Ever – Wann immer du mich berührst

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Ever – Wann immer du mich berührst Page 16

by Hotel, Nikola


  «Das habe ich noch nie gegessen. Klingt aber gut.»

  «Soll ich dir dann jetzt den Rest des Hauses zeigen?»

  Als er nickt, stelle ich mein Glas ab und beeile mich, aus der Küche zu kommen. Erst einmal zeige ich ihm das Erdgeschoss. Das Büro meines Dads mit dem Kamin, das Zimmer, das wir Bibliothek nennen, das aber mehr und mehr zu einer Rumpelkammer wird, weil Dad dort alte Akten sammelt, die ihn in seinem Büro stören. Das riesige Wohnzimmer, auch scherzhaft Ballsaal genannt, mit der bequemen Sitzecke vor einem weiteren Kamin. Das Badezimmer, den großen Salon mit der hässlichen babyblauen Tapete, auch wieder mit Kamin. Den kleinen Salon, den er schon kennt, weil wir da eben geübt haben, lasse ich weg.

  «Es gibt ziemlich viele Kamine in eurem Haus», stellt David fest, als wir wieder die Eingangshalle erreichen.

  «Weil es so alt ist.» Ich nicke. «Das Haus wurde ante bellum gebaut. So hat es mein Grandpa immer ausgedrückt. Also vor dem Bürgerkrieg. Ich glaube, 1839.» Ich hebe die Schultern an.

  Mit den Krücken die Treppe hochzusteigen, ist definitiv keine meiner Lieblingsbeschäftigungen, aber die Stufen sind breit, und es gibt ein durchgehendes Geländer. Ich stütze mich nur auf einer Krücke ab und fasse mit der rechten Hand den Handlauf. David geht dicht hinter mir. Im Augenwinkel sehe ich, dass er für den Notfall schon einen Arm ausgestreckt hat. Aber als er meinen Blick bemerkt, zieht er ihn wieder zurück. Seine Nähe spüre ich trotzdem bei jedem Schritt.

  An der obersten Stufe angekommen, versuche ich, vor Anstrengung keuchend, die zweite Krücke aus meiner linken Hand zu winden. Dafür muss ich den Handlauf loslassen, deshalb wanke ich für einen Moment auf einem Bein. Nur kurz, ich kann das Gleichgewicht halten, trotzdem schlingt sich von hinten ein Arm um meinen Bauch. Davids Oberkörper stößt gegen meinen Rücken, warm und fest, und sein Atem streift über meinen Nacken. Ich halte überrascht die Luft an, die Krücke fällt klappernd auf den Boden.

  «Alles okay?»

  «Ja.» Langsam lasse ich die Luft aus meinem Brustkorb entweichen. Ganz automatisch habe ich nach Davids Arm gegriffen, um mich festzuhalten. Seine Muskeln sind angespannt. Unter meinen Fingern stellen sich die Haare an seinem Unterarm auf, und weil ich auch nackte Arme habe, scheint sich seine Gänsehaut direkt auf mich zu übertragen. Bis gerade stand ich noch sicher, aber jetzt hat mein Körper scheinbar vergessen, dass er Knie hat.

  «Ich dachte, du verlierst das Gleichgewicht. Tut mir leid», sagt David schnell, und es klingt irgendwie atemlos. Er lockert seinen Griff und tritt von mir weg, und obwohl ich fest stehe, fühlt es sich an, als würde ich jetzt fallen.

  14. Kapitel

  Abbi

  Am liebsten hätte ich David gebeten, mich weiter festzuhalten, mit seinem Arm um meinen Bauch, seinem Oberkörper an meinem Rücken. Ich möchte noch einmal seinen warmen Atem hinter meinem Ohr spüren und stelle mir vor, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn er noch näher wäre, wenn sein Mund mich dort berühren würde, und das schockiert mich selbst.

  In meinem Magen flattert es. David ist so schnell auf Abstand gegangen, dass es fast einer Flucht gleichkam. Ich beobachte ihn, wie er sich nun mit wachen Augen die Etage ansieht. Das Schlafzimmer meiner Eltern, das angrenzende Bad und den Raum, den sie als Ankleidezimmer nutzen. Aber mir fällt auf, wie er dabei die Schultern anzieht und die Hände in den Hosentaschen vergräbt, als hätte er grundsätzlich Sorge, aus Versehen etwas zu berühren.

  Es gibt noch einen weiteren Raum auf dieser Etage, den meine Eltern als begehbaren Kleiderschrank benutzen, weil Dad wirklich viele Anzüge besitzt und meine Mutter nicht weniger Abendkleider, die sie für repräsentative Veranstaltungen brauchen. Allein Moms Schuhe nehmen zwei Regale ein. Als David das alles sieht, runzelt sich seine Stirn. Ich weiß nicht, was er dabei denkt, aber als er bemerkt, dass ich ihn beobachte, schüttelt er den Gedanken anscheinend ab, und seine Stirn glättet sich wieder.

  «Hier im Flur ist noch ein kleines Büro, das meine Mutter benutzt.» Ich öffne die Tür und zeige den wahrscheinlich am modernsten ausgestatteten Raum in diesem Haus. Er wirkt mit dem Glasschreibtisch, dem großen Rollladenschrank und dem Whiteboard an der Wand im Kontrast zum Rest des Hauses fast steril, deshalb ziehe ich die Tür schnell wieder zu. Als Nächstes kommt ein Gästezimmer und daneben ein kleines Bad.

  «Solltest du irgendwann in die Verlegenheit kommen, könntest du hier übernachten. Es wird selten benutzt, die meisten Besucher bleiben nur zum Essen, berufliche Treffen hat mein Vater fast immer im State House in Concord, dann bleibt er dort im Hotel.» David öffnet den Mund, und ich greife seinem Protest vor. «Nein, du wirst natürlich nicht in die Verlegenheit kommen. Ich wollte es nur gesagt haben, falls du irgendwann mal so genervt bist, dass du unser Training nur noch mit Whiskey überstehst.»

  «Ich bezweifle, dass es so weit kommt», sagt er. «Ich hasse Whiskey.»

  «Wer weiß.» Ich ziehe die Tür wieder zu, und das große Polsterbett mit dem hellen Bettüberwurf und einem Dutzend Kissen verschwindet aus meinem Blick. Mein eigenes Zimmer zeigt nach vorne zur Straßenseite, die Tür steht offen, deshalb kann ich sie mit der Krücke aufstoßen.

  «Hier ist mein Schlafzimmer. Ich habe zwar auch ein Zimmer im Wohnheim, damit es für mich nicht so weit zur Uni ist, aber da ich das Semester aussetze, haben wir meine ganzen Sachen nach Hause geholt.»

  Ich lasse David den Vortritt, und er bleibt kurz hinter der Tür überrascht stehen und starrt die Wand an, an der mein Bett steht. «Das ist … krass. So was habe ich echt noch nie gesehen.»

  Er meint die Bildertapete. Über die ganze Seite, vom Fußboden bis zur Decke breitet sich das Motiv aus. Es besteht zwar nur aus Grautönen, ist aber so detailreich und plastisch festgehalten, dass es wie eine Zeichnung aus dem Skizzenbuch eines Botanikers wirkt. «Wenn man sich auf das Bett legt und an der Wand hochguckt, hat man das Gefühl, die Palmen würde sich über einem ausbreiten und man könnte die Farne mit den Händen greifen. Willst du es mal ausprobieren?»

  «Nein», sagt er und wendet sich so schnell ab, dass mir klar ist, mal wieder eine Grenze übertreten zu haben. Ich sollte dringend versuchen, mich Davids professionellem Verhalten anzupassen.

  David geht zu meinem Schreibtisch, der ziemlich unordentlich ist. Wie immer liegt dort jede Menge Papier durcheinander. Einzelne Blätter, Mappen, Bücher, zwei kleine Figuren, die zu dem antiken Papiertheater gehören, mit dem schon mein Grandpa gespielt hat und das auf dem schmalen Tischchen an der Wand steht. Die Figuren waren eingerissen, und ich habe sie auf der Rückseite mit einem schmalen Papierstreifen und etwas Leim geklebt und zum Trocknen liegen lassen. Jetzt nehme ich die beiden Papierfiguren auf und stecke sie zurück in das kleine Theater, das nur von einem dünnen Holzrahmen zusammengehalten wird.

  Als ich mich umdrehe, steht David an meinem Schreibtisch und faltet ein quadratisches Stück stark vergilbtes Papier zu einem Dreieck. Es ist der Rest von dem Material, das ich zum Flicken verwendet habe. Ich schaue ihm zu, wie er mit geübten Fingern aus dem Dreieck ein noch kleineres Dreieck macht, die spitzen Seiten hochklappt und einige Sekunden später einen Schmetterling in den Händen hält.

  Von mir aus könnte er stundenlang so weitermachen, und ich würde ihm zufrieden dabei zusehen. Er wirkt das erste Mal, seit er hier ist, fast entspannt. David setzt den Schmetterling auf meinen Schreibtisch, dann schüttelt er mit einem Mal den Kopf und fährt zu mir herum.

  «Wenn das okay für dich ist, würde ich jetzt gerne rausgehen.» Er rubbelt mit der Hand über seinen Oberarm. «Eure Klimaanlage hier oben ist der Wahnsinn. Hier drin ist es eiskalt.»

  «Ja, natürlich.» Ich überlege krampfhaft, was ich noch sagen soll. «Ich wollte sowieso etwas für die Uni tun.» Was gelogen ist, weil ich nichts für die Uni machen muss.

  «Ich meinte eigentlich, wir könnten in eurem Garten trainieren.»

  Was er mir damit sagen will, ist offensichtlich. Er ist nicht zum Spaß hier.

  «Wie du willst. Aber wir haben auch noch Zeit, bis Dr. Muller kommt.» Allein bei seinem Namen läuft mir ein Schauer über den Rücken, was ich zu unterdrücken versuche. «Du kannst auch schwimmen ge
hen, wenn du willst.»

  «Ihr habt einen Pool?»

  «Schon, nur ist er eigentlich …»

  «Nicht fürs Personal?», hakt er mit einem künstlichen Grinsen nach.

  Es ärgert mich, dass er das sagt. Diese Grenze hat er selbst gezogen, nicht ich. «Ziemlich zugewachsen. Und alt. Der ganze Schwimmbereich liegt im Schatten, weil mein Vater sich nicht von den Hecken trennen kann.»

  David legt den Kopf schief. «Warum sind wir bei diesem Wetter eigentlich noch hier drinnen, wenn ihr draußen einen verdammten Pool habt?»

  «Weil wir Krankengymnastik machen?»

  «Und?»

  «Auf einer Matte? Auf dem Fußboden?»

  «Krankengymnastik, die man großartig auch im Pool machen kann?», gibt er in demselben fragenden Tonfall zurück. «Ein Pool ist perfekt, Abbi.» Er scheint davon richtig begeistert zu sein. Und natürlich denkt er wieder nur an den therapeutischen Vorteil. «Dein Körpergewicht wird durch den Auftrieb des Wassers mitgetragen. Das schont deine Gelenke, stärkt deine Muskulatur und ist wirklich gut für dein Herz-Kreislauf-System. Zieh dir einen Badeanzug an und komm raus. Ich gebe dir fünf Minuten.»

  «Was?» Ich bin völlig überfordert von dieser Wendung. Ich hatte mich eben noch darauf eingestellt, allein in meinem Zimmer zu hocken, damit er ein paar Minuten seine Ruhe hat, und jetzt will er plötzlich, dass wir schwimmen gehen?

  «Ich warte vor der Tür, dann kannst du dich umziehen.»

  «Aber ich habe keinen Badeanzug.»

  «Echt nicht? Dann leih dir einfach was von deiner Mutter.»

  Mir wird nichts anderes übrigbleiben, denn einen meiner Bikinis kann ich bei der Therapie auf keinen Fall anziehen. Und überhaupt … Ich atme geräuschvoll aus, weil David nicht abwartet, sondern rausgeht und leise die Tür hinter sich schließt. Er hat das jetzt einfach so beschlossen, oder wie?

  Okay, eigentlich hat er ja recht. Es ist verdammt heiß, und an Gymnastik im Wasser hatte ich überhaupt nicht gedacht. Nur dass ich bei Wassergymnastik ein Bild von Omas mit Schwimmnudeln vor Augen habe. Oh Gott, ich will keinesfalls eine Schwimmnudel. Bitte nicht!

  Aber Schwimmnudel hin oder her, das würde mich von Dr. Muller ablenken. Und ich bekomme jetzt schon Magenschmerzen, wenn ich daran denke, dass er nachher vorbeikommt, um mein Knie und meine Hüfte zu untersuchen. Das letzte Mal habe ich ihn im Krankenhaus nach der zweiten Operation gesehen. Er hat mir die Bettdecke weggerissen, auf meinem Knie und meiner Leiste herumgedrückt, bis mir die Tränen in den Augen standen. Die Schmerzen hatten schon begonnen, bevor er mich überhaupt angerührt hat. Als würde allein der Anblick seiner breiten Hände mich triggern. Wie weh er mir getan hat, als er meine Hüfte einrenken wollte, werde ich wahrscheinlich in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Wie sein Kollege mich festgehalten hat und er dann mit Kraft an meinem Bein riss … Mein verletztes Knie … Ich erschauere und schiebe den Gedanken weit weg. So weit es geht.

  Wassergymnastik. Also gut. Als ich höre, wie Davids Schritte sich die Treppe hinunter entfernen, laufe ich mit den Krücken in das Ankleidezimmer meiner Mutter, wo ich sie neben die Tür lehne. Auf einem Bein hüpfe ich zum Kleiderschrank und ziehe ihre Unterwäscheschubladen heraus.

  Meine Mutter hat eine ganze Batterie von Bikinis, aber ganz unten finde ich einen Badeanzug, und ich erinnere mich, dass sie den kaum trägt, weil er ihr nicht eng genug anliegt, was ihn für mich prädestiniert. Leider ist er weiß. Dafür ist das Material relativ dick, und er hat ein Vintage-Design mit geradem Beinausschnitt. Definitiv die beste Option. Im Badeanzug ist man doch irgendwie angezogener. Hektisch streife ich meine Klamotten ab und ziehe ihn an. Passt perfekt. Ich winde mich durch die Träger, die im unteren Rücken zusammengenäht sind und sich erst recht weit oben trennen, deshalb sieht es von vorne fast wie ein Neckholder aus. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, aber David wartet bestimmt schon länger als fünf Minuten.

  Schnell schlüpfe ich in einen von Moms Morgenmänteln, ziehe den Gürtel so fest, dass mir die Luft wegbleibt, und klemme mir dann zwei Handtücher unter den Arm. Auf geht’s. Wassergymnastik. Gott steh mir bei.

  15. Kapitel

  David

  Mit Abbi zum Pool zu gehen, war eine beschissene Idee. Seit meiner Ankunft war ich die Neutralität in Person. Habe mir nicht anmerken lassen, was es mir allein abverlangt, dieses verdammte Anwesen zu betreten. Es ist heiß, und ich brauche dringend eine Abkühlung. Aber es gibt Regeln in diesem Spiel. Und die wichtigste lautet: Der Therapeut geht nicht mit ins Wasser.

  Ich habe unten an der Treppe auf Abbi gewartet, um zu sehen, ob sie allein mit den Stufen zurechtkommt, und ihr dann die zwei Handtücher abgenommen, die sie mitgebracht hat. Jetzt zeigt sie mir den Garten, den ich mir komplett anders vorgestellt habe. Okay, mir war eigentlich schon klar, dass nichts hier meinen Vorstellungen entsprechen wird, als ich heute Vormittag den Code in das Tor eingegeben habe. Ich habe eine moderne Villa mit Sicherheitsdienst erwartet, und stattdessen stehe ich jetzt in einem Roman von Frances Hodgson Burnett. Der geheime Garten ist früher eins von Janes Lieblingsbüchern gewesen, und das hier ist ein verdammt geheimer Garten. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, dass das Grundstück der Haydens an dieser Stelle noch weitergeht, weil hohe Hecken hier eine natürliche Abgrenzung bilden. Aber dann zeigt Abbi mir die schmale schmiedeeiserne Tür, die darin regelrecht eingewachsen ist.

  «Vorsicht, da sind Dornen», warnt sie mich, als ich für uns öffnen will, nachdem sie keine Anstalten macht, vorzugehen. Und dann entdecke ich die Rosen, die sich durch die immergrüne Hecke gekämpft haben und bis über den Eingang hinausragen. Ich drücke die Zweige vorsichtig beiseite und schiebe die Tür auf, die sich mit einem so lauten Quietschen wehrt, dass ich das sogar in meinem linken Ohr hören kann.

  Ich gehe durch das Tor, und holy shit, das, was ich jetzt sehe, kenne ich nur von Fotos alter Herrenhäuser aus Europa. Die weit mehr als mannshohe Hecke, die ich für das Ende des Grundstücks gehalten habe, ist in Wahrheit der Rahmen für einen alten Pool, der aber eher aussieht wie … ein Springbrunnen?

  An der Seite uns gegenüber ragt eine Mauer in die Höhe, die Steine sind versetzt, deshalb hat man fast den Eindruck, dort würde eine steile Treppe in die Höhe führen. Eine mit Moos überwucherte Treppe.

  «Früher war das ein Wasserfall», erklärt Abbi. «Noch bevor das Becken als Pool genutzt wurde. Ursprünglich hat man das hier als Teich mit Wasserpflanzen angelegt. Erst in den zwanziger Jahren wurde es dann zum Schwimmbecken umfunktioniert. Das Becken wird einmal die Woche gereinigt, aber der Betrieb lohnt sich eigentlich gar nicht, weil wir es kaum nutzen.»

  Kaum nutzen? Verdammt, wenn ich hier wohnen würde, müsste man mich aus diesem Pool rausoperieren. Ich habe noch nie etwas so Mystisches gesehen wie diesen Ort. Vor allem die Frauenstatue mitten im Wasser. Sie steht auf einer Säule, aber weil der Wasserspiegel so hoch reicht, wirkt es, als würde sie auf dem Wasser laufen. Ich versuche mir vorzustellen, wie es aussieht, wenn es regnet und das Regenwasser von ihrer ausgestreckten Hand tropft.

  «Kein Wunder, dass du so Heimweh hattest», sage ich in Gedanken und mehr zu mir selbst. «Ich werde wahrscheinlich heute Abend schon Heimweh nach diesem Pool haben.»

  «Das wirst du nicht mehr sagen, wenn du merkst, wie kalt das Wasser ist.»

  Der größte Teil des Beckens liegt wegen der hohen Hecken im Schatten, vermutlich ist es trotz der hohen Temperaturen deswegen recht kühl. Nur dass ich das nicht am eigenen Leib spüren werde, weil: Der Therapeut geht nicht mit ins Wasser, verdammt!

  An dem Ende, an dem wir stehen, führt eine gemauerte Treppe ins Becken. Es ist nicht gefliest, weshalb das Wasser über dem grauen Stein fast dunkel wirkt. Okay, jetzt ist es Fakt: Das ist mein erstes Mal. Das erste Mal bin ich verliebt in einen Pool, in einen Garten. Man fühlt sich hier vollkommen abgeschieden von der Welt. Die Hecken verschlucken jedes Geräusch, und diese Farben, die Stille, der verdammte Rosenduft, das alles lässt mich tief Luft holen.

  Dann zieht Abbi ihren Morgenmantel aus und legt ihn auf einer steinernen Sitzbank ab, die sich nah an die Hecken schmiegt. Ich sehe sie nur von hinten
und, bei Gott, ich kann den Blick nicht von ihr abwenden. Die Träger ihres Badeanzugs laufen zwischen ihren Schulterblättern in einem kleinen Metallring zusammen. Von dort zieht sich ein einzelner schmaler Streifen über ihre gesamte Wirbelsäule nach unten. Bis zu einem Punkt, wo irgendwann wieder mehr Stoff da ist.

  Obwohl es so heiß ist, reibt sie sich über die Arme, und ich spüre den spontanen Drang, mich hinter sie zu stellen und ihre Hände durch meine zu ersetzen. Den spontanen und für einen Therapeuten absolut unangebrachten Drang.

  Kann ich das unterdrücken?

  Ja.

  Fällt mir das leicht?

  Hölle, nein!

  «Willst du dich nicht auch ausziehen?», fragt sie mich, als sie sich zu mir umdreht und ich immer noch wie festgenagelt auf der Stelle stehe.

  Am liebsten würde ich auflachen. Wen interessiert schon, was ich will? «Du gehst allein ins Wasser, ich kann vom Rand aus viel besser sehen, ob du die Übung richtig machst.» Was der Wahrheit entspricht.

  «Oh, okay.»

  Mit den Krücken humpelt sie in Richtung Beckenrand. Ich schätze, das dauert jetzt. Jane braucht immer eine Ewigkeit, wenn das Wasser auch nur ein klitzekleines bisschen kalt ist. Es ist jedes Mal ein Riesentheater, sie macht erst ihre Füße nass, dann die Beine. Kreischt auf, wenn das Wasser an ihren Bauch kommt und stößt in Panik wüste Drohungen aus, wenn man auch nur einen einzelnen Wassertropfen in ihre Richtung spritzt. Und Abbi ist im Gegensatz zu Jane auch noch gehandicapt. Ich warte darauf, dass sie zur Treppe geht und sich dort erst mal auf die erste Stufe stellt, aber sie geht direkt an den Rand, wo es tief ist, balanciert auf einem Bein und lässt die Krücken langsam zu Boden gleiten.

  «Soll ich dir helfen?», frage ich sie in derselben Sekunde, in der sie plötzlich die Arme nach vorne nimmt und einfach kopfüber ins Becken springt. Ich bekomme fast eine Herzattacke, als sie untertaucht und dann keuchend wieder an die Oberfläche gelangt.

 

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