«Wir können ganz kleine Schritte machen», sagt David.
Okay. Vorsichtig setze ich meinen rechten Fuß nach vorne und konzentriere mich darauf, mein ganzes Gewicht auf meine Arme zu stützen. Es zieht und sticht etwas, als ich leicht auftrete. Aber nur eine Sekunde, dann stehe ich schon wieder auf meinem anderen Bein und kann den Wagen ein Stück weiterschieben. «Ich hoffe, du hast heute keine Termine mehr», sage ich und meine es als Entschuldigung, weil ich so langsam bin.
«Wird alles gecancelt, wenn du nur so weitermachst. Das machst du sehr gut. Wirklich.»
Wahrscheinlich redet er immer so mit seinen Patienten. So aufmunternd, nett. Trotzdem kann ich nichts gegen das irrsinnig warme Gefühl in meinem Bauch unternehmen. Ich presse die Lippen zusammen und mache einfach weiter, damit wir irgendwann in diesem Leben auch mal den Flur erreichen.
«Du brauchst keine Angst zu haben. Selbst wenn es ein paar Kilo mehr sind, die auf deinem Bein lasten, ist das in Ordnung. Wir gehen nur auf Nummer sicher.»
David ist die ganze Zeit hinter mir. Erst, als wir auf den Flur kommen, drängt er sich an mir vorbei, um ein Bett an die Wand zu schieben, das jemand mitten im Weg geparkt hat. Und sofort ist er wieder an meiner Seite. Ich wünschte, meine Eltern könnten das sehen. Dad würde sich so freuen, und Mom wäre sicher erleichtert, dass ich endlich mal Fortschritte mache. Schritt für Schritt arbeiten wir uns über den Flur. Es ist unfassbar anstrengend, und meine Arme fangen an zu zittern.
Wir kämpfen uns bis zum Ende des Flurs vor, dann sagt David: «Das reicht erst mal, wir müssen auch noch an den Rückweg denken.» Was sich anhört, als wären wir gerade sechs Meilen durchs Gebirge gewandert und nicht bloß zwanzig Meter über Linoleum.
«Ich weiß nur nicht, wie ich umdrehen soll.»
«Wie du willst. Das ist kein Auto, du musst ja nicht groß rangieren.»
«Danke für den Hinweis.» Ich wende den Kopf, um nach seinem amüsierten Blick zu suchen, gleichzeitig bewegen sich die Rollen nach vorn, weil ich die Bremse nicht fest genug gedrückt habe, und ich komme ins Schwanken.
«Vorsicht.» Sofort schlingt sich Davids Arm fest um meine Taille, und meine Schulter stößt gegen seinen Brustkorb. «Alles okay, ich hab dich.»
Mein Herz rast. Aber nicht, weil ich fast gefallen wäre, sondern weil ich David an meinem Rücken spüre und seine Hand gegen meinen Bauch drückt.
Ich hab dich.
Warum muss ich bei diesem Satz schlucken?
David lässt nicht los, bis ich wieder sicher stehe, und in meinem Kopf ploppt der unsinnige Gedanke auf, dass etwas von mir gerade auf dieselbe Weise übergeschwappt ist wie aus dem Wasserglas vorhin. Ein warmes Gefühl, das aus meinem Brustkorb kommt. Ich drehe mich zu ihm um. «Danke.»
David macht einen Schritt zurück und weicht meinem Blick aus.
Langsam drehe ich den Wagen und setze einen Fuß vor den anderen. Meine Hüfte schmerzt, weil ich die Seiten nicht gleichmäßig belasten kann, aber es ist auszuhalten.
«Das fühlt sich so komisch an», sage ich. «Zu stehen, meine ich. Als wäre ich plötzlich an einem Tag einen Meter gewachsen.»
«Das bist du auch, würde ich meinen.»
Ich mag es, wie er das sagt. Würde ich meinen. Es klingt nicht so geschliffen, wie mein Dad reden würde. Oder so absolut selbstsicher wie Ryan. Ryan würde so was niemals sagen, weil alles, was er von sich gibt, für ihn Gesetz ist und seiner Meinung nach auch für alle Menschen in seiner Umgebung gelten sollte. Er würde nie betonen, dass etwas nur seine Meinung ist. Ich schlucke und dränge den Gedanken an Ryan zurück, weil ich mir nicht diesen Erfolg vermiesen möchte. Ich habe ihm heute Morgen eine Nachricht geschickt, nur um zu fragen, wie es ihm geht. Nicht, weil mir noch so wahnsinnig viel an ihm liegen würde, weiß Gott nicht, sondern nur, weil ich ein schlechtes Gewissen habe. Schließlich bin ich das Auto gefahren und habe ihn in diesen Unfall verwickelt. Doch nicht mal auf meine freundliche Frage habe ich eine Antwort bekommen.
«Kannst du vielleicht ein Foto von mir machen?», frage ich. «Ich würde es gerne meinen Eltern schicken. Sie können heute nicht vorbeikommen und würden sich sicher freuen.»
«In Ordnung. Fühlst du dich sicher mit dem Wagen? Hältst du die Bremse fest?»
Als ich nicke, geht er an mir vorbei ins Zimmer und holt mein Handy vom Nachttisch. Er tippt es an und hält es mir kurz vors Gesicht, um es zu entsperren, bevor er mehrere Schritte zurücktritt und ein Foto von mir macht. «Solltest du Lust haben, zu tanzen, lass es ruhig raus, dann mach ich ein Video.»
Ich lächle gequält. «Nur wenn du dazu singst.»
«Das würdest du bereuen.»
«Nicht so sehr, wie du es bereuen würdest, wenn ich tanze.» Ich schiebe den Gehwagen nach vorne und glaube, er filmt jetzt wirklich, weil er das Handy immer noch hochhält und parallel zu meiner Bewegung zurückweicht.
«Ich bin froh, dass du mich überredet hast, den Gehwagen auszuprobieren. Können wir das morgen wieder machen?»
«Wir können das jeden Tag machen, aber eigentlich will ich, dass du schnellstmöglich auf Krücken umsteigst. Dann kommst du viel besser allein zurecht und kannst bestimmt nächste Woche nach Hause.»
«Das klingt fast so, als würdest du mich loswerden wollen.» Es sollte nur ein Scherz sein, aber ich bilde mir ein, einen seltsamen Ausdruck über Davids Gesicht huschen zu sehen, der gar nicht zu ihm zu passen scheint. Als er mich eben aufgefangen hat, wirkte er sicher, verlässlich. Aber jetzt sieht er unsicher aus, fast als hätte ich ihn ertappt. Seine Hand, die mein Handy festhält, wackelt für eine Sekunde, dann setzt er ein schiefes Lächeln auf.
«Vor allem will ich dich jetzt ins Bett kriegen.»
Mir wird heiß. Mein Gesicht, mein Hals, alles oberhalb meiner Rippen glüht bei seinen Worten auf, und ich ziehe die Unterlippe zwischen die Zähne. Weil er mich damit an meinen peinlichen Sexismus-Aussetzer von eben erinnert, und das auch noch mit voller Absicht. «Okay, das habe ich wohl verdient», sage ich. «Aber jetzt kann ich dieses Video nicht mehr an meine Eltern schicken.»
«Das war offensichtlich wörtlich gemeint, Abbi. Es wäre alles okay gewesen, wenn du dabei nicht so rot geworden wärst.»
Oh Gott. Jetzt werde ich noch röter.
Was dazu führt, dass er die Aufnahme stoppt und sich betreten entschuldigt. «Das war echt scheiße, tut mir leid. Du kannst die letzten Sekunden einfach rausschneiden. Sorry, dass ich dich so in Verlegenheit gebracht habe.»
«Ist schon okay.»
«Nein, ist es nicht. Das war unprofessionell von mir. Ich weiß, dass du das vorhin nur gesagt hast, weil du Angst hattest. Diese Ausrede habe ich nicht.»
In dem Moment gibt mein Smartphone ein lautes Pling von sich. Davids Blick geht reflexartig zum Display, und für den Bruchteil einer Sekunde überfluten die unterschiedlichsten Emotionen sein Gesicht. Das Erste, woran ich denke, ist: Hoffentlich ist das kein neues Video von Willow. Bitte nicht. Das Zweite: bestimmt eine Nachricht von meinem Dad.
David steckt das Handy so schnell in seine Tasche, als hätte er sich daran verbrannt, und kommt mir entgegen. Er sagt nichts, dirigiert den Wagen aber zielstrebig die letzten Meter in mein Zimmer und dann zu meinem Bett. Ich lasse mich auf die Matratze sinken, plötzlich total erschöpft. Es waren nur ein paar Schritte, aber für mich fühlt es sich an wie eine Weltreise. Meine Arme schmerzen, weil ich mich so krampfhaft festgehalten habe.
«Alles okay, Ma’am?», fragt David, aber der Humor, der sonst bei dieser Anrede in seinen Augen aufblitzt, fehlt diesmal völlig.
Ich nicke.
Er holt tief Luft, während er das Handy aus seiner Tasche zieht und auf den Nachttisch legt. «Ich finde, du hast das großartig gemacht, Abbi. Du kannst wirklich stolz auf dich sein. Lass dir in den nächsten Tagen von einer der Schwestern zeigen, wie du dir die Heparinspritzen selbst setzen kannst, denn das wirst du zu Hause noch eine Weile machen müssen.»
«Okay.»
«Wir sehen uns morgen.» Als er rausgeht, schaue ich ihm nach. Dann erst nehme ich mein Handy in die Hand. Die Nachricht, die eben aufgeploppt sein muss, ist weder von Willow noch von meinem Dad. Sie
ist von Ryan.
Ryan: Lösch meine Nummer, du Psychopathin! Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Und hör auf, meiner Mutter was vorzujammern, verdammt.
8. Kapitel
David
Was für ein Wichser! Die Nachricht, die ich unfreiwillig auf Abbis Handy gelesen habe, kriege ich nicht mehr aus dem Kopf. Der Absender, dieser Ryan, muss echt ein krankes Arschloch sein. In Abbis Akte habe ich gelesen, dass sie bei ihrem Unfall nicht allein im Auto gesessen hat, und ich kann zwei und zwei zusammenzählen. Ryan war vermutlich ihr Beifahrer. Es ist eine Sache, auf jemanden wütend zu sein, weil man durch ihn in einen Unfall verwickelt wurde, aber sie als Psychopathin zu bezeichnen? Was unterstellt er ihr damit? Dass sie diesen Unfall absichtlich gebaut hat?
Und dass Abbi jammern würde – scheiße, das ist der Punkt, der den Vogel abschießt. Abbis Unfall war vor drei Monaten. Sie hat ein traumatisches Erlebnis hinter sich, wurde innerhalb einer Sekunde aus ihrem Alltag herausgerissen. Sie hat Angst und ist unsicher, was in dieser Situation vollkommen normal ist. Nach dem Unfall war sie wildfremden Menschen völlig ausgeliefert. Und in der Klinik, in der die Erstversorgung stattgefunden hat, hat man totalen Mist gebaut und versucht, ihr die Hüfte bei vollem Bewusstsein einzurenken, wofür man den Arzt verklagen müsste.
Zur Hölle! Damit hat man ihr in einem Moment, als sie ohnehin schon verletzt war, noch einmal unnötige Schmerzen zugefügt. Und ich würde durchdrehen, wenn ich nach drei Monaten immer noch auf fremde Hilfe angewiesen wäre. Jeder normale Mensch würde das.
Abbi jammert nicht.
Die meisten Menschen haben, wenn sie krank sind, einen Horizont, der so groß ist wie das Bett, in dem sie liegen. Bei Abbi ist das anders. Sie interessiert sich für ihre Mitmenschen und denkt nicht nur an sich. Das beweist allein schon ihre Reaktion, als ich ihr von meiner Mom erzählt habe. Sie hat Mitgefühl, und bei Gott, so gern ich das abstreiten würde, das haben ihr auf irgendeine Art auch ihre Eltern mitgegeben.
Muss ihre Mutter gewesen sein.
Mir wird heiß, wenn ich daran denke, was ich eben zu ihr gesagt habe, nur um sie davon abzulenken, dass sie mit ihrer Vermutung, ich wolle sie loswerden, den Nagel auf den Kopf getroffen hat.
Vor allem will ich dich jetzt ins Bett kriegen.
Jetzt fühle ich mich wie der letzte Dreckskerl, dabei sollte es mir eigentlich nichts ausmachen. Was sie über mich denkt, sollte scheißegal sein. Sie ist trotz allem Haydens Tochter, und ich muss unbedingt wieder mehr Abstand zu ihr herstellen, bis sie die Klinik verlässt. Aber es ist mir nicht egal, was sie über mich denkt. Als ich sie eben festgehalten habe – ich konnte ihren Herzschlag überall spüren, verdammt. Unter meinem Daumen, der ihren Rippenbogen gestreift hat. An meinem Brustkorb. Bis in meinen Magen hat sich das Rasen ihres Herzens ausgebreitet.
Ich finde, du siehst schön aus. Wahnsinn, David, du bist echt ein Held, ihr Aussehen zu thematisieren, ganz große Leistung.
Es wird Zeit, dass ich hier rauskomme. Schnell bringe ich den Gehwagen weg, ziehe mich in Rekordzeit um und knalle meinen Spind zu. Bevor ich die Etage verlasse, winke ich den Schwestern auf der Station noch einmal zu und laufe ein paar Minuten später schon über den Parkplatz.
Kurz darauf landet der Rucksack auf der Rückbank von Moms altem Toyota. Jane wartet wieder einmal in Chase’ Diner auf mich und wird inzwischen wahrscheinlich das Ergebnis von ihrem Bluttest bekommen haben. Das wird eine armselige Bluttest-Party. Ich habe keinen einzigen Dollar Bargeld und kaum noch was auf dem Konto. Wenn ich die Kreditkarte benutze, fällt mir das spätestens nächste Woche auf die Füße. Das einzig Gute ist, dass ich mir wegen der Miete keine Sorgen machen muss. Mom hatte eine kleine Lebensversicherung, und nach den Kosten für die Beerdigung blieb genug übrig, um die Miete für ein Jahr im Voraus zu bezahlen.
Egal, was in diesem Jahr noch passiert, wir haben ein sicheres Dach über dem Kopf. Vor allem Jane. Und danach … Ich werde meinen DPT, meinen Doctor of Physical Therapy, machen und einen Job annehmen, der hoffentlich so viel einbringt, dass ich für meine Schwester sorgen kann. Aber alles steht und fällt damit, dass ich mein Stipendium behalte. Und die Studiengebühren für das letzte Jahr zusammenkriege. Sechstausend Dollar pro Semester, zwölftausend insgesamt. Vielleicht kann ich bei Chase an meinen freien Tagen aushelfen. Mom hat das ganze letzte Jahr bei ihm gearbeitet, und er kennt mich. Er weiß, dass man sich auf mich verlassen kann.
Ich parke den Wagen auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude und umrunde das Haus. Chase hat den Diner erst vor einem Jahr eröffnet, nachdem ihm bei seinem Laden in Hanover der Mietvertrag gekündigt worden ist. Aber er hat von dort die Ausstattung mitgenommen, und da es ein altes Kino war, ist das Restaurant hier nun auch mit Filmplakaten gepflastert. Hatari, Casablanca, African Queen, jede Menge Klassiker und noch mehr Humphrey Bogart. Mir gefällt die Atmosphäre.
Jane sitzt am Fenster, sieht mich aber nicht kommen, weil sie in die Speisekarte vertieft ist. Ich hoffe, sie hat noch nicht so viel bestellt. Als ich reinkomme, winkt mir Chase von der Theke aus zu, im Hintergrund läuft die Musik irgendeines monumentalen Epos.
«Musstest du ausgerechnet diesen Tisch nehmen?», frage ich sie und deute auf das Hitchcock-Plakat über ihrem Kopf, bevor ich mich in den Sessel ihr gegenüber fallen lasse.
«Hab gar nicht drauf geachtet.» Sie grinst mich an. «Hi, Dave.»
Ich hasse es, wenn sie Dave sagt. Was sie auch nur macht, um mich zu ärgern. Ein tiefes Seufzen verlässt meinen Mund.
«Hattest du einen harten Tag?», neckt sie mich. Vor ihr steht ein leeres Schälchen, in dem immer Popcorn bereitsteht, um die Gäste beim Warten bei Laune zu halten. Ich steh nicht auf Popcorn, aber jetzt wünschte ich, sie hätte mir was übrig gelassen. Das Loch in meinem Magen ist so groß wie der Grand Canyon.
«Kann man so sagen. Hast du die Ergebnisse bekommen?»
«Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht.» Sie nimmt einen Schluck von ihrem Milchshake.
«Das ist nicht lustig, Jane. Hast du mit dem Arzt gesprochen? Wie sind die Werte?»
«Mit den Blutwerten ist alles in Ordnung. Ich bin gesund, okay?»
«Gott sei Dank.» Ich atme hörbar aus, lehne mich zurück und verschränke die Arme hinter dem Kopf. Die Rezidivwahrscheinlichkeit ist nach mehreren Jahren gering, worüber ich bestens informiert bin, deshalb war mir gar nicht klar, wie angespannt ich trotzdem gewesen bin. Aber jetzt fällt etwas von mir ab.
«Und ich war beim Friseur.» Sie fährt sich durch das offene Haar, und ganz ehrlich, ich sehe keinen Unterschied.
«Bist du nicht drangekommen? Ist das die schlechte Nachricht?»
«Sehr witzig.» Sie verdreht die Augen, wird jedoch gleich wieder ernst. «Es ist eine Rechnung gekommen. Ich habe sie nicht aufgemacht, weil sie an dich adressiert ist, aber es ist ein Stempel vom Emergency Service drauf. Kann das die Rechnung vom Krankenwagen sein, mit dem sie Mom abgeholt haben?»
«Scheiße.»
«Ich habe mir gedacht, dass du das sagen würdest, deshalb habe ich noch nichts bestellt.» Sie kramt in ihrer Tasche und schiebt mir den Briefumschlag über den Tisch.
Ich nehme ihn an mich und deute wortlos auf ihr Getränk.
«Den Shake habe ich umsonst bekommen. Ich habe Chase’ Frage richtig beantwortet.»
Ach so. Chase fragt seine Gäste immer nach irgendwelchen obskuren Filmfakten, und wer die Antwort korrekt abliefert, dem spendiert er einen Drink. Ich habe hier noch nie was umsonst bekommen, weil ich keine Ahnung habe, wer wann wofür einen Oscar gekriegt hat. Was wohl bedeutet, dass ich auch diesmal leer ausgehen werde. Ich reiße den Umschlag auf, ziehe die Rechnung heraus und atme tief durch. Sie ist wirklich vom Rettungsdienst. Elf Wochen haben sie gebraucht, um diesen Brief zu schreiben. Fünfzehn Minuten hat Moms Fahrt von zu Hause bis zum Krankenhaus gedauert, und die Zahl auf der Rechnung für diese fünfzehn Minuten steht fett gedruckt auf dem Papier: 1772,42 USD.
«Lass uns gehen.»
«Ich sterbe vor Hunger. Wir könnten doch einfach nur einen Burger nehmen, das ist das Billigste auf der Karte.»
«Auch das Billigste auf
der Karte übersteigt unser Budget, wenn wir diese Rechnung hier wirklich bezahlen müssen.» Ich halte ihr den Zettel hin.
Jane pfeift durch die Zähne und stützt dann ihren Kopf in beide Hände. «Ich frage mich, ob die beiden Burger, die wir sparen, bei dieser Summe wirklich groß ins Gewicht fallen. Dafür werden wir sowieso unsere Seelen verkaufen müssen. Also lass uns was essen, damit wir vernünftig darüber nachdenken können, an wen.»
Mein Lächeln muss verzweifelt aussehen, weil Jane über den Tisch greift und meine Hand nimmt. «Wir schaffen das schon.»
Keine Ahnung, woher sie ihren Optimismus nimmt. Ich muss das schaffen. Garantiert werde ich Jane da nicht mit reinziehen. Mit der freien Hand reibe ich mir über die Augen, um wacher zu werden, was aber nicht viel bringt. Ein Kaffee könnte helfen. Ich glaube aber nicht, dass ich Chase mit einer angedrohten Gesangseinlage kommen kann.
«Nach Erfolg werden die jedenfalls nicht bezahlt», meint meine Schwester, lässt meine Hand los und schiebt die Rechnung zurück in den Umschlag.
Nein, das kann man nicht sagen. Sie haben Mom zwar zu Hause erfolgreich reanimiert, aber noch im Rettungswagen hatte sie einen zweiten Herzstillstand. «Vielleicht kann ich mit dem Rettungsdienst eine Ratenzahlung vereinbaren», sage ich. Scheiße, das alles wächst mir so was von über den Kopf.
«Jetzt lass uns nicht die ganze Zeit nur über diese Rechnung reden. Übrigens kommen Aubree und Noah gleich noch vorbei.»
Mit Aubree ist Jane befreundet, seit sie im letzten Jahr einen Fitnesskurs in einem Boxclub gemacht hat. Ich mag die beiden, und manchmal treffe ich mich mit Noah zum Sport, weiß aber nicht, ob mir heute noch nach Gesellschaft zumute ist. Nicht nach dieser Rechnung.
Chase kommt an unseren Tisch. Er trägt ein Shirt mit dem Logo des Diners über seinen Jeans und erinnert mich immer an diesen einen blonden Sänger, dessen Name mir einfach nicht einfallen will. George … irgendwas.
«Wollt ihr jetzt was bestellen?»
«Definitiv», sagt Jane. «Wir nehmen zwei Veggie-Burger, dazu Salat und als Nachtisch …»
Ever – Wann immer du mich berührst Page 8