Ich vermisse unser Haus und den Garten. Ich vermisse die mürrische Herzlichkeit von Lorraine, unserer Haushälterin, und vor allem die Gardine an meinem Fenster. Wahrscheinlich ist das verschroben, aber ich liebe das weiße Sprossenfenster in meinem Zimmer mit der kitschigen Spitzengardine, weil ich von dort auf die Eichen im Vorgarten sehen kann. Im Dunkeln malt die Beleuchtung der Einfahrt Schattenbilder an die Wände. An einer von ihnen, dort, wo mein Bett steht, ist eine Vintage-Fototapete mit der botanischen Zeichnung eines Urwalds angebracht. Wenn ich dort im Bett liege, bin ich im Dschungel. Ich starre an die weißen Wände in diesem Krankenzimmer, die auch noch mit einem Schutzlack bestrichen sind, damit man sie abwaschen kann, und schüttele über mich selbst den Kopf.
Energisch schiebe ich die Seiten wieder zusammen und lege die Mappe zurück auf den Nachttisch. Damit ich hier rauskomme, muss ich trainieren. Einfach nur trainieren. Weil ich mich aber nicht traue, mein Kniegelenk allein zu belasten, will ich mich in der Zwischenzeit wenigstens oberhalb meiner Hüfte fit halten.
Kadence hat mir schon vor drei Wochen Übungen für meinen Oberkörper gezeigt, nachdem meine Rippenbrüche verheilt waren, und die habe ich auch brav gemacht. Meistens. Aber Willow hat mir eben ein Youtube-Video für Trainingseinheiten mit einem Theraband geschickt, das … einfach bescheuert ist. Und nicht nur, weil es mit Musik untermalt wird, die eher zu einem Strip passen würde. Sondern weil die Frau im Video auch noch mehr als dürftig bekleidet ist. Mal ehrlich, ich werde garantiert nicht dieses Gummiband in der Zimmertür einklemmen, in einer seltsamen Verrenkung um meinen Oberkörper wickeln, um dann daran meine Arme zu trainieren. Was, wenn jemand von außen die Tür aufmacht und das verflixte Teil klatscht mir ins Gesicht? Ich rufe Willow an, um ihr genau das zu sagen, und glücklicherweise geht sie direkt ran.
«Wo hast du dieses Video denn gefunden? Auf irgendeiner Bondage-Seite?»
«Und wenn es so wäre?», fragt sie in ihrem typisch nasalen Tonfall zurück, der sich immer so anhört, als wäre sie erkältet, und für einen Moment halte ich das tatsächlich für möglich. Willow ist alles zuzutrauen.
«Ich glaube nicht, dass das, was diese Frau da tut, rein physisch überhaupt möglich ist», sage ich.
«Na ja. Die Frau in dem Video kann es, also muss es auch für andere Menschen machbar sein. Außerdem habe ich mir vorgestellt, wie Darcy es macht, und … oh Gott, ich hoffe, sie kann so was.»
Ich muss lächeln, weil ihre Gedanken ununterbrochen um Darcy kreisen, seit sie im Statistikseminar einmal neben ihr gesessen hat. «Aber wir wissen nicht mit Sicherheit, ob sie es überlebt hat. Die Frau in dem Video, meine ich. Das sieht aus wie eine Anleitung, sich zu strangulieren, Will.»
Jetzt lacht sie auf, nur um sich im nächsten Moment die Hand vor den Mund zu halten, was ich daran merke, wie dumpf ihre Stimme plötzlich klingt. «Verdammt, Abbi, ich muss leise sein, Jacob schläft. Ich glaube, er ist im Zuckerkoma, weil er sich einen ganzen Beutel Marshmallows aus der Küche gemopst hat. Wenn er aufwacht, wird er garantiert superschlecht gelaunt sein, und ich darf babysitten, obwohl ich dringend mit meiner Hausarbeit weitermachen muss.»
Jacob ist ihr kleiner Bruder und erst vier. Willow hat noch drei ältere Geschwister, aber die sind schon von zu Hause ausgezogen, weshalb es meist an ihr hängenbleibt, auf Jacob aufzupassen.
«Wenn ich dir bei deiner Hausarbeit irgendwie helfen kann …», sage ich, weiß aber nicht, wie ich den Satz beenden soll. Kurz nach meinem Unfall habe ich noch versucht, in der Uni mitzukommen, es aber irgendwann aufgegeben. Willow hat mir Unterlagen gebracht, sogar heimlich einige Vorlesungen mit dem Handy mitgeschnitten, obwohl das verboten ist. Aber ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Weil ich Schmerzen hatte, mal ganz abgesehen von den Konzentrationsproblemen infolge des Schädel-Hirn-Traumas. Das ist inzwischen besser geworden, im Gegensatz zu meiner Unruhe, meiner Ängstlichkeit, meiner Unsicherheit – normale Folgeerscheinungen bei polytraumatisierten Patienten, hat mir der Arzt erklärt. Inzwischen habe ich mich damit abgefunden, dass mir dieses Semester einfach verlorengeht.
«Wenn du Langeweile hast, scanne ich dir ein paar Seiten ein, und du analysierst für mich die Zahlen. Es geht um eine UNICEF-Studie, die belegt, dass jedes fünfte Mädchen in Indien mit Beginn ihrer Periode die Schule abbricht. Ich muss die Ergebnisse mit anderen Studien von Plan International vergleichen. Du könntest für mich Ruanda analysieren, die Publikation dazu habe ich mir schon runtergeladen.» Sie seufzt. «Das Thema ist so frustrierend.»
«Finde ich auch. Man kann daran aber nur etwas ändern, wenn man die Ursachen genau untersucht. Und das mach ich echt gerne. Schickst du mir das gleich?»
«Geht klar. Danke.» Ein leises Geräusch verrät mir, dass sie gerade ein Buch zugeklappt hat. «Hat Ryan dich inzwischen mal besucht?»
Die Frage kommt so unvermittelt wie ein Schlag in den Magen, und mir bleibt für eine Sekunde der Atem weg. «Er …» Ich hole tief Luft. «Wir sind nicht mehr zusammen.»
«Also war er nicht da. Ich wusste schon immer, dass er im Grunde seines Herzens ein Arsch ist.»
Wahrscheinlich hat sie recht. Trotzdem habe ich das Bedürfnis, Ryan zu verteidigen. Weil er mit im Auto saß. Weil ich gefahren bin. Und weil ich mich nicht an den Unfall erinnern kann oder an das, was davor passiert ist. Immer, wenn ich meinen Dad danach frage, wiegelt er ab, weil er der Meinung ist, dass ich mich lieber auf die Zukunft konzentrieren soll. Ich weiß nur noch, dass Ryan und ich uns gestritten haben, danach ist alles weg. «Er war auch verletzt.»
Sie schnaubt. «Ja, der arme Mann und sein steifer Nacken. Wieso meldet er sich nicht und fragt, wie es dir geht?»
«Weil er Schluss gemacht hat. Außerdem hat er nachgefragt. Seine Mom hat mich angerufen.»
«Und du denkst, er hat sie darum gebeten? Glaub ich nicht. Sie mochte dich einfach. Aber eigentlich kannst du froh sein. Ryan hat immer so ein verbissenes Cole-Sprouse-Lächeln. Mit den Zähnen fest aufeinander.»
Meine Mundwinkel ziehen sich ungewollt nach oben, weil sie recht hat. «Ich lass dich jetzt mal weiterarbeiten. Schick mir einfach den Text über Ruanda. Bis wann brauchst du es denn zurück?»
«Es reicht morgen Abend. Dann füge ich das ein, wenn Mom vom Spätdienst zurück ist.»
«Ich drück dir die Daumen, dass Jacobs Zuckerkoma noch etwas länger andauert.»
«Danke, das kann ich brauchen. Und probier dieses Video aus. Nicht das mit der Frau und der Tür, das war nur ein Witz, ich meine das andere. Ich drück dir die Daumen.»
Sie lacht und legt auf. Ein zweites Video? Sofort gehe ich in unseren Chatverlauf und starte dann die Youtube-App, um ihre Videos aufzurufen. Das letzte ist von einer Klinik in San Francisco. Okay, das sieht wirklich nach einer medizinisch sinnvollen Übung aus. Und leicht. Das kriege ich sogar im Bett sitzend hin. Deshalb krame ich das Theraband aus der Schublade meines Nachttischs und mache einen Knoten ins Ende, um es besser festhalten zu können. Das Smartphone balanciere ich auf meinem linken Oberschenkel, während ich den Anweisungen lausche, meinen rechten Arm an die Seite presse und nur den Unterarm gegen den Widerstand des elastischen Bands nach außen und wieder zurückbewege. Leider ist es erschreckend anstrengend, dabei habe ich das rote Anfängerband, das längst nicht so stramm ist wie die anderen Farben. Ich schaffe es gerade so zehnmal, bis mein Arm verkrampft und ich die Seiten wechseln muss. Einmal, zweimal, dreimal …
Bei vier höre ich ein Klopfen, und fast zeitgleich geht die Tür auf. Ich schrecke zusammen. Das Band flutscht mir aus den Fingern, klatscht auf meinen Nachttisch und fegt die Papiermappe von der Ablage. Erschrocken rolle ich mich auf die Seite, kann aber nur hilflos mitansehen, wie die Blätter durch die Luft flattern. Ein Klappern lässt meinen Blick zum Boden schießen. Mist. Jetzt ist auch noch mein Handy runtergefallen.
«Sorry», sagt eine Männerstimme. «Ich dachte, einmal klopfen wäre genug Warnung.»
Einmal klopfen ist doch keine Warnung! Ich meine, ich hätte theoretisch nackt sein können! Ich erkenne Davids Stimme sofort, sehe aber nur seine Füße, weil ich schon kopfüber nach unten hänge und nach meinem Handy hangle, das ich so aber ni
emals erreichen kann. «Würdest du vielleicht …?», frage ich gepresst.
«Klar, kein Problem.» David umrundet mein Bett, die Sohlen seiner Turnschuhe geben ein Quietschen von sich, als er sich hinkniet und die Blätter zusammenfegt. «Wichtige Papiere?»
«Nein. Gar nicht. Eigentlich.» Ich will nicht so verlegen sein, aber weil unsere letzte Begegnung so unangenehm geendet hat – und diese gleich wieder mit einer Peinlichkeit begonnen hat –, bin ich es dennoch. Ich wünschte, er wäre Kadence.
David reicht mir die Mappe und die Blätter, und ich schiebe sie schnell wieder zwischen die Pappdeckel. Ein Blatt rutscht mir aus den Fingern, und David fängt es auf, bevor es wieder zu Boden segeln kann. Unschlüssig hält er es für einen Moment in der Hand. Dann legt er es auf meinen Nachttisch ab, bückt sich noch einmal und hält mir mein Smartphone hin.
«Danke», sage ich. Dabei ist es eigentlich seine Schuld. Hätte er mich nicht erschreckt, wäre mir auch nichts runtergefallen. Die gute Nachricht: Das Display ist nicht gerissen. Die schlechte: Aus dem Lautsprecher kommt jetzt Musik. Aber nicht die Hintergrundmusik aus dem Klinik-Video, sondern die laszive Strip-Musik aus dem anderen. Oh nein, oh nein, oh nein. Mit heißem Gesicht drücke ich auf den Knopf an der Seite, woraufhin mein Handy erst einmal einen Screenshot macht. Ich glaube, ich werde Willow umbringen müssen.
Nachdem ich mich beerdigt habe.
Als ich es endlich schaffe, das grauenhafte Video zu beenden, sieht David mich mit einem betont neutralen Blick an, den ich überhaupt nicht deuten kann.
«Das Video hat mir meine Freundin Willow als Scherz geschickt», sage ich und würde am liebsten mit den Zähnen knirschen.
«Es geht mich nichts an, was du dir auf Youtube anguckst. Und ich habe auch gar nicht drauf geachtet.» Sein Tonfall ist distanziert, sachlich. Was ich nach gestern auch nicht anders erwartet habe.
Leider kann ich gegen das Gefühl, mich verteidigen zu müssen, nicht ankämpfen. «Sie … sie wollte mich einfach zum Lachen bringen. Ich habe eine ganz andere Übung gemacht. Mit einem Video von einer Klinik. Einem professionellen.»
«Das sah auf gewisse Art auch ziemlich professionell aus.»
Mein Kopf geht mit einem Ruck nach oben, aber in seinen Gewitteraugen kann ich kein Lachen erkennen. Oder doch?
«Okay, jetzt habe ich mich geoutet», gibt er zu. «Ich habe doch draufgeguckt, aber nur für eine Sekunde, und in einer Minute habe ich es schon wieder vergessen. Wenn du willst, zeige ich dir ein paar Übungen mit dem Theraband.» Er sammelt das rote Knäuel auf und entwirrt es. «Professionelle Übungen.»
Na toll, er kann es nicht lassen. Von wegen, er hat das in einer Minute vergessen. Jetzt ist es jedenfalls nicht mehr zu übersehen, dass seine Augen lachen.
«Vielleicht kann ich dir auch zeigen, welche Übung ich gemacht habe, und du sagst mir, ob das so richtig ist. Weil ich nicht so viele Wiederholungen schaffe wie in dem Video. Also in dem Video, das ich mir wirklich angesehen habe.»
Ich kann es offensichtlich auch nicht lassen, darauf rumzureiten. Es gibt für mich nichts Schlimmeres, als wenn mir jemand nicht glaubt, obwohl ich die Wahrheit sage. Wenn ich das so stehenlasse, werde ich heute Nacht schon wieder meinen Schlaf an diesen Therapeuten verlieren.
Er nickt und hält mir das Band hin. «Dann lass sehen.» Dabei guckt er auf einmal wenig begeistert, als wäre ihm gerade bewusst geworden, dass er gelächelt hat, obwohl er das nicht wollte.
An Kadence hatte ich mich gewöhnt. Auch wenn sie manchmal ungeduldig war, so habe ich doch nie gedacht, dass sie sich überwinden muss, mir zu helfen. Sie hat es gerne gemacht. Bei David bin ich mir da nicht so sicher, weil etwas an ihm Widerwillen ausstrahlt. Liegt das nur daran, dass mein Dad gestern diese eine Bemerkung gemacht hat? Irgendwie glaube ich das nicht.
Innerlich seufzend nehme ich das Gummiband aus seiner Hand und mache ihm die Übung damit vor. Schon nach einer Sekunde wendet er sich ab, um zu einem der Schränke zu gehen, die in der Wand eingelassen sind.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Einfach weitermachen?
David holt ein kleines Handtuch heraus und rollt es vor seinem Bauch zusammen. «Du wirst gleich verkrampfen, wenn du den Arm so gegen den Rumpf presst.» Er fasst mich am Ellbogen und klemmt mir das Handtuch zwischen Oberarm und Rippen. «Versuch es jetzt noch mal.»
Ich bewege den Unterarm zur Seite, und David hat recht. Die Bewegung wird dadurch viel angenehmer, und nicht nur mein Arm, auch meine Schulter bleibt entspannter. Jetzt schaffe ich die Wiederholungen ganz easy. Ich zähle bis zwanzig, bevor ich die Seite wechsle und mir das Handtuch unter den anderen Arm packe. Dabei beobachtet er mich.
«Ich würde dir empfehlen, die Übung beim nächsten Mal auf dem Stuhl zu machen. Oder auf der Bettkante, wenn du das mit dem Knie hinbekommst. Ist besser für deine Haltung.» Er tritt an meine Seite, und im nächsten Moment liegt seine Hand auf meinem Schulterblatt, was mich kurz die Luft anhalten lässt. Aber er hebt nur meinen rechten Arm und tastet mit beiden Händen meine Schulter ab. «Du hast dir mal das Schlüsselbein gebrochen.»
Langsam atme ich aus. Das stimmt. Aber es ist ewig her.
«Man sieht, dass es konservativ behandelt worden ist. Der Bruch ist verkürzt verheilt und die Schulter dadurch leicht abgesenkt. Deshalb hast du etwas weniger Kraft in diesem Arm.» Er bewegt meinen Arm in verschiedene Richtungen. «Sieht aber nicht so aus, als wäre es noch problematisch für dich.» Er lässt mich jetzt los und stellt sich wieder vor mich.
An mein gebrochenes Schlüsselbein kann ich mich kaum erinnern, aber ich wage nicht zu hoffen, dass es mir mit meinem Bein irgendwann auch so gehen wird. «Denkst du, dass mein Bein auch wieder richtig verheilt? Ich meine, ganz normal wie vor dem Unfall?»
«Ja.» Er zögert keine Sekunde.
Ich räuspere mich, weil meine nächste Frage ängstlich klingen könnte und ich das vermeiden will. Aber leider Gottes habe ich Angst, und das kann ich nicht verbergen. «Und wird es … irgendwann auch nicht mehr so weh tun? Vielleicht gar nicht mehr?»
«Ich bin mir ziemlich sicher, dass du in Zukunft keine Schmerzen mehr haben wirst.»
Ich atme schon erleichtert aus, da sagt er: «Allerdings kann ich nicht garantieren, dass du in Zukunft ohne Probleme niesen kannst.»
Macht er sich gerade über mich lustig? Klar. Natürlich macht er das. Ich würde ihm jetzt gerne etwas an den Kopf werfen, aber ich tue es nicht. Ich habe immer noch ein schlechtes Gewissen. Wegen der Sache gestern mit meinem Dad. Weil das ganz sicher auch ein Grund ist, warum er sich überwinden musste, in mein Zimmer zu kommen. Wahrscheinlich hat er meine Therapie den ganzen Tag vor sich hergeschoben wie einen unangenehmen Zahnarzttermin.
Oh Gott, ich sollte es hinter mich bringen. Am besten jetzt gleich. Danach wird es mir besser gehen. «Ich … ich würde gerne darüber reden, was mein Dad gestern zu dir gesagt hat», fange ich an, werde aber sofort von ihm unterbrochen.
«Und ich würde mich gerne mit deinem Knie beschäftigen.» Er zieht die Bettdecke zur Seite und umfasst meinen rechten Knöchel. «Hast du die Beugung geübt?»
Ich versuche noch, die Hitze zurückzudrängen, die mir spontan ins Gesicht geschossen ist, weil er wieder einmal etwas macht, ohne es anzukündigen. Nur dass ich diesmal glaube, er tut das mit Absicht. Um mich zu überrumpeln und vom Thema abzulenken.
«Ich habe … nein, noch nicht», sage ich lahm. «Weil … Ich dachte, dass Kadence wieder meine Behandlung übernimmt.» Nach dem, was mein Dad gesagt hat. Aber das muss ich nicht aussprechen, es steht auch so unüberhörbar im Raum. David geht wieder nicht darauf ein.
«Okay, dann legen wir mal los.» Er lächelt, und diesmal bin ich mir hundertprozentig sicher, dass es gespielt ist. Offenbar ist ihm das Thema ebenso unangenehm wie mir.
«Ich hoffe, mein Vater hat sich bei dir entschuldigt. Ehrlich, normalerweise ist er nicht so. Er ist echt okay. Wahrscheinlich liegt es daran, dass er mit mir in den letzten Monaten einiges durchgestanden hat, und er macht sich einfach Sorgen. Und er ist überarbeitet, weil sein Wahlkampf bald in die heiße Phase geht.» Warum um Himmels willen plappere ich so viel? Ich sollte einfach die
Klappe halten. Es ist offensichtlich, dass er das nicht hören will. «Das interessiert dich alles gar nicht, oder?», frage ich, weil David mich nicht einmal ansieht und nun mein Bein leicht anwinkelt, was mich dazu bringt, die Luft zwischen den Zähnen einzuziehen.
«Ist das auszuhalten?»
«Nein», sage ich. Aber nur, weil ich frustriert bin, und nicht, weil es gerade besonders weh tun würde. Jedenfalls nicht mehr als sonst auch. «Es tut mir leid, okay?», quetsche ich heraus. «Ich würde diese blöde Bemerkung von meinem Dad gerne in Ordnung bringen, weil es respektlos war und ich sonst … sonst …»
«Weil du sonst niemals aufhören wirst, darüber zu reden.» Er seufzt, dann lässt er mein Bein los, greift in seine Hosentasche und holt sein Handy und eine kleine weiße Plastikbox heraus. «Vergiss es einfach. Ich hab es auch längst vergessen. Es ist nicht wichtig, okay?»
Ich nicke langsam und strecke dann automatisch die Hand aus, weil er mir etwas hinhält. Überrascht starre ich auf den einzelnen, kabellosen Kopfhörer, den er mir auf die Handfläche legt.
«Ist der Linke», sagt er. «Du kannst ihn ohne Bedenken nehmen, ich hab ihn noch nie benutzt. Mein linkes Ohr – hatte ich dir ja erzählt.»
Okay. Nur was soll ich jetzt mit einem Kopfhörer? Bekomme ich Übungsanweisungen darüber? Ich bin unschlüssig, aber weil er nun den anderen Hörer in sein rechtes Ohr steckt, mache ich einfach, was er sagt. David senkt den Blick auf sein Handy und scrollt mit dem Daumen über den Bildschirm. «Versuch einfach, an nichts zu denken. Mach die Augen zu, oder such dir irgendeinen Punkt im Raum.»
Ever – Wann immer du mich berührst Page 5