«Ja, Sir. Gute Nacht.» Ich schultere meine Tasche, trete nach draußen, und als sich die Tür hinter mir schließt, kann ich endlich wieder frei atmen. Doch dann fängt mein Hirn wieder an zu rattern.
Es muss einen Bericht von Dr. Muller über Abbi geben, alles andere ergibt gar keinen Sinn.
Und den werde ich mir ansehen.
Noch auf dem Weg zu meinem Wagen ziehe ich mein Mobiltelefon aus der Hosentasche und schicke Kadence eine Sprachnachricht. Weil es verdammt spät ist, wird sie sie erst morgen abhören, aber das spielt keine Rolle.
«Hey, Kadence. Du hast doch gute Kontakte zum Concord-Hospital. Kannst du mir eine Kopie von Abbi Haydens Akte besorgen? Ich muss da mal etwas nachgucken. Und nein, frag besser nicht.»
Denn das, was Hayden da angedeutet hat, kann ich nicht einfach so stehenlassen. Und danach rufe ich Noah an, um ihn zu fragen, ob er oder sein Dad jemanden von der Presse kennen. Falls Muller verhaftet worden ist, dann werden sie ganz sicher keinen Namen rausgeben, aber sie müssen der Presse bestätigen, dass es eine Festnahme eines betrunkenen Autofahrers gegeben hat.
William Hayden glaube ich nicht ein einziges Wort, das aus seinem verdammten Mund kommt.
20. Kapitel
Abbi
Seit dem Vorfall mit Dr. Muller steht vierundzwanzig Stunden am Tag ein schwarzer SUV vor unserem Tor. Der Wagen ist immer derselbe, nur die Fahrer wechseln. Lorraine hat sich beschwert, dass sie jedes Mal, wenn sie das Grundstück betritt, wie eine Kriminelle behandelt wird. Sie muss sich ausweisen und in ein Gästebuch eintragen.
Am ersten Tag nach diesem grauenvollen Abend hat David das gemacht, was er Soft Tissue Therapy nennt, eine Kombination von Massage, Triggerpunkttherapie und ischämischer Kompression, bei der er mich mit Ellbogen, Daumen oder Fingern bearbeitet. Danach ging es mir zwar körperlich besser, aber … Gott, Muller hat ihn geschlagen. Das sind Bilder, die so schlimm sind, dass ich sie einfach nicht verdrängen kann. David vor mir zu sehen, wie er unbewusst die Hand auf sein taubes Ohr presst, bricht mir jetzt noch das Herz. David ist nicht schwach. Er hätte zurückschlagen können, aber er hat es nicht getan, weil ihm Gewalt offenbar völlig fremd ist. Und ununterbrochen denke ich daran, wie ich ihn danach berührt und getröstet habe. Ich kann immer noch seine Schläfe an meinem Mund spüren, seine Wange oder wie sich sein Haar angefühlt hat und seine Hände an meinem Rücken.
Meine Eltern sind inzwischen seit sechs Tagen in ganz New Hampshire auf Wahlkampftour unterwegs. Aber jeden Morgen finde ich ein anderes Origami vor meiner Zimmertür und weiß, dass David da ist. Ich sammle sie alle auf meiner Fensterbank. Manchmal sind sie aus einer alten Buchseite, manchmal nur aus weißem Papier. Aber jedes Mal, wenn ich eins davon entdecke, strömt Wärme durch meinen Brustkorb. Etwas hat sich seit dieser Nacht verändert. David zuckt nicht mehr zurück, wenn ich ihn aus Versehen berühre. Aber ich habe bemerkt, dass er dabei jedes Mal den Atem anhält. Vielleicht hat es nichts zu bedeuten. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Nur eins ist sicher: Ich kann mich nicht daran gewöhnen. Im Gegenteil.
Ich ertappe mich dabei, wie ich immer öfter seinen Blick suche. Wie ich darauf warte, dass er mich mit seinen Gewitteraugen ansieht. Er lächelt nicht dabei, aber manchmal flackert etwas in seinem Blick auf, das ich nicht deuten kann. Etwas, wonach ich mich sehne. Etwas, das dunkel ist und wild. Und ich wünschte, er würde mir sagen, was in ihm vorgeht.
David ist still. Aber er ist auch der geduldigste Mann der Welt, das merke ich bei jeder einzelnen Therapieeinheit. Das einzig schlechte Workout ist kein Workout, sagt er, wenn ich nicht zufrieden mit mir bin. Und inzwischen bin ich tatsächlich so weit, dass ich morgens, noch bevor ich aus dem Zimmer humpele und sein Origami finde, Push-ups gegen die Zimmerwand mache. Achtzig schaffe ich jetzt mit einer kleinen Pause dazwischen und kann meinen Bizeps wieder spüren. Irgendwann, wenn es meinem Knie nichts mehr ausmacht, will ich das auf dem Boden können so wie David, aber davon bin ich noch weit entfernt.
Im Moment liege ich flach auf dem Rücken auf der mobilen Liege im Esszimmer, in dem auch der kleine Sekretär steht, an dem David immer lernt. Weil er das heute den ganzen Nachmittag über gemacht hat, liegen die Bücher noch offen auf dem Tisch. Über mir dreht sich der Ventilator, und ich trage nur meine Unterwäsche und ein übergroßes Handtuch. Mein rechtes Bein liegt frei. David hebt es am Knöchel hoch und spreizt es vorsichtig gestreckt nach außen, testet aus, wie flexibel das Hüftgelenk ist, wie weit er es dehnen kann, ohne dass es unangenehm zieht. Nun stellt er meinen Fuß gegen seine Leiste auf.
Die Sonne steht schon tief, Staubkörner tanzen in dem Lichtschein, der durch die zarten Gardinen fällt. Aber ich habe nur Augen für Davids Gesicht. Ich mag es sehr, wie sich zwei kleine Falten schräg über seinen beiden Brauen bilden, wenn er sich konzentriert, und sich dann sein Adamsapfel bewegt, wenn ihm auffällt, dass er so in seine Arbeit versunken war, dass er vergessen hat, zu schlucken.
Der Geruch nach Premax, der Massagecreme, die David benutzt, breitet sich nun im ganzen Raum aus, als er etwas davon auf meinem Oberschenkel verteilt. Es ist eine Mischung aus Pfefferminz und Lavendel, und wahrscheinlich werde ich für den Rest meines Lebens an David denken, wenn ich eins dieser Kräuter rieche. Ich denke schon morgens daran, wenn ich den kalten Minztee aus dem Kühlschrank hole.
Erst mit den Fingern, dann mit der Handkante fährt David über die Innenseite meines Oberschenkels. Bei der nächsten Bewegung streicht er hoch bis zu meiner Leiste, und mein Bein zuckt, deshalb hält David mich kurz fest. Er fängt an zu grinsen. «Irgendwann binde ich dich an, Abigail Hayden.»
«Verzeihung, Mr. Rivers», antworte ich. Trotz des Ventilators ist es unglaublich warm in diesem Zimmer, und in der Kombination mit dem Geruch der Massagecreme wird mir fast schwindelig.
Als sich unsere Blicke treffen, bekomme ich eine trockene Kehle. Weil David die Kiefer aufeinanderpresst und sein Hals sich rötet. Mit dem Unterarm wischt er sich über die Stirn und pustet geräuschvoll den Atem aus. «Okay, ähm, es gibt hier zwei Triggerpunkte an deinem Oberschenkel. Aber das muss ich langsam angehen, weil es eine heikle Zone ist. Ich meine, empfindlich, eine empfindliche Zone», verbessert er sich. «Ich stabilisiere jetzt dein Knie mit der linken Hand, dann streiche ich mit der Faust deinen Muskel aus, okay?»
«Okay.»
Seine Faust drückt sich langsam Zentimeter für Zentimeter vorwärts bis in meine Leiste. Er benutzt diese Massagecreme, weil er damit besseren Grip hat, hat er erzählt. Wenn er Öl nimmt, rutscht er leichter ab. Wenn er jetzt gerade abrutschen würde … Daran muss ich denken, was nicht gerade dazu beiträgt, meinen Puls zu beruhigen. Ich halte jedes Mal den Atem an, wenn er an meiner Leiste angekommen ist, und hole tief Luft, bevor er wieder von vorne anfängt. Ich wünschte, er wäre nicht so weit weg, und die Vorstellung, ihn an mich ranzuziehen, lässt es in mir pulsieren.
«Ist das noch angenehm für dich?», fragt er.
«Ja, sehr.» Oh Gott, Abbi!
«Ähm, okay.» Er hört auf und hebt mein Bein, winkelt damit mein Hüftgelenk und mein Knie um neunzig Grad an und bewegt es nach außen. «Ich teste nur aus, ob es einen Widerstand gibt. Wenn dir was weh tut, sag es sofort.»
Ich nicke.
David scheint mit dem Ergebnis nicht ganz zufrieden zu sein, denn er stellt meinen Fuß wieder auf die Liege und nimmt noch mehr Premax aus der Dose, bevor er mit rechts mein Knie nach innen drückt und mit der linken Hand anfängt, die Außenseite meines Oberschenkels nach oben zu kneten. Ich drehe mich zur Seite mit dem Rücken zu ihm, und David schiebt sein rechtes Knie auf die Liege unter meine Kniekehle. Daran bin ich schon gewöhnt, aber diesmal kleben seine Shorts durch das Premax an mir fest und haben sich mit nach oben bewegt. Seine nackte Haut trifft auf meine. Ich muss schlucken und schließe schnell die Augen. Ich habe keine Ahnung, was er jetzt macht, und es ist auch egal. Seine Hände sind warm und fest. Keine Sekunde lässt er mich los, was dazu führt, dass ich mich fallen lasse.
Ich vertraue David.
In diesem Moment wird mir einmal mehr klar, wie sehr ich ihm vertraue. Es ist ganz egal, was er macht, es ist auch egal, ob
er es ankündigt, mich vorwarnt oder nicht. Ich habe seine Hände schon an so vielen Stellen meines Körpers gespürt, und immer hat es mir geholfen, hat mir Schmerz genommen oder mich entspannt. Er könnte mich wirklich festbinden. Er könnte mir zusätzlich noch die Augen verbinden, und ich würde mich trotzdem sicher fühlen. Was das genaue Gegenteil von dem ist, wie ich mich bei Ryan gefühlt habe. Bei Ryan konnte ich mich nie fallen lassen. Er war hektisch, irgendwie unbeholfen und zuletzt auch noch verletzend.
Alles an David ist verlässlich, fest, gleichmäßig. Alles an ihm ist anziehend. Oh Gott, wenn er auch nur ahnen würde, wie sehr er mich anzieht! Er weiß immer genau, was er tut – und was nicht. Und das sorgt dafür, dass mein Brustkorb sich vor Sehnsucht zusammenkrampft. Ich halte die Augen geschlossen und rieche ihn. Ich fühle ihn. Seine Faust, die meinen Muskel lockert, seine Fingerkante, die ihn langsam und gemächlich ausstreicht. Selbst die Art, wie er atmet, ist verlässlich, gleichmäßig und verführerisch. Ich möchte diesen Atem auf meiner Haut spüren, an meinem Ohr, meinem Hals, in meinem Mund.
Oh Gott, jetzt in diesem Augenblick will ich ihn so sehr anfassen, dass es mich verbrennt. Ich kann nicht mehr klar denken, und dann höre ich ganz damit auf. Weil ich ihm das, was in mir vorgeht, sowieso nicht sagen kann. Nicht mit Worten.
David fährt mit der Hand runter bis zu meinem Unterschenkel, um die Lage meines Beins zu korrigieren, und das ist der Augenblick, wo ich die Hand ausstrecke. Ohne irgendeinen Plan, ohne irgendwas zu denken. Meine Fingerspitzen berühren erst mein eigenes Bein, dann seins darunter. Ich kann einfach nicht anders. Selbst wenn jetzt eine Bombe in diesem Zimmer detonieren würde, könnte ich nicht damit aufhören. David bewegt sich keinen Millimeter. Ich habe die Augen immer noch geschlossen und fahre an seinem Oberschenkel nach oben, gleite unter den Saum seiner Shorts, streichle ihn und seufze auf. Ich ziehe die Hand zurück und lasse sie langsam zu Davids Hintern gleiten.
Mein Atem geht schwer, als würde ich gerade Klimmzüge machen, dabei tastet meine Hand weiter über Davids angespannte Muskeln, schieben sein Shirt nach oben, bis ich die Haut oberhalb seines Hosenbunds spüren kann. Gänsehaut. Die habe ich auch. Überall. Drängender fährt meine Hand wieder runter über seinen Hintern bis zum Oberschenkel, wo ich sie erneut in seine Shorts schiebe. Ich liebe es, wie warm seine Haut ist, wie sich die feinen Haare an seinem Bein anfühlen und sich nun auch dort eine Gänsehaut bildet. Ich drücke mich fester an ihn und gebe ein Stöhnen von mir. Sein Name kommt mir atemlos über die Lippen. Eben hatte ich sie noch zusammengepresst, aber das Keuchen aus meiner Kehle hat mich aufgebrochen.
«Abbi.» David klingt ganz anders als sonst. Fremd und gepresst. In der nächsten Sekunde schiebt er meine Hand weg. Sein Bein löst sich von meinem, und ich schlage panisch die Augen auf.
«Oh mein Gott!» Und jetzt detoniert wirklich etwas in diesem Raum. Mein Kopf. Nach mehreren Sekunden setzt mein Denken wieder ein, und mir wird klar, dass ich ihn gerade einfach so angefasst habe. Sehr intim angefasst habe. Heilige Mutter Gottes, ich habe meinen Therapeuten sexuell belästigt! Und ich bin so schockiert über mich selbst, dass ich mich auf der Liege wegrolle.
Ich muss hier weg.
Sofort.
Aber die Liege ist zu schmal. Plötzlich ist da nichts mehr unter mir. Ich merke noch, wie David versucht, mich am Bein festzuhalten, dann falle ich von der schmalen Pritsche runter und knalle hart auf dem Fußboden auf. Autsch. Mein Ellbogen, meine Hüfte, mein Knie. Alles pocht wie verrückt, alles steht in Flammen. Aber am meisten brennt mein Gesicht.
Mit einem Satz ist David da und kniet neben mir. «Scheiße, Abbi. Hast du dir weh getan?»
Natürlich habe ich mir weh getan. «Nein. Nein!» Ich kann ihm nicht mal in die Augen sehen. Scham überflutet mich in einer heißen Welle, erstickt mich. Keuchend will ich mich von ihm wegbewegen, aber meine Handgelenke stechen wie verrückt, weil ich mich im Sturz damit abgefangen habe. Ich starre auf den Fußboden. «Bitte geh weg, David.»
«Hey.» Seine Stimme ist beruhigend, und er berührt mich sanft am Arm. «Ich helfe dir. Komm schon, Abbi. Lass mich dir hochhelfen.»
«Nein. Oh Gott. Bitte lass mich allein.» Ich schiebe seine Hände weg und drehe das Gesicht zur Seite.
«Verdammt, ich will nur sehen, ob alles in Ordnung ist, dann gehe ich, versprochen.»
«Geh jetzt!», fauche ich. Mein Puls rast, und meine Hände zittern, ich lege das Gesicht hinein, um ihn nicht ansehen zu müssen. David berührt immer noch meine Schulter, und ich spüre, wie unentschlossen er ist. «Sicher, dass du keine Hilfe brauchst?»
«Verschwinde! Geh!»
Seine Hand zieht sich zurück, und was bleibt, ist eine kalte Stelle. Die einzige Stelle meines Körpers, die nicht vor Reue brennt.
«Okay. Dann … Ich warte draußen auf dich.»
Ich hoffe, das meint er nicht ernst. Ich hoffe, er fährt nach Hause. Ich hoffe, das alles ist nur ein Albtraum. Oh Gott, ich habe ihn angefasst, obwohl er das nicht wollte. Das Ganze ist so entsetzlich, dass ich nicht weiß, wie ich ihm jemals wieder unter die Augen treten soll.
Als ich höre, wie er leise und vorsichtig die Zimmertür schließt, breche ich in Tränen aus. Ich habe alles kaputtgemacht. Alles.
21. Kapitel
David
Scheiße.
Sie muss sich weh getan haben bei diesem Sturz. Diese verdammte Liege! Ich habe nicht aufgepasst, war so verdattert, dass ich zu spät reagiert habe.
Ich glaube, Abbi ist völlig verwirrt. Und ich bin es irgendwie auch. Keine Ahnung, was das gerade war, aber diese Entwicklung kommt mir auf einmal so logisch vor, dass ich wie ein Schwachkopf auflachen könnte. Ich weiß, dass das keinen Sinn ergibt. Wie kann etwas gleichzeitig logisch und unvernünftig sein? Etwas Vergleichbares ist mir noch nie passiert, und ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich damit umgehen soll. Es gibt Patienten, die reflexartig nach einem greifen, ja. Es kommt sogar vor, dass es jemand mit Absicht tut, um mich anzumachen. Mir ist es auch schon passiert, dass ein Patient mich direkt gefragt hat, ob er bei der Massage ein Happy End bekommen kann, aber das traut er sich nach meinem Vortrag vermutlich nie wieder. Eine medizinische Behandlung hat nichts, aber auch gar nichts damit zu tun, was irgendjemand sich in seiner dreckigen Phantasie ausmalt.
Nur dass Abbi in keine dieser Kategorien passt. Ich glaube, sie hat nicht mal darüber nachgedacht, was sie gerade tut. Sie hat nicht gedacht, sondern nur gefühlt, und das reißt mich von den Füßen. Weil ich nicht wollte, dass sie aufhört. Fuck, ich wollte, dass sie mich anfasst, am liebsten ohne die Scheißklamotten zwischen uns. Für einen Moment hat mein Gehirn ausgesetzt, und ich hätte in Abbi fallen können wie in einen Abgrund. Hätte mich in ihr verlieren können. Als sie sich an mich gedrängt, mich festgehalten hat, habe ich nachgegeben, habe es genossen, sie an mir zu spüren. Und als ich realisiert habe, was da gerade eigentlich passiert, ist es irgendwie auch zu ihr durchgedrungen.
Ich gehe in die Knie, fahre mir durchs Haar und stoße ein lautes Fuck aus, bevor ich einfach loslaufe. Nach draußen, auf die Terrasse, die Stufen runter über das kurzgeschorene Gras. Mein Kopf ist so voll, dass die Gedanken einfach aus mir rausbrechen. Lauter wirres Zeug. Ich halte mich nicht an den Weg, sondern jogge quer über die Wiese. Dann im Slalom um die alten Eichen, die hier überall stehen, vorbei an dem kleinen Pavillon, von dem die weiße Farbe abblättert und der von Pflanzen halb überwuchert ist. An den dichten Büschen vorbei, treffe ich wieder auf den sich schlängelnden Kiesweg und lande am Ende des Grundstücks, wo die haushohe Hecke den Pool abschirmt. Als ich die schmiedeeiserne Tür aufstoße, geht mein Atem keuchend. Einer der herabhängenden Rosenzweige kratzt mir mitten durchs Gesicht, als ich hindurchgehe. Verdammt.
Nach Luft ringend, halte ich vor dem alten Becken an. Das Wasser steht vollkommen still. Die letzten Sonnenstrahlen erhellen nur einen kleinen Teil des Beckens, alles andere liegt im Schatten. Es riecht nach Rosen, nach dem säuerlichen Aroma der Heckenpflanzen und ganz leicht nach Chlor. Die Frauengestalt in der Mitte des Wassers breitet ihre Arme aus. Sie steht seit einer Ewigkeit hier und wird auch noch Ewigkeiten hier stehen, und ich star
re auf ihre fleckigen, alten Hände mit den moosbewachsenen Fingern. Ich denke an Abbis Hände. Und daran, wie sie die Augen geschlossen und den Mund leicht geöffnet hatte, als sie mich eben gestreichelt hat.
Verdammt.
Ich streife mir das Shirt über den Kopf und werfe es mit meinen Shorts zusammen auf die Steinbank. Eine Sekunde später springe ich ins Becken und tauche unter, schwimme unter Wasser weiter. Zwei Runden schaffe ich um die Frauenstatue herum, bevor ich prustend an die Oberfläche komme, weil mir der Atem für mehr fehlt. Und dann fluche ich, weil das verdammte Wasser längst nicht kalt genug ist. Längst nicht so kalt, wie ich es in Erinnerung habe, und längst nicht so kalt, wie ich es bräuchte, um von diesem Trip runterzukommen. Unter meinem linken Auge, wo der Rosenzweig mich gestreift hat, brennt das Chlorwasser, und als ich mit den Fingern darüberfahre, ist da Blut. Nur sorgt das leider auch nicht dafür, dass ich endlich einen klaren Kopf kriege.
Vielleicht sollte ich lieber nach Hause fahren. Abbi ist wahrscheinlich froh, wenn sie mich heute nicht mehr sehen muss. Aber ich kann nicht einfach so weg. Das geht erst, wenn ich weiß, dass sie wirklich allein zurechtkommt und sich nicht ernsthaft weh getan hat. Ich hätte sie nicht allein lassen sollen. Andererseits – sie hat mich mehr oder weniger rausgeworfen.
Ach verdammt.
Mit schnellen Zügen gleite ich durch den Pool bis zu den Stufen und steige aus dem Wasser. Als ich die Eisentür quietschen höre, blicke ich auf. Abbi steht, auf ihre Krücken gestützt, im Tor und sieht völlig verloren aus. Ihre Augen sind gerötet, und sie hat sich nur ihren Morgenmantel übergezogen. Ich erstarre, während das Wasser an mir hinabrinnt.
«Ist alles okay mit dir?», frage ich nach einem Moment.
«Ich glaube ja. Aber eigentlich nein, weil …» Sie starrt auf ihre nackten Füße und holt tief Luft. «David, das tut mir so leid. So was ist mir noch nie passiert, und ich fühle mich einfach nur schrecklich.»
Ever – Wann immer du mich berührst Page 22