein Zimmer verdrücken und mich nicht darum kümmern. Nicht noch einmal. Es durfte nicht wieder passiert sein. Was sagte es über mich aus, dass ich befürchtete, das Leben meiner Mutter könnte in Gefahr sein, und nichts weiter tun wollte, als mein Gesicht im Kissen zu vergraben und den heutigen Tag Revue passieren zu lassen? Besonders den Teil, in dem Trent seine eigenen Regeln über den Haufen geworfen und mich geküsst hatte, als hätte er nie köstlichere Lippen geschmeckt? Ich kannte die Antwort. Es war ein sehr schlechter Zug. Ein unverzeihlicher sogar.
»Khhstttt, ehhss, pppfff.« Das Gurgeln hielt an. Es war kein Küchengerät, kein Auswuchs meiner kranken Fantasie. Ich ließ meinen Rucksack fallen und stürmte in die Küche. Das Haar fiel mir ins Gesicht, als wollte es mich schützen, und ich blies es zur Seite, keuchte atemlos »Nein, nein, nein«.
Meine Mutter kauerte auf dem Fußboden. Warum wählte sie dafür immer die Küche und nie ihr Badezimmer? Wieso brauchte sie immer ein Publikum? Schaum stand ihr vor dem Mund. Auf dem Tisch waren Dutzende leere Arzneifläschchen, um die sich ein buntes Sammelsurium an Tabletten verteilte, wie die traurigen Überreste der Fallschirmchen einer Pusteblume. Daneben lagen die bereits von meinem Vater unterzeichneten Scheidungspapiere. »Scheiße!« Ich stieß zischend die Luft aus und rannte zu ihr.
Jesus, Maria und Josef! Jordan war hier und hat es ihr gesagt.
Ich rollte sie auf die Seite, legte die Hand auf ihre Wange und starrte in ihre blicklosen Augen.
»Wie viele hast du genommen?«
Sie schüttelte den Kopf, gab keine Antwort. Ihre Teilnahmslosigkeit kam daher, dass sie halb komatös war. Mit zitternden Händen zog ich mein Handy hervor.
Ich dachte nicht länger an das niedliche Mädchen, das mir sein Herz geschenkt hatte, und auch nicht an seinen Vater und unsere heimlichen Küsse. Nicht an den Spaß mit Rosie und Emilia oder an die angeschickerte, aber harmlose Mel. Das hier war mein reales Leben, und ich hätte mir nicht die Freiheit nehmen dürfen, das auch nur für eine Sekunde zu vergessen.
Meine Mutter verkrampfte sich würgend, aber es kam nur noch mehr Schaum aus ihrem Mund.
»Du musst erbrechen, du musst erbrechen«, wiederholte ich dumpf. Beim letzten Mal, ich war damals erst zwölf, hatte ich ihr meinen Finger in den Hals gesteckt. Ich hoffte inständig, dass das eine einmalige Angelegenheit gewesen war. Ihre Augen rollten in den Höhlen. In mir stieg neuerlicher Zorn auf die ganze Welt auf. Mein Handy zwischen mein Ohr und meine Schulter geklemmt, bugsierte ich meine Mutter auf die Knie und schob ihr einen Finger in die Kehle, doch es kam nichts.
»Wie lange ist es her?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass das müßig war. Sie konnte nicht antworten, war kaum bei Bewusstsein. Nicht wie beim letzten Mal. Großer Gott, Mom.
»Bitte, Mom, ich flehe dich an. Versuch zu erbrechen. Bitte.« Ich wusste nicht, was stärker bebte, meine Stimme oder meine Hände. Beides war außer Kontrolle, meine Selbstbeherrschung drohte mir zu entgleiten.
Liebte sie mich denn nicht?
War ich ihr egal?
Wieder und wieder schob ich ihr den Finger in den Hals, aber sie zitterte nur wie ein Blatt im Wind, hatte einen Krampfanfall. Endlich nahm jemand ab.
»Neun-eins-eins. Um welche Art Notfall handelt es sich?«
Ich brach in Tränen aus und nannte der Frau die Adresse. Sie ließ sich die Details geben und schickte sofort Hilfe. Nicht einmal der verdammte Rettungsdienst konnte es erwarten, sich meiner Mutter zu entledigen.
KAPITEL 24
TRENT
»Meine Mutter hat versucht, sich das Leben zu nehmen.«
Ich bekam die Worte nicht aus dem Kopf, als ich in Richtung Saint John’s Hospital die Straßen von Todos Santos entlangjagte. Mir war durchaus klar, was es bedeutete, dass ich an ihre Seite eilte, schließlich war ich kein Idiot. Ihr Vater würde vermutlich dort sein. Das will ich ihm zumindest geraten haben, dachte ich grimmig. Ich war der Erste, den sie benachrichtigt hatte, und ich würde meinem Besuch kein Zeitlimit setzen. Gleich nach dem Telefonat hatte ich Luna zu Camila gebracht – ich wollte die beiden nicht in meinem Penthouse lassen, für den Fall, dass Edie dort übernachten würde – und ihnen gesagt, dass ich eine persönliche Angelegenheit regeln müsse und Bescheid geben würde, sobald ich zurück wäre.
Die arme Edie.
Die arme bedauernswerte Edie.
Während die Mutter meiner Tochter jeder Verantwortung tunlichst aus dem Weg ging, versuchte Edie, für ihr gesamtes Umfeld da zu sein, dabei zerrann ihr ihre Jugend zwischen den Fingern. Ich schämte mich zutiefst, weil ich so schlecht von ihr gedacht hatte. Dass sie ein verzogener Fratz sei, der nur wegen des Nervenkitzels beziehungsweise aus Niedertracht Leute bestahl. Aber sie war keine verwöhnte Göre. Sie kümmerte sich um ihre schwerkranke Mutter und wurde allem Anschein nach außerdem von ihrem Vater erpresst.
Hastig parkte ich den Wagen und rief Edie auf ihrem Handy an. Beim dritten Klingeln ging sie ran, und mir explodierte schier das Herz in der Brust. Es entbehrte nicht der Ironie, dass ich mich bei unserer ersten Begegnung an ihrer Schwäche geweidet hatte und jetzt verzweifelt hoffte, sie besinne sich auf ihre Kraft, um das hier zu überstehen.
»Vierter Stock. Zimmer 412«, flüsterte sie, wie um ihre Mutter nicht zu stören. Der Weg zu ihr kam mir vor wie der längste meines Lebens. Die blassblauen Wände und die erschöpften aufmunternden Blicke des Klinikpersonals zehrten an meinen Nerven, denn sie riefen Erinnerungen wach, die ich lieber vergessen wollte.
»Das Bein ist gebrochen. Damit hat sich dein College-Stipendium erledigt, Trent.«
»Herzlichen Glückwunsch. Es ist ein Mädchen. Die Mutter wird in Kürze die Geburtsurkunde unterzeichnen. Hoffen wir mal, dass sie dem Kind deinen Nachnamen gibt, hm?«
»Ihr fehlt nichts. Mit ihrer Stimme ist alles in Ordnung. Luna ist nur … nun ja. Jedenfalls weiß ich von einer ausgezeichneten Kinderpsychologin.«
 
; Ich blieb vor Zimmer 412 stehen, presste die Handfläche auf das kühle Holz und schloss die Augen. Inzwischen machte ich mir keine Gedanken mehr wegen Jordan. Sollte er hier sein und mir Fragen stellen, wie zum Beispiel, warum zum Teufel Edie mich benachrichtigt hatte, würde ich ehrlich antworten. Möglichst leise pochte ich dreimal an die Tür, dann drehte ich mich um und schritt im Flur auf und ab.
Zehn Sekunden später kam Edie heraus. Sie trug noch immer das geblümte #SunChaser-Tanktop und die burgunderroten Hotpants, die sämtliche Männer auf der Party zum Sabbern gebracht hatten. Trotzdem sah sie nicht mehr aus wie Edie, sondern wie eine zehn Jahre ältere Ausgabe ihrer selbst. Pikanterweise wie eine Frau, bei der ich keine solchen Skrupel hätte, mit ihr zu schlafen.
»He, du«, sagte ich mit sanfter Stimme. Ich wusste nicht, was ich mit meinen Händen, meinem Gesicht, mit mir im Ganzen anstellen sollte, darum ging ich zu ihr und drückte sie unbeholfen an mich, und zum Glück erwiderte sie die Umarmung. So verharrten wir vor dem Krankenhauszimmer ihrer Mutter. Ich starrte auf die kahle Tür, sie auf ein belangloses Gemälde hinter mir, das wahrscheinlich irgendein reicher Bonze gespendet hatte. Ihre Schultern waren so zart; ihre Seele ebenso. Die Zeit stand still, genau wie wir. Erst nach einer Weile löste Edie sich von mir und senkte den Blick auf den Boden.
»Ist sie über den Berg?« War es schäbig von mir, dass es mich nicht wirklich kümmerte? Der einzige Mensch, der mich derzeit interessierte, war Edie, und ich wusste nicht zu sagen, ob es gut oder schlecht für sie wäre, wenn ihre Mutter sich erholte. Sie blies sich eine Locke aus dem Gesicht und spähte in den fast leeren Gang hinter uns. Eine Krankenschwester stand träge über einen ovalen Empfangstisch gebeugt. Telefone klingelten. Ein Arzt notierte etwas auf einem Whiteboard.
Edie schien auf jemanden zu warten. Aller Voraussicht nach auf ihren gottverfluchten Vater.
»Ich weiß es nicht. Ihr Zustand ist mittlerweile stabil, aber …« Sie rieb sich resigniert übers Gesicht und schüttelte den Kopf. Ich wollte ihr ihren Schmerz abnehmen, ihn zu meinem eigenen machen. »Aber sie liegt im Koma, Trent. Ihre lebenswichtigen Organe funktionieren, trotzdem kommt sie nicht zu Bewusstsein.« Ihr Kinn zitterte, in ihren Augen glänzten Tränen. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, ob ich es ihm sagen soll …«
»Du hast deinen Vater noch nicht informiert?« Ich gab dem Drang, sie zu berühren, nach, indem ich ihren Arm streichelte und sie sacht an mich schmiegte. Edie schüttelte schniefend den Kopf und warf abermals einen Blick in den Flur.
»Lass uns irgendwo anders reden. Mir steht vermutlich eine lange Nacht bevor, und ich muss Kraft tanken.«
»Wie wär’s mit einem Kaffee?«, fragte ich.
»Lieber ein Kokoswasser.« Beinahe hätte sie gelächelt.
Wir suchten die auf derselben Etage gelegene Cafeteria auf. Ich holte Edie ihr Kokoswasser und mir einen Kaffee. Wir setzten uns an ein Fenster mit Blick auf unsere kleine sündhafte Stadt. Sie starrte auf ihr Getränk, rührte es mithilfe eines Strohhalms um.
»Ich habe ihm Bescheid gegeben, obwohl sich das eigentlich erübrigt. Es ist allein seine Schuld. Während wir bei dem Grillfest waren, ist er ohne jede Vorwarnung zu Hause aufgekreuzt, um ihr mitzuteilen, dass er die Scheidung will. Meine Mom … Es war nicht ihr erster Selbstmordversuch. Jedenfalls habe ich meinem Vater eine Nachricht geschickt. Er hat bisher nicht geantwortet, und ich rechne auch nicht mehr damit. Nachdem sie sich vor acht Jahren die Pulsadern aufgeschnitten hatte, war ich der einzige Mensch, der ihr zur Seite stand, und es ist nicht zu erwarten, dass sich daran ausgerechnet jetzt, wo er sie verlassen will, etwas ändert.«
Dieser Wichser Van Der Zee. Es sah ihm ähnlich, eine solche Scheißnummer abzuziehen. Sich von seiner so offenkundig kranken Frau zu trennen und es seiner bedauernswerten Tochter zu überlassen, die Scherben einzusammeln. Mein Adamsapfel bewegte sich auf und ab, als ich schluckte. »Es tut mir so leid.«
»Ist schon gut.« Sie zog die Nase kraus. »Im Ernst. Ich bin nicht einmal enttäuscht. Wenigstens nicht von ihm. Aber es wäre nett von ihr gewesen, mich wenigstens anzurufen, bevor sie versuchte, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Meine Mom ist kein schlechter Mensch. Sie hat nur seelische Probleme. Trotzdem brauche ich sie immer noch. Jeder braucht eine Mutter.«
Offenbar verzog ich gequält das Gesicht, weil sie sich nämlich auf die Unterlippe biss und sich mit der Hand auf die Stirn schlug. »Gott, was für eine blöde Aussage. Sorry.«
»Du musst dich nicht entschuldigen. Weil du recht hast. Jeder braucht eine Mutter. Auch meine Tochter. Sie vielleicht sogar in besonderem Maß.« Doch ich wollte nicht über Luna sprechen. Wieder überkam mich das heftige Bedürfnis, Edie zu berühren. Meine Hand glitt von meinem Schenkel zu ihrem Knie und drückte es sanft. Nicht aufreizend, sondern Trost spendend.
»Als du sagtest, du wüsstest nicht, ob du ihm Bescheid geben sollst, da meintest du nicht Jordan.«
Behutsam drehte sie meine Handfläche nach oben und verschränkte ihre zarten hellen Finger mit meinen mokkafarbenen. Wie gebannt starrten wir auf unsere Hände. Draußen ging der Tag zur Neige, das Gleiche galt für meine Bereitschaft, das mit uns als eine flüchtige Affäre abzutun.
Denn das war es von Anfang an nicht gewesen.
Es war ein verdammtes Desaster, und ich sollte der Sache ein Ende machen, bevor sie mir ein Ende machte, aber wie denn, solange ihre Mutter im Koma lag und sie meine Hand hielt, als wäre ich ihr Freund, ihr Geliebter !
Als ich aufsah, stellte ich fest, dass sie nicht mehr weinte. Ihre Züge waren von Hass gezeichnet, ihre Kiefer verkrampft.
»Ich sprach von Theo«, antwortete sie.
»Theo?« Ich hatte den Eindruck, diesen Namen schon einmal gehört zu haben, allerdings erinnerte ich mich nicht, wann oder wo. Natürlich gab es Theos wie Sand am Meer, trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, über den Theo, den sie meinte, schon einmal gestolpert zu sein.
»Ja. Mein Bruder. Er wurde geboren, als ich sechs war – inzwischen ist er zwölf. Es gab damals Komplikationen. Bei meiner Mutter wurden zweimal die Wehen eingeleitet. Die Nabelschnur hatte sich um seinen Hals gewickelt, aber ihre Wehen waren schon zu stark für einen Kaiserschnitt. Seine Sauerstoffzufuhr war lange abgeschnitten.« Sie räusperte sich und zog angesichts der Erinnerung die Brauen zusammen.
»Ich weiß noch, wie ich meine Mutter fragte, wieso er so komisch aussehe. Erst danach erfuhren wir von all seinen Problemen. Mein Vater ist durchgedreht. Er war damals leitender Angestellter in irgendeinem elitären Unternehmen und arbeitete wie besessen an seinem Image. Er wollte nicht, dass diese Tragödie auf seine Karriere und seine perfekte kleine Familie abfärbte. Er bekam das Angebot, eine Niederlassung in Holland zu eröffnen, und nahm an, wenn auch mit dem vorrangigen Ziel, Theo zu verstecken. Mein Bruder leidet an Autismus, Epilepsie und Zerebralparese. Er ist … anders. Extrem anders.« Sie lachte auf, und ihr Blick wurde weich, als ob es sie tröstete, über ihn zu reden. »Aber er ist außerdem auch klug. Und freundlich. Und unendlich tapfer. Er ist geduldig und bescheiden, und wenn ich ihn besuche, strahlt er mich an, als wäre ich das Beste auf der Welt. Er beklagt sich nie darüber, dass meine Eltern sich nicht blicken lassen. Er jammert nicht über sein Schicksal, das Leben, das er führt. Darum beschütze ich ihn. Mit aller Macht.«
Meine mit ihrer verschlungene Hand fühlte sich verschwitzt an, trotzdem entzog ich sie ihr nicht. Ich wollte mehr erfahren.
»Wo lebt dein Bruder?«
»In einem speziellen Gruppenwohnheim in San Diego. Es ist eine fantastische Einrichtung, aber schier unbezahlbar. Mein Vater wollte ihn weit wegschicken, irgendwo an die Ostküste, um ihn nicht in der Nähe zu haben. Die Betreuer ermutigen die Familien zu regelmäßigen Besuchen und Mitwirkung, aber mein Vater lehnt das ab. Soviel ich weiß, hat er ihn seit Jahren nicht besucht. Meine Mutter fährt jedes Weihnachten hin, um Hallo zu sagen und ihm ein Geschenk vorbeizubringen. Aber damit Theo dortbleiben darf, haben Jordan und ich vereinbart, dass ich für die Hälfte der monatlichen Kosten aufkomme. Andernfalls wird er ihn mir wegnehmen.«
> Ich schnaubte. »Das muss ein Vermögen sein.«
Sie nickte. »Zwölftausend Dollar.«
»Wieso tut er das? Er hat genug Kohle, um einen Krieg gegen Kanada vom Zaun zu brechen. Und ihn vermutlich zu gewinnen.«
»Um zu sehen, wie ich mich abstrample. Und scheitere. Aus allen möglichen Gründen. Seit ihm klar geworden ist, dass ich meinen Bruder nicht aufgeben werde, sondern ihn jede Woche besuche und ihn dadurch in unsere Familie integriere, begegnet Jordan mir voller Bitterkeit. Er kann einfach nicht begreifen, wieso ich darauf bestehe, in Todos Santos zu bleiben, anstatt ein renommiertes College zu besuchen.«
»Und deine Mutter?«
»Sie ist zu schwach, um Jordan Paroli zu bieten, zu fragil, um sich um Theo und seine Bedürfnisse zu kümmern. Das erste Mal, als sie versucht hat, sich das Leben zu nehmen …« Edie zögerte, sie stützte die Ellbogen auf ihren Knien auf und vergrub das Gesicht in den Händen. »Es war, kurz nachdem mein Vater ihn in dieser Einrichtung untergebracht hatte. Sie wollte ihren Sohn in ihrer Nähe behalten, sich weiter selbst um ihn kümmern. Doch das nagte zunehmend an ihren Kräften. Sie wäre gern eine gute Mutter gewesen, aber es war ihr nicht gegeben.«
Ich sann kurz darüber nach, ob das auch bei Val der Fall war. Ob sie Luna gern eine bessere Mutter gewesen wäre, es jedoch nicht fertiggebracht und darum beschlossen hatte, sich aus dem Staub zu machen. Ich hob ihre Hand an meine Lippen und drückte einen Kuss auf ihre weiche Haut. Sie schloss die Augen und kostete den Moment aus.
Ich war ein gebrochener Mensch, aber noch schmerzhafter für mich war, dass auch sie auf dem besten Weg dorthin war.
»Also darum spionierst du mich aus? Weil dein Vater droht, Theo fortzuschicken?«
Edie nickte und löste ihre Hand von meiner. Die Tränen meldeten sich zurück, aber auch dieses Mal zwang sie sie zurück. Dafür bewunderte ich sie.
»Er sagt, dass er Theo nach New York schicken wird, wenn ich deinen Speicherstick nicht an mich bringe.«