by Laura Kneidl
»Lass sie in Ruhe«, fuhr Auri ihn an. »Sie muss sich nicht zu uns setzen, wenn sie nicht will.«
Abwehrend hob Colby die Hände. »Immer mit der Ruhe. Niemand zwingt sie.«
»Genau«, pflichtete Zayn ihm bei. »Außerdem wäre es unhöflich, sie nicht zu fragen. Immerhin wohnt sie auch hier.«
»Also, wie sieht’s aus? Willst du dich zu uns setzen?«, erkundigte sich Jeremy.
Ein weiteres »Nein« lag mir bereits auf der Zunge, doch dann hielt ich inne. Es brannte mir wirklich auf den Nägeln herauszufinden, was mit Auri los war. Und außerdem war das hier meine Chance, endlich auch Auris andere Freunde etwas besser kennenzulernen, ohne ihn auf eine dieser Partys begleiten zu müssen.
»Okay«, antwortete ich schließlich. »Ich zieh mich nur kurz um. Bin gleich zurück.«
Colby grinste. »Cool.«
Ich huschte in mein Zimmer und sperrte zur Sicherheit die Tür ab, damit keiner der Jungs hereinkam, während ich gerade im BH dastand. Meine Handtasche hängte ich an einen Kleiderhaken an der Wand, ehe ich mir das Shirt über den Kopf zog. Ich warf es in den Wäschekorb und wollte mich gerade meinem Schrank zuwenden, als mein Blick auf einen Berg aus Stoff fiel, der auf meinem Bett lag. Am Morgen war der noch nicht da gewesen.
Ich blinzelte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich erkannte, was da lag. Mein Cosplay. Meines und das von Auri. Achtlos auf mein Bett geschmissen. Als ich die Wohnung vor fünf Stunden verlassen hatte, waren die Sachen noch ordentlich neben meiner Nähmaschine auf dem Esstisch angeordnet gewesen. Diese stand nun auf dem Boden neben meinem Bett, das Kabel unaufgerollt daneben.
Ich ballte die Hände zu Fäusten und zwang mich, ruhig einzuatmen. Ich war nicht dumm. Ich wusste, was passiert war. Auri hatte die Sachen hier reingeworfen, um sie vor seinen Freunden zu verstecken. Er wollte nicht, dass Jeremy und die anderen sein Kostüm sahen. Die Erkenntnis versetzte meinem Herz einen Stich, und meine Lust, den Abend mit Auris Teamkollegen zu verbringen, die zuvor schon kaum vorhanden gewesen war, löste sich gänzlich in Luft auf. Ob es den Jungs auffallen würde, wenn ich einfach in meinem Zimmer blieb und nicht wieder herauskam?
Vermutlich schon.
Ich würgte das Gefühl des Verrats hinunter, schnappte mir ein frisches T-Shirt aus dem Kleiderschrank, zog es über und trat wieder ins Wohnzimmer.
Auri und seine Kumpels starrten gebannt auf den Fernseher, auf dem gerade ein Spieler zu sehen war, der mit dem Ball unter dem Arm über das Feld hechtete.
Ich verstand den Reiz dieser Sportart einfach nicht, obwohl mein Dad ein riesengroßer Fan der Seattle Seahawks war und mich früher sogar zu ein paar Spielen mitgenommen hatte.
Ich holte mir eine Diät-Limo aus dem Kühlschrank und schnappte mir einen Stuhl vom Esstisch, den ich neben die Couch stellte, da ich mich nicht zwischen die Jungs quetschen wollte.
Auris Blick zuckte kurz in meine Richtung, ohne dass er mich wirklich ansah, bevor er sich wieder dem Spiel zuwandte.
Niemand sagte etwas, nur die Stimme des Spielkommentators schallte durch den Raum.
Ich nippte an meiner Limo und versuchte ebenfalls, dem Spiel zu folgen. Doch als ich meine Aufmerksamkeit dieses Mal auf den Fernseher richtete, bemerkte ich, dass sich etwas verändert hatte. Etwas fehlte. Das Sideboard, auf dem unser Fernseher stand, war bis auf ein paar Staubflocken leer. Sämtliche Herr der Ringe -Ausgaben aus Auris und meiner Sammlung waren verschwunden.
Das konnte nicht sein Ernst sein.
Ich sah zu Auri. Er saß vorgebeugt auf der Couch, den Blick krampfhaft auf den Fernseher gerichtet. Die Anspannung in seinen Schultern war nicht zu übersehen. Doch ich glaubte keine Sekunde, dass diese etwas mit dem Spiel zu tun hatte. Er war sich seiner Schuld bewusst. Er hatte nicht nur unser gemeinsames Cosplay in meinem Zimmer verschwinden lassen, sondern auch unsere Sammlung versteckt.
Ich verstand es einfach nicht. Warum behandelte Auri unser gemeinsames Hobby wie ein schmutziges Geheimnis, von dem keiner etwas wissen durfte?
Ein schmerzhaftes Stechen breitete sich in meiner Brust aus. Ich fühlte mich verraten und hintergangen. Was sagte dieses Verhalten über unsere Freundschaft aus? Würde Auri mich auch einfach verstecken und unter den Teppich kehren, wenn es sein Ruf von ihm verlangte? War das der Grund, weshalb er so komisch drauf war und Colby und Zayn zurückgepfiffen hatte, als sie mich zum Mitgucken eingeladen hatten? Ich hatte geglaubt, dass Auri nur nett sein und mir einen Ausweg hatte bieten wollen, doch nun war ich mir dessen nicht mehr so sicher. Hatte er Angst, dass ich etwas sagen könnte, was ihn vor seinen Freunden blamierte? Schämte er sich für mich?
Bei der Vorstellung wurde mir übel. Auri und seine Freundschaft bedeuteten mir die Welt, und ich hatte geglaubt, ihm ginge es ähnlich. Aber womöglich hatte ich mich getäuscht, wenn es ihm so leichtfiel, all die Dinge zu leugnen, die unsere Beziehung definierten.
Meine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. Ich hielt es hier nicht mehr aus. Ich musste weg. Womöglich konnten mir Micah und Julian für ein paar Stunden Unterschlupf gewähren.
Ich wollte gerade aufstehen, als Bridger nach der Fernbedienung griff und die Stumm-Taste drückte. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass das zweite Quarter vorbei war und die Halbzeit begonnen hatte.
»Ich muss pissen«, verkündete Bridger und stand von der Couch auf, als der erste Werbeclip begann – womit meine Chance, mich möglichst unauffällig aus dem Staub zu machen, während die Jungs auf das Spiel konzentriert waren, verstrich.
»Will noch jemand ein Bier?«, fragte Auri in die Runde, ohne mich anzusehen.
»Ich nehm eins«, antwortete Jeremy.
»Ich auch«, rief Colby.
Zayn hob seine Flasche. »Hab noch.«
Ich sagte nichts, und Auri hakte nicht nach. Wenn es den anderen auffiel, kommentierten sie es zumindest nicht.
Für ein paar Herzschläge herrschte betretenes Schweigen, das nur von dem plätschernden Geräusch aus dem Badezimmer durchbrochen wurde.
Igitt. Ich versuchte es zu ignorieren und trank einen Schluck meiner Limo. Sie schmeckte auf einmal fahl und abgestanden.
»Also, Cassie«, brach Zayn schließlich die Stille und wandte sich mir zu. »Erzähl mal etwas über dich.«
Sämtliche Augenpaare – mit Ausnahme von Auris – richteten sich auf mich.
Scheiße.
Mein Herz begann schneller zu schlagen, und ich konnte spüren, wie mir die Flasche in meiner Hand zu entgleiten drohte, das Glas schlagartig feucht von meinem Schweiß. Ich schluckte schwer und überlegte krampfhaft, was ich sagen konnte. Doch mein Gehirn war wie leer gefegt, während mich die drei großen Footballspieler erwartungsvoll anstarrten. Vor genau solchen Situationen fürchtete ich mich.
»Ähm … Ich … Also …«
»Cassie arbeitet bei Crooked Ink«, rettete mich Auri.
Ich schenkte ihm ein dankbares Lächeln, bis mir einfiel, dass er mir vermutlich nur zu Hilfe gekommen war, um das Gespräch auf das Tattoostudio zu lenken, bevor ich anfangen konnte, über die SciFaCon oder unsere gemeinsame LARP-Gruppe zu reden.
»Cool, das ist ein richtig angesagter Laden. Ich hab selbst zwei Tattoos von Ricky.« Jeremy stellte seinen rechten Fuß auf den Couchtisch, sodass wir alle seine muskulöse Wade bewundern konnten. Auf seinem Unterschenkel war ein Footballhelm zu erkennen, um den einige weitere Symbole angeordnet waren, die man mit dem Sport in Verbindung brachte. Darunter stand ein Datum und das Wort »Legend«.
»Sieht gut aus«, sagte ich, da Jeremys erwartungsvoller Blick auf mir ruhte.
»Ja. Ich wollte es eigentlich etwas anders haben, aber Ricky meinte, so würde es geiler aussehen. Und er hatte recht.« Jeremy strich liebevoll über die Tätowierung, bevor er sein Bein zurück auf den Boden stellte. »Allerdings ist er verdammt teuer. Ich spar immer noch für das nächste Tat. Könntest du bei ihm einen Rabatt für mich rausschlagen?«
Ich lächelte verhalten. »Eher nicht. Ich bin Aushilfe, und das auch nur für ein paar Wochen.«
»Schade.«
»Hast du Tattoos?«, fragte Zayn und machte Platz für Bridger, der wieder zurück war.
Ich
schüttelte den Kopf. »Du?«
»Nein, ich auch nicht.«
Auri kam zurück ins Wohnzimmer. Er hatte drei Bier und eine Schüssel Chips dabei, die er auf den Tisch stellte. Die Flaschen, die er sich zwischen die Finger geklemmt hatte, reichte er den Jungs. Mir hingegen schenkte er keine Beachtung. Nicht einmal ein flüchtiger Blick in meine Richtung, als würde er sich regelrecht dazu zwingen, mich nicht anzusehen.
Hatte er Angst, dass die anderen herausfinden könnten, wie gut wir befreundet waren, wenn er zu viel Interesse an mir zeigte?
»Danke, Auri«, säuselte Colby, als er ihm sein Bier reichte.
Auri warf ihm einen bösen Blick zu. »Nenn mich nicht so.«
»Wieso nicht? Ein zuckersüßer Name für einen zuckersüßen Jungen.« Colby beugte sich vor und kniff Auri in die Wange, als wäre er ein kleiner Junge.
»Lass das!«, fauchte Auri mit düsterer Miene und schlug die Hand seines Teamkameraden weg.
»Oooh, ist Auri böse?«, flötete Colby. Der Spitzname klang aus seinem Mund wie eine Beleidigung.
Auri ballte die Finger so fest um die Flasche in seiner Hand, dass die Haut über seinen Knöcheln spannte. »Alter, bist du taub, oder was?«
»Sei nicht so ein Spielverderber.« Mit einem verschlagenen Lächeln auf den Lippen wandte sich Colby an mich. »Sag mal, Cassie, woher kommt überhaupt der Name ›Auri‹ für unseren Maurice? Nennt seine Mom ihn so? Oder hast du dir den ausgedacht?«
Scheiße. Ich wusste, dass das eine Fangfrage war, und ich hatte keine Ahnung, wie ich darauf antworten sollte. Bestimmt wollte Auri nicht, dass Colby den wahren Ursprung des Namens herausfand.
Verunsichert sah ich in Richtung Fernseher. Wie lange dauerte diese Halbzeitpause noch? Und war den Jungs nicht bewusst, dass sie die Aufnahme vorspulen konnten, um die Werbung zu überspringen?
»Das ist nur eine Abkürzung«, antwortete Auri an meiner Stelle. »Wenn du Idiot das ABC beherrschen würdest, wüsstest du, dass die Buchstaben A-U-R-I in meinem Namen stecken. Und jetzt halt die Klappe. Es ist nur ein Scheißspitzname.«
Seine Worte trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Nur ein Scheißspitzname? Wie konnte er etwas so Grausames sagen? Er hatte den Namen von mir in einer warmen Septembernacht bekommen. Wir hatten beide nicht schlafen können und waren vor dem Kühlschrank ineinandergelaufen. Kurz entschlossen waren wir noch einmal rausgegangen und durch den Park spaziert. Wir hatten geredet und geredet und geredet, über Gott und die Welt, und irgendwann hatte ich ihn Auri genannt. Nicht nur weil sich die Buchstaben in seinem Namen versteckten, sondern weil ich in ihm einen unverhofften Freund gefunden hatte, so wie Kvothe in seiner Auri. Doch ihm bedeutete das alles anscheinend nichts.
Die Enttäuschung, die ich über das versteckte Cosplay und unsere verschwundene Sammlung verspürt hatte, machte Platz für brennenden Zorn. »Auri ist aber auch der Name eines Charakters aus einem unserer Lieblingsbücher«, erklärte ich wütend. Ich konnte vieles ertragen, aber nicht, von Auri so verleugnet zu werden.
Colbys Mundwinkel zuckten. »Ernsthaft?«
Ich nickte und ignorierte dabei den Blick, mit dem Auri mich offensichtlich zum Schweigen bringen wollte. »Ja, sie ist ein kleines blondes Mädchen, das in der Kanalisation lebt.«
Colby und die anderen Jungs begannen lauthals zu lachen. Sie bekamen sich gar nicht mehr ein. So witzig war die Geschichte auch wieder nicht, andererseits hatten sie alle schon mehrere Bier intus.
Nur einer lachte nicht: Auri. Mit aufeinandergepressten Lippen saß er da und starrte mich an, doch ich empfand kein Mitleid. Immerhin hatte ich nur die Wahrheit ausgesprochen. Was er dagegen unserer Freundschaft angetan hatte, war um einiges schlimmer.
»Der Name passt wirklich perfekt. Ein kleines, schwaches Mädchen, gefangen in etwas Großem, Dunklem, das zum Himmel stinkt«, sagte Colby prustend und deutete vielsagend auf Auri, bevor er noch lauter zu lachen begann.
Sein schrilles Gelächter gepaart mit seinen Worten erstickte von jetzt auf gleich jedes Gefühl der Schadenfreude in mir. Auri benahm sich mir gegenüber vielleicht wie ein Arschloch, und ich hatte ihm eins auswischen wollen, aber das gab Colby nicht das Recht, ihn wegen seiner Hautfarbe mit einer Kanalisation zu vergleichen. Damit überschritt er nicht nur eine Grenze, sondern schoss weit über sie hinaus.
Ich starrte Colby wütend an. »So etwas solltest du nicht sagen.«
»Was?«, fragte er, noch immer schmunzelnd.
»Dein Vergleich gerade. Der war ziemlich uncool.«
Colby schnaubte. »War nur ein Witz.«
»Na und? Er war trotzdem beleidigend.«
»Du übertreibst.«
»Cassie hat recht, Mann«, kam mir Zayn zu Hilfe. »So was zu sagen, ist voll daneben.«
»Maurice weiß, wie es gemeint war. Oder, Kumpel?«
Auris Blick zuckte von mir zu Colby. »Ja. Trotzdem solltest du so einen rassistischen Müll nicht von dir geben.«
Colby verdrehte die Augen. »Ihr seid alle zu empfindlich.«
Und du bist ein zu großes Arschloch, schoss es mir durch den Kopf, aber das traute ich mich nicht zu sagen.
»Entschuldige dich bei Maurice«, verlangte Jeremy im Befehlston, auf einmal völlig nüchtern. Er sprach nun nicht mehr als Jeremy, der ein Bier mit seinen Freunden trank, sondern als Captain des Footballteams, der nicht wollte, dass etwas zwischen seinen Spielern stand.
Colby seufzte. Er wirkte genervt. Es war ihm anzusehen, dass er sich seiner Schuld nicht wirklich bewusst war, dennoch wandte er sich an Auri. »Sorry, das war ein Scheißvergleich.«
Auri sagte nichts. Er nickte nur und stellte den Ton des Fernsehers wieder an. Die Halbzeitpause war vorbei.
Alle wandten sich wieder dem Spiel zu, aber es herrschte nicht mehr dieselbe unbeschwerte Stimmung wie noch vor wenigen Minuten. Die Stille, die nur von dem Kommentator gefüllt wurde, wirkte dichter und angespannter. Das Schweigen hatte beinahe etwas Unheimliches, und noch mehr als zuvor wollte ich mich aus dieser Situation befreien, aber ich wagte es nicht, mich zu bewegen.
Immer wieder konnte ich Colbys Blick auf mir spüren, als würde er mir die Schuld dafür geben, dass er zurechtgewiesen worden war. Und auch Auri sah von Zeit zu Zeit in meine Richtung.
Ich ignorierte ihn. Was Colby gesagt hatte, war unter aller Kanone gewesen, aber sein idiotisches Verhalten machte Auris eigenes Benehmen nicht weniger schlimm. Er hatte mich zutiefst verletzt.
Ich wollte nur noch in mein Zimmer und weinen, um meinen Frust rauszulassen. Mein Magen schmerzte von all den bitteren Gefühlen, und ich kam mir erbärmlich und irgendwie wertlos vor. Anscheinend war meine Freundschaft zu Auri nicht so kostbar, wie ich angenommen hatte.
16. Kapitel
Ich lag auf der Couch und balancierte einen Becher Eiscreme auf meinem Bauch. Er war mir schon zwei- oder dreimal umgekippt und hatte Flecken auf meinem Shirt hinterlassen, was mir allerdings vollkommen gleichgültig war.
Erneut schob ich mir einen Löffel von der inzwischen flüssigen Masse in den Mund. Ein paar Tropfen gingen daneben. Ich wischte sie mit meinem Finger auf und streckte ihn Laurence entgegen, der erwartungsvoll neben mir auf dem Boden saß.
Gierig begann er, meine Finger abzulecken. Als seine raue Zunge auf meiner Haut kitzelte, musste ich unwillkürlich schmunzeln. Obwohl mir seit dem Abend, den ich mit Auri und seinen Freunden verbracht hatte, eigentlich nicht mehr zum Lachen zumute war. Ich fühlte mich miserabel wegen dem, was Colby gesagt hatte, noch schlechter fühlte ich mich allerdings wegen dem, was Auri unserer Freundschaft angetan hatte. Ich wusste nicht, wie ich darüber hinwegkommen sollte und ob das überhaupt je möglich war.
Ich schob mir einen weiteren Löffel geschmolzene Eiscreme in den Mund und tastete nach dem Handy, das neben mir auf der Couch lag. Nachdem ich den Bildschirm entsperrt hatte, wurden mir keine neuen Nachrichten angezeigt, doch ich hatte einen weiteren verpassten Anruf der nicht eingespeicherten Nummer. Ich markierte die Meldung als gelesen und legte mein Handy wieder beiseite, bevor mich die Sehnsucht überfallen konnte und ich Auri eine Nachricht schrieb. Zuerst musste er sich entschuldigen.
Ich konn
te einfach nicht glauben, dass wir uns schon wieder aus dem Weg gingen. Erst die Sache am See und jetzt das. Allerdings hätten die Gründe dafür, dass wir einander ignorierten, nicht unterschiedlicher sein können. Das eine Mal hatte Auri mich an sich gezogen und mich fühlen lassen, wie sehr er mich wollte – und mich damit verunsichert. Das andere Mal hingegen hatte er mich von sich gestoßen, und ich hatte die Kälte seiner Ablehnung zu spüren bekommen. In meinem Herzen herrschte Chaos, und mein Verstand wusste nicht, wie er es ordnen sollte. Es war alles so wirr und durcheinander, und ich hatte das Gefühl, nichts mehr zu verstehen.
Als die Wohnungstür geöffnet wurde, rechnete ich mit Micah, die den Tag mit Keith und Adrian hatte verbringen wollen. Doch es war Julian.
Er stockte, als er mich auf der Couch liegen sah.
Laurence verließ sofort seinen Platz an meiner Seite und stürmte zu seinem Herrchen. Erfreut strich er um Julians Beine und stieß ein klägliches Miauen aus, als hätte ich ihn nicht eben noch mit meinem Eis gefüttert.
»Was machst du hier?«, fragte Julian stirnrunzelnd, während er seine Aktentasche an die Garderobe hängte. Er trug ein weißes Hemd und eine Stoffhose, die zerknittert war von den Stunden, die er im Büro gesessen hatte.
»Ich verstecke mich vor Auri«, antwortete ich und richtete mich auf.
Nachdem Auris Freunde gegangen waren, war auch ich aus der Wohnung geflüchtet. Die letzten zwei Tage hatte ich bei Lucien auf der Couch verbracht, aber heute war ich umgesiedelt, um seine und Amicias Gastfreundschaft nicht überzustrapazieren. Dabei hatte sich Luciens kleine Schwester sogar bereit erklärt, ihren Kleiderschrank mit mir zu teilen. Das fleckige Shirt, das ich gerade trug, gehörte ihr. Ich musste es unbedingt reinigen lassen, bevor ich es zurückgab, oder, noch besser, ich kaufte ihr gleich ein neues.
Julian setzte sich zu mir auf die Couch. »Was ist passiert?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich will nicht drüber reden.«
»Sicher?« Julian nahm mir den Eisbecher aus der Hand. Skeptisch betrachtete er die geschmolzene Masse, bevor er einen Löffel probierte – und kurz darauf angeekelt das Gesicht verzog. »Oh mein Gott, was ist das für eine Geschmacksrichtung? Alter Schuh?«