«Ja.» Ich räuspere mich. Dann drückt er mein Gelenk auf einmal so heftig, dass ich einen überraschten Laut ausstoße und sofort auf dem Sofa nach hinten rutsche.
«Schsch, alles in Ordnung. Keine Angst, Prinzessin.» Unter seinem Ärmel blitzt eine goldene Uhr hervor, als er den Arm ausstreckt und mein Bein wieder heranzieht.
«Aber das tut weh.»
«Du hast schon Schlimmeres überstanden, mein Mädchen. Reiß dich zusammen.» Er lächelt, als er mein Bein erneut anwinkelt und nach außen dreht. Ich ziehe die Luft ein.
David kommt herein und stellt unsanft ein Glas auf dem Tisch ab. «Ihr Bourbon, Sir.» Er hält die Karaffe noch in der Hand.
«Ich danke Ihnen.» Dr. Muller lässt mein Bein los, um das Glas hochzunehmen und den Inhalt zu begutachten. Weil mein Knie jetzt wirklich brennt, werfe ich David einen Hilfe suchenden Blick zu, während Dr. Muller den ersten Schluck nimmt.
«Sie können gehen», sagt er dann, und als David nicht reagiert, fügt er hinzu: «Ich bin nicht sehr geduldig, wenn man mir meine Zeit raubt. Und mich wiederholen zu müssen, ist eindeutig Zeitverschwendung.»
«Entschuldigen Sie, Sir, aber so, wie Sie gerade Abbis Bein untersuchen, kommt mir das auch wie Zeitverschwendung vor.» Er runzelt die Stirn und stellt die Karaffe ab. «Oder wollen Sie meine Arbeit der letzten Wochen zunichtemachen?»
«Ihre Arbeit?» Er spuckt die Worte geradezu aus. «Ich kann den Zustand eines Gelenks wohl besser beurteilen als Sie.»
«Das stelle ich gar nicht in Frage. Nur vielleicht nicht unbedingt unter dem Einfluss von Bourbon.»
Dieser Satz hallt in meinem Kopf wider. Dr. Muller lacht zwar auf, aber ich halte entsetzt den Atem an. Doch David lässt es damit nicht auf sich beruhen. «Ich will nicht respektlos erscheinen, Sir. Aber wie viel haben Sie heute schon getrunken?»
«David», flüstere ich. Die Frage ist so ungeheuerlich, dass mir die Luft wegbleibt. Oh mein Gott. Wirft er meinem Arzt gerade wirklich vor, betrunken zu sein? Wie kommt er darauf?
«Längst nicht genug, um mir eine solche Frage gefallen zu lassen. Von einem Studenten.» Mit zwei Fingern öffnet Dr. Muller die beiden Knöpfe an seinem Handgelenk und krempelt gemächlich den Ärmel zurück.
Meint David das wirklich ernst? Meine Gedanken rasen. Hat er von seinen Kollegen etwas über ihn gehört?
Jetzt schiebt David seine Hände in die Hosentaschen. Das macht er immer, wenn er sich zurückhalten will, das ist mir schon ein paarmal aufgefallen. «Dr. Muller, ich denke nicht, dass Sie noch in der Verfassung sind, Patienten zu behandeln.»
«Nun, Sie sagen es, Junge. Sie denken nicht!» Dr. Muller richtet sich erbost auf. «Raus mit Ihnen!»
Mein Puls jagt. Mein Vater wird David rausschmeißen. Ich muss Dr. Muller irgendwie beschwichtigen, aber ich weiß nicht, wie. «Vielleicht sollten wir …» Oh Gott, ich weiß nicht, wie der Satz enden soll.
«Abbi?» David wirft mir einen fragenden Blick zu.
Ich will nicht, dass er geht, aber … aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Dr. Muller wirklich betrunken ist. Er ist nur launisch und ungeduldig wie eigentlich immer. Wenn ich darauf bestehe, dass David dabeibleibt, wird er vermutlich erst recht ausflippen.
«Ist schon gut, David», höre ich mich sagen. «Es dauert ja nicht lange.»
«Sicher?»
Der Arzt hat sich mein Knie schon angesehen, wenn ich jetzt den Mund halte, ist es in fünf Minuten vorbei, und er geht, ohne dass die Situation eskaliert. «Ja, klar.» Ich bemühe mich, zuversichtlich zu lächeln.
Dr. Muller verliert die Geduld. «Verschwinden Sie gefälligst, Junge!»
David reagiert nicht darauf, spricht weiterhin nur mit mir. «Es ist deine Entscheidung.» Er presst die Kiefer aufeinander, und weil ich nichts mehr erwidere, geht er. Aber ich kann sehen, dass er die Tür nur anlehnt.
«Unverschämter Kerl», sagt Dr. Muller mit einem abfälligen Kopfschütteln und nimmt noch einen Schluck, bevor er das Glas abstellt. «Dabei bist du einem guten Bourbon doch auch nicht abgeneigt, nicht wahr, Prinzessin? Und jetzt einmal das Höschen ausziehen, bitte, damit ich mir deine Hüfte ansehen kann.»
Mir bricht der Schweiß aus. Was soll das denn? «Das ist gar nicht nötig, glaube ich.»
«Ich habe nicht den ganzen Abend Zeit, Abigail. Du kennst das doch von deinem Vater. Ich muss noch zu einem Dinner, und ich bin schon spät dran.»
Ich nicke und knöpfe meine Jeans auf. Mir ist bewusst, dass sein Verhalten nicht in Ordnung ist, aber ich weiß nicht, wie ich aus dieser Situation rauskommen soll, ohne ihn zu brüskieren. Er ist ein Freund meiner Eltern, und er ist der Arzt, der mich operiert hat und dem ich eigentlich dankbar sein müsste. Trotzdem schlägt mir das Herz bis in den Hals, weil er so unwirsch ist, so ungehalten.
Ich streife die Hose nach unten zu meinen Knöcheln, wo Dr. Muller sie ungeduldig wegzerrt. Lass es einfach nur schnell vorbei sein, bitte. Ich will an etwas Schönes denken. An die Therapie, als ich mit David Musik gehört habe, zum Beispiel. Sie hat mich abgelenkt, und nun versuche ich, die Erinnerung daran heraufzubeschwören. In Gedanken summe ich das Lied, das David auf der Playlist für seine Mutter hat.
No need to run and hide, it’s a wonderful, wonderful life.
Aber als Dr. Muller sich jetzt über mich beugt, ist das Leben nicht schön, ich kann den Alkohol in seinem Atem riechen, und das kann unmöglich allein von dem bisschen stammen, das er hier getrunken hat. Oh Gott, David hat recht. Er ist betrunken.
Vielleicht ist das nicht das erste Mal. Vielleicht passiert ihm das öfter. Vielleicht hatte er getrunken, bevor ich nach dem Unfall von ihm behandelt wurde.
Diese Gedanken fressen sich in meinen Kopf. Ich will nur noch, dass es vorbei ist. Ich werde freundlich bleiben, er untersucht kurz meine Hüfte, trinkt sein Glas aus und fährt zu seinem Dinner. Und danach werde ich meinem Dad sagen, dass ich nie wieder von ihm untersucht werden will. Er wird das akzeptieren müssen.
«Das war ein ganz schöner Akt mit deinem Hüftgelenk. Aber du bist ein robustes Mädchen. Scheinst inzwischen keine Beschwerden mehr damit zu haben.»
«Es ist viel besser geworden», sage ich schnell und rede einfach weiter, um ihn bei Laune zu halten. «Die Röntgenkontrolle war ohne Befund. Ich hatte trotzdem noch Schmerzen, aber David hat herausgefunden, wodurch der Ischiasnerv gereizt wurde, und durch die Übungen, die wir machen, ist das fast ganz verschwunden.»
«Ja, wenn David das rausgefunden hat …» Im nächsten Moment spreizt er mein Bein nach außen. Und das so plötzlich, dass ich einen Schmerzenslaut kaum noch unterdrücken kann. «Was denn, mein Mädchen? So schlimm?» Er schiebt meinen Oberkörper zurück, und ich kralle mich im Sofakissen fest.
No need to run and hide, it’s a wonderful, wonderful life.
Seine Finger tasten sich nach oben. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Er ist grob, er ist betrunken, und er hat mir schon wieder weh getan. Und nun drückt er mit den Fingerspitzen in meine Leiste, was mir Übelkeit verursacht. Als seine andere Hand die Innenseite meines Oberschenkels entlangfährt, überläuft mich ein Schauer. Es ist die Hand, an der er seinen Ärmel hochgekrempelt hat, und nun reibt sein nackter Unterarm über meine Haut.
«Du bist doch schon einundzwanzig, oder?»
Ich nicke nur, weil ich es nicht schaffe, eine Antwort herauszupressen.
«Ich habe gehört, dass dir leider dein Prinz abhandengekommen ist. Deine Mutter hat es erwähnt. Das ist so schade.»
Konzentrier dich, Abbi! Mit aller Gewalt schlucke ich die aufkommende Panik hinunter. Er ist betrunken, er ist übergriffig, und ich muss das beenden. Ich kann nicht meiner Mutter zuliebe so tun, als wäre das hier okay. Ich kann das nicht einfach aussitzen. Ich will es nicht. David hat gesagt, dass ich nach dem Unfall passive Bewältigungsstrategien entwickelt habe – aber etwas einfach auszuhalten, macht es oft nur schlimmer.
Dr. Mullers Finger kneten meinen Oberschenkel.
«Können Sie bitte damit aufhören?»
«Aber wir fangen doch gerade erst an.» Er lächelt, und dabei fällt mir das erste Mal auf, wie unnatürlich weiß seine Zähne sind. Außerdem atmet er
schwer, und mit jedem Atemzug, den er ausstößt, weht mir der Alkoholgeruch ins Gesicht. Er muss völlig betrunken sein, sonst würde er sich nicht so aufführen. David ist direkt nebenan. Ist ihm das völlig egal?
«Ich will das nicht. Hören Sie auf!» Ich versuche, seine Hand wegzudrücken, aber er ist verdammt stark. Und nun werde ich doch panisch. Mit beiden Händen schiebe ich ihn von mir weg, doch er bekommt meine Handgelenke zu fassen und nimmt sie wie in einer Schraubzwinge gefangen.
«David», schreie ich. Reflexartig ziehe ich mein gesundes Bein an und trete aus. Ich bin von mir selbst schockiert, und auch Dr. Muller ist darauf nicht gefasst gewesen, deshalb lässt er überrascht meine Hände los. Die Zimmertür kracht gegen die Wand. Und nun stemme ich mit ganzer Kraft meinen Fuß gegen seine Seite, bis er vom Sofa runterrutscht und gegen den Tisch stößt. Oh Gott, ich habe ihn getreten. Ich spüre ein hysterisches Lachen in mir aufsteigen. Vielleicht ist es auch ein Schluchzen.
«Was bist du nur für ein dummes Miststück!», blafft er mich an.
«Das reicht.» David sieht so grimmig aus, dass ich mir sicher bin, er hat nur auf diesen Moment gewartet. Er packt Dr. Muller an der Schulter.
«Nimm sofort deine Pfoten weg, Junge.» Sein Haar ist nun nicht mehr ordentlich zurückgegelt, sondern fällt ihm strähnig ins Gesicht. Im nächsten Moment wird er am Hemd vom Boden hochgerissen. In derselben Sekunde, in der er steht, lässt David ihn wieder los, und Dr. Muller taumelt zurück. «Du kleiner Hurensohn», stößt er aufgebracht hervor. «Was erlaubst du dir?» Mit fahrigen Bewegungen glättet er sein zerknittertes Hemd und stopft es zurück in seinen Hosenbund.
«Sie sind betrunken, Sir. Wenn Sie noch einen Rest Klarheit im Kopf haben, werden Sie sich jetzt bei Abbi entschuldigen.» David bedroht ihn nicht, er wirkt auf den ersten Blick völlig gefasst, aber an der Art, wie er die Fäuste ballt, kann ich erkennen, wie mühsam er sich beherrscht. Langsam tritt er einen Schritt nach hinten, um Dr. Muller Raum zu geben. Als unsere Blicke sich für eine Sekunde treffen, muss ich schlucken.
Meine Hüfte brennt wie Feuer. Aber vor allem brennt mein Gesicht vor Scham, weil ich David nicht geglaubt habe, weil ich nicht sofort verstanden habe, was hier passiert. Ich weiche bis zum Ende des Sofas zurück und schlinge die Arme um meine nackten Knie.
Dr. Muller lacht auf. Überrumpelt und völlig fassungslos. «Ich entschuldige mich nicht.»
«Das spielt eigentlich auch keine Rolle mehr. Die Untersuchung ist hiermit beendet, Sir.»
«Ich lasse mir doch nicht von einem dämlichen Arzthelfer sagen, wann meine Untersuchung beendet ist. Das ist lächerlich. Verpiss dich, Junge.»
«Sie können das gerne lächerlich finden.» Davids Stimme klingt immer noch ruhig. «Aber draußen.» Er zeigt zur Tür.
Dr. Muller lacht nur wieder. Er bückt sich, greift gemächlich nach dem Bourbonglas und trinkt es in aller Seelenruhe aus. Er sieht nicht so aus, als würde das, was David gesagt hat, ihn irgendwie beeindrucken. Was, wenn er jetzt handgreiflich wird? Dr. Muller kommt mir unberechenbar vor. Wenn er David angreift, dann muss ich die Polizei rufen. Fieberhaft überlege ich, wo mein Handy ist. Wahrscheinlich oben auf meinem Schreibtisch. Neben der Lampe, die David vorhin eingeschaltet hat, steht aber das alte Festnetztelefon, das kaum noch jemand nutzt, das kann ich mit ein paar Schritten erreichen. Zur Not auch ohne Krücken.
«Es tut mir leid, Dr. Muller», sage ich schnell, um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. «Bitte … bitte gehen Sie einfach. Ich kann Ihnen ein Taxi rufen.»
In dem Moment knallt er das Glas auf den Tisch. Mit so viel Wucht, dass der Fuß abbricht und der Rest auf dem Boden landet, wo das Glas klirrend kaputtgeht.
18. Kapitel
David
Ich bringe ihn um. Wenn er Abbi auch nur noch einmal anfasst, bringe ich ihn um. Es ist mir egal, ob der Dreckskerl betrunken ist. Er weiß genau, was er tut.
Ich wünschte, ich hätte ihn gar nicht erst reingelassen. Ich wusste, dass Abbi wegen ihm nervös ist. Und schon als er zur Tür reingekommen ist, meinte ich, Alkohol zu riechen, aber er hat so viel von diesem ekelhaften Aftershave benutzt, dass ich mir nicht sicher sein konnte. Ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen.
Verdammt, ich bin unendlich wütend auf mich selbst, weil Abbi sich das wahrscheinlich nur von ihm hat gefallen lassen, um ihn wegen mir zu beschwichtigen.
Das Glas zerbricht, als er es abstellt, und das ist jetzt wirklich genug. Ich schnappe mir seine Arzttasche. «Ich bringe Sie jetzt raus, Sir.»
Muller dreht sich mit einem gelangweilten Lächeln zu mir um. Und dann …
Das Schlimme ist: Ich sehe es kommen. Seine Reaktion ist nicht mehr die schnellste, und ich sehe genau, wie er ausholt. Für den Bruchteil einer Sekunde schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich ausweichen muss. Aber ich bin wie gelähmt. Ich kann mich nicht wegducken. Als wäre ich wieder neun Jahre alt, bleibe ich schuldbewusst stehen und schütze mich nicht. Hebe nicht mal einen Arm. Und die Faust trifft genau mein linkes Ohr.
Der Schlag hat viel mehr Wucht als damals, aber der Schmerz schießt mir diesmal nicht ins Herz. Ich bleibe einfach stehen, in der Hand immer noch die blöde Tasche. Erst Abbis Aufschrei reißt mich aus meiner Erstarrung, ich brauche eine Sekunde, um mich zu orientieren, aber dann lasse ich die Tasche fallen, packe Muller mit beiden Händen am Kragen und ziehe ihn mit mir zur Tür. Erst in der Halle lasse ich ihn los, reiße die Haustür auf und gebe ihm einen Stoß in die richtige Richtung. «Ihre Tasche kommt sofort, Sir.»
Er fährt zu mir herum. «Das wirst du bereuen.»
«Es gibt eine ganze Menge Dinge, die ich bereue, aber das hier gehört garantiert nicht dazu.»
Ich sehe ihm lieber nicht dabei zu, wie er aufgebracht die Treppe runterstolpert, weil ich so geladen bin, dass ich ihm dann vielleicht nachsetze. Nur Sekunden später werfe ich seine Tasche in den Hof, wo sie mit einem Poltern im Kies landet. «Ich rufe Ihnen ein Taxi.»
Muller antwortet nicht, aber er wankt zu seinem Wagen. Das Licht der Zentralverriegelung leuchtet auf.
Scheiße. Ich hätte ihm die Schlüssel abnehmen sollen. Jetzt steigt der Dreckskerl auch noch in diesem Zustand in seine verdammte Karre.
«David?» Abbis Stimme lässt mich herumfahren. Sie hat Angst, was ich gut verstehen kann, mir steht das Adrenalin selbst bis zum Hals. Aber ich muss erst … Ich habe den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da fährt der Wagen mit quietschenden Reifen los.
Gottverdammt.
Ich werfe die Haustür wieder zu, ziehe mein Handy aus der Tasche und wähle, ohne groß nachzudenken, die 911. Die andere Hand lege ich auf meine brennende Ohrmuschel. Es klingelt nur zweimal, bis der Anruf angenommen wird. Ich gebe meinen Namen und die Adresse durch, dann schildere ich kurz den Sachverhalt. «Ein 7er BMW Sedan, Farbe wahrscheinlich schwarz, das konnte ich im Dunkeln nicht genau erkennen.» Ich habe mir das Nummernschild gemerkt und gebe auch diese Information weiter, dabei gehe ich zurück ins Wohnzimmer, wo Abbi ohne Krücken mitten im Raum steht. «Der Fahrer ist stark alkoholisiert und aufgebracht. Er fährt gleich auf die 89 und dann Richtung Concord. Wenn er so weit kommt», füge ich noch hinzu. Der Mann am Telefon lässt mich noch mal meine Personalien wiederholen, dann lege ich auf und stecke das Handy in die Tasche.
«Du hast die Polizei angerufen?» Abbi sieht schockiert aus, und ich verstehe nicht wieso.
«Natürlich habe ich die verdammte Polizei angerufen. Der Dreckskerl hat sich betrunken hinters Steuer gesetzt. Genauso gut könnte er mit einer ungesicherten Waffe herumfuchteln, Abbi. Er bringt damit auch andere in Lebensgefahr.»
«Ja, das … das stimmt, aber du … du hast …» Sie sieht aus, als würde sie jeden Moment umkippen. Abbi steht nur in Unterwäsche und T-Shirt vor mir, und mir schnürt sich die Kehle zu, weil sie für dieses Dreckschwein auch noch ihre Hose ausziehen musste. Ich will sie fragen, ob es ihr gutgeht, aber ich sehe auch so, dass das nicht der Fall ist.
«Ist … ist alles okay mit dir?», fragt sie stattdessen mich, und ich würde lachen, wenn die Situation nicht so beschissen wäre. Humpelnd kommt sie auf mich zu. Ohne Krücken, und das muss ihr zi
emliche Schmerzen bereiten, denn sie verzieht gequält das Gesicht. «Dein Ohr.»
«Was?» Und jetzt erst dämmert mir, warum sie so schockiert aussieht. Nicht weil ich die Polizei gerufen oder Muller vor die Tür gesetzt habe, sondern weil ihr Arzt mich geschlagen hat.
«Du hältst dein Ohr fest, David.» Schritt für Schritt kommt sie mir näher. «Hat er dich verletzt? Tut es weh?»
Sie sieht aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen, und erst jetzt wird mir bewusst, dass es stimmt, was sie sagt. Ich presse die ganze Zeit eine Hand auf mein Ohr. Aber ich kann nicht anders, es glüht wie Eisen.
Als Abbi mich erreicht, berührt sie vorsichtig meinen Handrücken, und ich lasse zu, dass sie meine Hand wegzieht. Es ist egal, ich höre darauf so oder so kaum etwas. Aber ihre Finger sind eiskalt, was sich echt gut anfühlt. Sie legt die Handfläche schützend über mein Ohr, mit der anderen Hand streicht sie mir das Haar aus der Stirn, und aus irgendeinem Grund hört sie nicht mehr damit auf. Als wäre ich derjenige, der getröstet werden müsste, was totaler Schwachsinn ist. Wieder und wieder fährt sie mir über die Stirn, dann streichelt sie über meine Wange bis runter zu meinem rauen Kinn, und ich starre wie ein Idiot ihren Mund an.
Dann schlingt sie auf einmal ihre Arme um meinen Nacken, sodass ich sie ganz automatisch festhalte. Sie in den Arm nehme. Nur damit sie nicht umfällt, sage ich mir. Nicht weil ich mir gerade ausmale, wie ich sie hochhebe und ihre nackten Beine sich um meine Hüften klammern. Ich versuche die Vorstellung sofort abzuschütteln, weil … Es würde ihr Schmerzen verursachen, und sie ist verstört nach dem, was Muller gerade mit ihr angestellt hat. Und das ruft mir in Erinnerung, dass sie meine Patientin ist.
Nur …
Hölle, ich spüre Abbis Atem an meinem Gesicht. Ihre Lippen berühren heiß meine Wange, und während ihre eine Hand mich im Nacken festhält, streichelt ihre andere meine Ohrmuschel. Sie legt ihren Mund auf meine Schläfe, meinen Wangenknochen und dann meinen Kiefer. Ich rede mir ein, dass das mit Küssen überhaupt nichts zu tun hat.
Ever – Wann immer du mich berührst Page 20