«In einer Stunde. Aber ich würde mir ein schöneres Thema fürs Telefonieren mit meiner Lieblingstochter wünschen.»
«Lieblingstochter, hm? Das lässt sich leicht sagen, wenn du nur die eine hast.»
Er gibt ein gespieltes Stöhnen von sich. «Ich habe keinen Vergleich, also lass mir bitte meine Illusion, dass du die beste Tochter bist, die man sich vorstellen kann.» Das Lächeln in seiner Stimme ist nicht zu überhören. «Wir können gerne noch ein paar Minuten über Gewaltverbrechen reden, wenn du willst, aber deswegen habe ich nicht angerufen. Ich wollte nur wissen, ob die Papiere deine Erwartungen erfüllen. Vielleicht solltest du dich auf die Suche nach Ms. Sawyer machen. Nimm den Unterarmgehwagen. Sie hat mir gesagt, dass das mit deinen Rippen in Ordnung ist und du ihn schon benutzen darfst.»
«Eine gute Idee. Mache ich.»
Auf gar keinen Fall nehme ich das Ding, aber ich lasse Dad lieber in dem Glauben, dass ich es versuche. Ich habe den Gehwagen schon gesehen und allein von seinem Anblick ist mir der Schweiß ausgebrochen. «Viel Erfolg bei deinem Interview.»
«Viel Erfolg beim Kampf gegen die Schwerkraft, mein Liebling.»
Nachdem ich aufgelegt habe, kann ich an nichts anderes denken als an die Mustermappe mit den neuen Papiersorten. Ich habe so lange daran gearbeitet und kann es nicht erwarten, sie endlich zu sehen. Ich liebe Papier. Und natürlich besitze ich alle Mustermappen, die von Dads Firma, der Hayden Paper Group, seit 1898 herausgebracht wurden. Inzwischen sind es einundzwanzig Stück. Aber diese ist etwas Besonderes. Weil ich sie zusammengestellt habe und mich an der Entwicklung der neuen Serie mit alterungsbeständigen Naturpapieren beteiligen durfte. Dad hat mir fast freie Hand gelassen, weil er mit den Vorbereitungen für seinen Wahlkampf beschäftigt war. Das war eine Heidenarbeit neben meinem Studium, aber hoffentlich hat sie sich gelohnt.
Ich muss Kadence suchen, aber ganz sicher nehme ich dafür keinen Gehwagen. Der Rollstuhl neben meinem Bett ist meine einzige Option. Etwas unbeholfen rutsche ich bis an die Bettkante und schiebe meine Beine vorsichtig über den Rand. Mit dem nackten Fuß taste ich über den Boden und stoße an meinen linken Sneaker, in den ich zum Glück ganz leicht reinschlüpfen kann. Das rechte Bein halte ich steif nach vorne und beiße die Zähne zusammen, bis ich mich umständlich in den Rollstuhl gewuchtet habe. Autsch, meine Hüfte! Unwillkürlich geht meine Hand an die Stelle.
Vielleicht hätte ich mich vorher umziehen sollen. Ich trage nur eine kurze Pyjamahose und ein ärmelloses Top und sehe damit etwas verwahrlost aus. Meine Beine sind blass und nicht enthaart. Die Härchen sind blond und nicht sonderlich auffällig, aber das ändert auch nichts daran, dass ich, würde ich ein Foto davon auf Instagram hochladen, wahrscheinlich einen Shitstorm ernten würde. Meine Freundin Willow würde witzeln, dass ich damit zum Casting von «Planet der Affen» oder «Der Hobbit» gehen könnte. Aber ich bin momentan einfach zu unbeweglich. Ich kann schon froh sein, dass eine der Schwestern mir gestern die Fußnägel geschnitten hat. Ich kann sie schlecht darum bitten, mir auch noch die Beine zu rasieren. Die haben hier wirklich andere Sorgen.
In der Hoffnung, dass mich niemand so genau ansieht, stoße ich die Räder mit den Händen an, rolle an dem kleinen Tisch mit den zwei Stühlen vorbei und schnappe mir den Bademantel, der darüber hängt, um ihn mir über die Beine zu legen, bevor ich die Tür aufdrücke und das erste Mal seit drei Tagen mein Zimmer verlasse. Beim letzten Mal hat Kadence mich ins große Badezimmer gefahren, um mir auf der Waage zu zeigen, wie viel zwanzig Kilo sind. Denn mit mehr darf ich mein rechtes Bein noch nicht belasten. Deshalb weiß ich jetzt, dass das so gut wie nichts ist. Selbst wenn man den Fuß ganz ohne Druck nur auf der Waage abstellt, sind es schon zwölf Kilo. Um den Unterarmgehwagen zu benutzen, müsste ich mich mit vollem Gewicht auf die Arme stützen und quasi in der Luft hängen. Unmöglich.
Auf dem Flur herrscht wie immer Betrieb. Manche Zimmer stehen offen, und ein Senior auf Krücken dreht grad seine Runden. Ein monströses Gerät, das so aufgeblasen aussieht wie der Anzug eines Astronauten der NASA, steht mitten auf dem Flur. Ich weiß, dass so was zur Lymphdrainage benutzt wird, weil ich da auch schon mal dringesteckt habe. Dazu kann ich nur sagen: Bitte nie wieder.
Mit Schwung schiebe ich mich daran vorbei und entdecke Kadence mit einer älteren Patientin. Sie redet gerade auf den Typen ein, der die alte Frau stützt und mit ihr langsam einen Fuß vor den anderen setzt. Er ist groß und sportlich, und neben ihm sieht die Oma an seinem Arm geradezu winzig aus. Sie hat einen ausgeprägten Damenbart und himmelt ihn an. Er lächelt, runzelt aber nur eine Sekunde später die Stirn, als er mich bemerkt.
Kadence gestikuliert.
Seine Lippen bewegen sich, ich meine, ein «Scheiße, was soll das, Kady?» daraus ablesen zu können. Er schüttelt den Kopf, dann trifft mich sein Blick, und das Stirnrunzeln verstärkt sich noch einmal mehr. Er sagt etwas, und Kadence blickt ebenfalls kurz zu mir, was es für mich aussehen lässt, als hätten die beiden gerade über mich geredet. Aber das ist Unsinn, es geht ganz sicher nicht um mich.
Ich hebe die Hand, um Kadence’ Aufmerksamkeit zu erregen, aber sie redet angestrengt weiter auf ihren Kollegen ein. Ich sollte es lieber lassen. Die beiden sind beschäftigt, und die Mustermappe läuft mir nicht weg. Dann frage ich sie eben später, wenn sie für unsere Übung wiederkommt, auch wenn es mir schwerfällt.
Seufzend ziehe ich den Bademantel über meinen Knien ein Stück höher, weil er nach unten gerutscht ist, und will nur das rechte Rad bewegen, um auf dem Flur zu wenden. Was aber nicht geht.
Ich hänge irgendwo fest. Mist.
Mit einem Fluch auf den Lippen umfasse ich das Metallrad und stemme mich dagegen. Dennoch rolle ich nur wenige Millimeter vor und zurück und kann nicht erkennen, wo zum Teufel ich überhaupt festhänge. Hat sich die Bremse aus Versehen festgestellt? Nein, das ist es nicht. Ich ziehe am Bademantel und begreife, dass ich über den blöden Gürtel gerollt bin und er sich in den Speichen verfangen hat. Es geht nicht vor und nicht zurück. Schweiß bricht mir aus, ich zerre an dem Gürtel und hoffe gleichzeitig, dass niemand sieht, wie dämlich ich mich anstelle und dass ich gerade einen aussichtslosen Kampf mit einem verflixten Bademantelgürtel führe.
«Schwester!», ruft der alte Herr mit Krücken und hebt das Kinn in meine Richtung. «Da braucht jemand Hilfe.»
«Nein, danke, es geht schon», zische ich ihm zu und spüre, wie mein Gesicht heiß anläuft. Oh Gott, hoffentlich hat ihn niemand gehört.
«Schwester!», kräht er noch lauter.
Mit aller Gewalt zerre ich an dem verdammten Frottee-Gürtel und würde ihn am liebsten abreißen. Dann bewegt er sich tatsächlich ein winziges Stück. Nur dass ich jetzt auf der Stelle rotiere wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt, aber immer noch nicht vom Fleck komme.
Als ich aufblicke, stelle ich fest, dass ich Kadence’ volle Aufmerksamkeit habe. Sie übernimmt die alte Dame und verpasst ihrem Kollegen einen Stoß in die Seite. Unschlüssig fährt er sich durch das kurze Haar und starrt mich an, bevor er sich sichtbar einen Ruck gibt und auf mich zugeht.
2. Kapitel
David
Schon seit dem Aufstehen weiß ich, dass dieser Tag einfach nur beschissen wird. Eigentlich war das schon gestern Nacht klar, nachdem ich Jane und ihre Freundin um halb drei von der Straße gekratzt habe. Achtmal hat sie mich auf dem Handy angerufen, bis ich das nervtötende Klingeln nicht mehr ignorieren konnte und mich im Halbschlaf hinters Steuer gequält habe. Irgendwann lasse ich sie laufen. Aber das habe ich mir schon verdammt oft vorgenommen. Und garantiert werde ich es auch beim nächsten Mal nicht schaffen, das verfluchte Verantwortungsgefühl niederzuringen.
«Das muss ja eine wilde Party gewesen sein», bemerkt Madame Mustache, als ich sie mit ungewohnt rauer Stimme begrüße. Sie heißt nicht wirklich Madame Mustache, aber die ganze Station nennt sie so, weil … verdammt, mit diesem Schnurrbart könnte sie Wettbewerbe gewinnen. Ich reibe mir über das Kinn, wo meine eigenen Stoppeln mich daran erinnern, dass ich heute Morgen keine Zeit hatte, mich zu rasieren.
«In deinem Alter habe ich das auch gemacht. Aber irgendwann habe ich den Alk
ohol nicht mehr so gut vertragen.»
Wenn sie wüsste. Ich trinke nichts. Erst recht nicht, wenn ich am nächsten Tag in die Klinik muss. Das Einzige, was mich letzte Nacht beschäftigt hat, war die miese Vorahnung, dass ich meinem Schicksal heute nicht entgehen werde. Kadence will mich seit Tagen in das Zimmer Nummer zwölf schleifen, und seit Tagen lasse ich mir unentwegt Ausreden einfallen. Ich habe nur leider das untrügliche Gefühl, dass ich heute fällig bin.
«Sie könnten mich ganz sicher immer noch unter den Tisch trinken, Mrs. Mus… Browning.»
Scheiße, ich brauche dringend eine Pause. Schlaf ist ein Luxus, von dem ich nicht mal tagträume, aber zehn Minuten an der frischen Luft würden mir schon reichen, um wieder einen klaren Kopf zu kriegen.
Mrs. Browning kichert. Ich gähne unauffällig gegen meine Schulter und halte dann ihr linkes Fußgelenk fest. Seit ihrem Sturz vor zwei Wochen ist sie nicht wirklich mobiler geworden, und wenn das nicht langsam besser wird, kommt sie nie wieder zurück in ihre eigene Wohnung. Ich überprüfe die Funktion des tibialis posterior, indem ich sie versuchen lasse, die kleinen Zehen herunterzudrücken, während ich den Muskel palpiere. Alles okay. Danach lockere ich den Flexor am Sprunggelenk und massiere sie nach oben bis zu ihrer Kniekehle. Nicht, weil das unbedingt nötig wäre, sondern weil ich weiß, dass sie das mag. Sie wird gerne angefasst. Eigentlich gibt es meiner Erfahrung nach kaum jemanden über siebzig, der sich nicht insgeheim danach sehnt, berührt zu werden.
Mrs. Browning bekommt nie Besuch. Ihre Tochter lebt in Miami und hat sie, wie ich rausgehört habe, das letzte Mal an Thanksgiving besucht. Wahrscheinlich Thanksgiving im letzten Jahrtausend. Keine Ahnung, ob sie seitdem auch nur einmal jemand umarmt hat. Es ist erbärmlich, wie wenig Körperkontakt Menschen in ihrem Alter haben. Ich habe schon Patienten massiert, die dabei in Tränen ausgebrochen sind, weil es ihre erste Berührung nach Jahren war, die nicht mit Waschen oder Hinternabputzen zu tun hatte.
Das ist etwas, was nicht in meinen Kopf will. Was so schwierig daran ist, jemanden spüren zu lassen, dass er wichtig ist. Egal in welchem Alter. «Was macht Ihr Rücken heute?», frage ich sie deshalb und weiß schon vorher, was sie mir antworten wird.
«Oh, David, du kannst es dir nicht vorstellen. Meine Schulter …» Sie verrenkt sich, überraschend gelenkig, um über eine Stelle an ihrem Oberarm bis zum Nacken zu streichen. «Vielleicht könntest du dir das mal ansehen. Das kommt vom Liegen. Ganz bestimmt kommt das vom Liegen. Und du hast wirklich goldene Hände, mein Junge.»
Es fällt mir schwer, das Grinsen zu unterdrücken. Ganz genau lasse ich mir von ihr erklären, wo es am schlimmsten ist. Und nachdem ich ihre Schulter massiert habe, kann ich sie dazu überreden, endlich ein paar Schritte mit mir zu gehen.
Ich helfe ihr in die Pantoffeln mit der rutschfesten Sohle. «Auf drei», sage ich, um sie vorzuwarnen, aber Mrs. Browning zieht sich beinahe sofort an meinem Arm hoch und fällt nach halber Strecke auf die Bettkante zurück. Überrascht davon, dass ihr mit Sicherheit gerade jegliches Blut in die Beine gesackt ist.
«Alles klar», sage ich mit todernster Miene. «Die Drei war’s also nicht. Welche Zahl würde Ihnen denn besser gefallen, Ma’am?»
Sie schlägt mir auf den Arm. «Mach dich nicht über mich lustig. Ich war nur etwas voreilig.»
Beim nächsten Versuch klappt es problemlos. Sie zählt diesmal mit. Für einen Moment wankt sie, dann setzen wir gemeinsam einen Fuß vor den anderen. «Wir können Sie nächste Woche gleich beim Fitness anmelden, würde ich meinen. Sie laufen mir ja jetzt schon davon.»
«Sei nicht albern, David», sagt sie, zeigt mir bei ihrem Lächeln aber beide Zahnreihen. Dabei bin ich das nie. Albern. Doch Jane meint, dass man immer an meinen Augen sehen kann, wenn ich innerlich lache, und ich schätze, Mrs. Browning hat das auch schon durchschaut.
Auf dem Flur müssen wir als Erstes Mr. Hamilton ausweichen, der mit seinen Krücken den Gang unsicher macht, aber schon nach wenigen Metern geraten wir in Kadence’ Radar. Als sie auf uns zusteuert, liegt mir sofort ein «Scheiße» auf den Lippen, das ich nur wegen Mrs. Browning zurückhalte. Ich ahne, was sie von mir will, bevor sie auch nur den Mund aufmachen kann. Also komme ich ihr zuvor: «Vergiss es, Kady. Ich werde deine Patientin nicht übernehmen. Viel Spaß noch mit ihr!» Danach versuche ich, sie zu ignorieren. Was nicht funktioniert, weil sie mir an den Sohlen klebt wie ein ausgespuckter Kaugummi.
Sie hakt sich an meiner freien Seite ein. «Ich kenne niemanden außer dir, der das mit ihr hinkriegen könnte. Solltest du dich davon nicht eigentlich geschmeichelt fühlen?»
«Nein. Das lässt mich völlig kalt.» Und damit schüttele ich sie ab.
«Komm schon, David. Du kannst doch sonst nie nein sagen. Warum ausgerechnet bei ihr? Sie ist okay, wirklich. Nur eben total panisch. Ich weiß genau, dass du in fünf Minuten mit ihr weiter kommst als ich in drei Wochen. Muss an deiner vertrauenerweckenden Ausstrahlung liegen.»
Klar, Kadence, netter Versuch. Stur halte ich Mrs. Brownings Arm fest, und die alte Dame blickt mit einem Ausdruck zu mir hoch, als wäre ich der persönliche Schutzheilige dieser Klinik. «Du hast doch ein weiches Herz, David. Warum tust du ihr nicht den Gefallen?»
Weil ich verdammt noch mal kein weiches Herz haben will. Mit meiner freien Hand reibe ich mir über die Schläfe, weil es anfängt, dahinter zu pochen, und das ziemlich hartnäckig. Als ich vor drei Wochen erfahren habe, dass die Tochter von William Hayden unsere Patientin wird, dachte ich, das muss ein beschissener Witz sein.
Ist es auch, aber einer von der Sorte, die das Schicksal sich erlaubt, weil es die Popcorn-Maschine schon angeschmissen hat. Eher würde ich freiwillig im New Hampshire State Prison eine Schicht einlegen und allen Männern dort die Füße waschen, als mich um William Haydens kleinen Liebling zu kümmern.
Bisher konnte ich es erfolgreich vermeiden, seiner Tochter auch nur auf dem Flur zu begegnen. Ich weiß nicht mal, wie sie aussieht, weil ich auf keinen Fall anfangen will, irgendwelche Vergleiche zu ziehen. Ich werde ihre Therapie nicht übernehmen, und das sage ich Kadence jetzt bestimmt schon zum zehnten Mal. «Ich mach’s nicht. Und es ist mir egal, ob du mich deswegen die nächsten Wochen die Klos putzen lässt. Also schmink es dir ab, Kadence Sawyer.»
Kadence’ Augen blitzen. Dann lächelt sie sanft, was mir eigentlich Warnung genug sein müsste. «Weißt du was, ich werde dich die nächsten Wochen einfach gar nicht mehr einteilen, wegen Dienstverweigerung. Wie klingt das für dich, David Rivers?»
«Scheiße, was soll das, Kady?» Ruckartig bleibe ich stehen, weil ich nicht glauben kann, dass sie das wirklich ernst meint. Sie weiß genau, dass ich das Geld brauche. Die verdammten Studiengebühren betragen zwölftausend Dollar pro Semester, und mein Stipendium deckt gerade mal die Hälfte ab. Wenn ich in diesen Ferien nicht mindestens viertausend zusammenbekomme, habe ich ein Problem.
«Du kannst dir die Patienten nicht aussuchen», sagt sie in sachlichem Ton. «Kann ich auch nicht. Oder denkst du, ich arbeite gerne mit Mr. Hamilton und lasse mich von ihm betatschen?»
Was zum Teufel …? Ich starre sie entgeistert an.
Sie zuckt mit den Achseln. «Er ist ein verdammter Busenstreifer. Bei jeder Übung streift er mich mit seinem Ellbogen und entschuldigt sich nur halbherzig. Das ist der mit Abstand älteste Scheißtrick, um einen anzugrabschen.»
Ist das ihr Ernst? Sie erwidert meinen schockierten Blick nur mit einem erneuten Achselzucken. Hölle, ja, sie meint das wirklich ernst. Ich versuche, das Entsetzen runterzuschlucken, das sich in meinem Hals anstaut, was mir nur halb gelingt. «Warum hast du nicht früher was gesagt? Ich kann Mr. Hamilton übernehmen. Dann werde ich ihn mal ganz aus Versehen streifen.» Dieses Arschloch. «Ich werde ihn das so was von bereuen lassen. Sag nur wann und wo.» Mein Blick findet den Mistkerl, der sich ein Stück weiter den Flur runter immer noch mit seinen Krücken abmüht, während irgendein Mädchen im Rollstuhl dabei ist, sich im Slalom an ihm vorbeizuschieben. Für einen Moment lasse ich meiner Phantasie freien Lauf und überlege, was ich mit ihm anstellen würde, wenn ich nicht auf diesen Job angewiesen wäre. Wenn mein Stipendium nicht ohnehin schon auf der
Kippe stehen würde, weil ich eine wichtige Klausur plus den einzigen Nachholtermin verpasst habe. «Ich kann dir Hamilton abnehmen», biete ich ihr noch mal an.
«Mit dem werde ich fertig», winkt Kadence jedoch ab. «Aber nicht mit der Hayden. Ich will, dass du dich um dieses Mädchen kümmerst.» Sie nickt den Flur runter, und ich merke, wie das Pochen in meiner Schläfe noch einmal zulegt. Weil sie das sein muss. Das Mädchen in dem Rollstuhl, das gerade den Arm hebt, um unsere Aufmerksamkeit zu erlangen. Das Mädchen aus Zimmer zwölf.
Abigail Hayden.
Scheiße.
Sie sieht ganz anders aus, als ich sie mir vorgestellt habe. Unscheinbar fast. Mit einer Haarfarbe wie nasser Sand und erschreckend blass. Jedoch nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten wird ihr Gesicht jetzt ziemlich rot, weil sie Probleme mit ihrem Rollstuhl hat und ihn nicht von der Stelle bekommt. Was mir nicht leidtun sollte, definitiv nicht. Es sollte mir völlig egal sein. Aber wie Mrs. Browning schon festgestellt hat: Ich habe verdammt noch mal ein weiches Herz.
Hamilton schreit nach einer Schwester, und ich möchte ihm jetzt endgültig den Hals rumdrehen. Nun kann ich nicht mehr so tun, als hätte ich sie nicht gesehen, ohne grob unhöflich zu werden. Außerdem … Verdammt, ich kann auch nicht mitansehen, wie sie sich hilflos auf der Stelle dreht.
«Kadence», knurre ich, bekomme aber nur ein betont unschuldiges Lächeln zurück. Sie wird ihr nicht helfen.
«Sie braucht dich, David. Ich gehe noch ein paar Schritte mit Mrs. Browning.» Sie entzieht mir den Arm der alten Dame und stößt mich grob in die Rippen. Und nun weiß ich nicht, was mehr pocht. Der Presslufthammer hinter meiner Schläfe, meine Rippen, die sie gerade malträtiert hat, oder mein verdammtes Herz, das Angst hat, an einem uralten Schmerz zu zerbrechen, wenn ich zulasse, dass auch nur ein winziger Splitter dieser Familie in mein Leben dringt.
Ever – Wann immer du mich berührst Page 2