«Das Kind heißt Jane.»
«Das weiß ich.»
Er ist trotzdem zusammengezuckt, und das bereitet mir Genugtuung. Deshalb rede ich weiter. «Jane ist neunzehn und eines der cleversten Mädchen, das ich kenne. Sie ist schlagfertig und witzig. Sie liebt fettiges Essen, obwohl sie es nicht verträgt, und hört am liebsten Songs aus den Achtzigern wie unsere Mom. Auf ihrem Nachttisch liegen Bücher von Mikki Kendall, Stacey Abrams oder Richard Rothstein. Sie interessiert sich für Politik. Sie hatte ein Stipendium für die UNH, aber sie hat ihren Platz aufgegeben, damit sie arbeiten und mich in meinem letzten Collegejahr unterstützen kann. Jetzt macht sie Moms Job in einem Diner, und wenn sie dort hängenbleibt, werde ich mir das nie verzeihen.»
Ich habe mich heißgeredet, aber jetzt sickert doch etwas zu mir durch. Hat er sich wirklich testen lassen, um Jane Knochenmark zu spenden?
«Neunzehn», wiederholt Hayden. Dann geht er zu seinem Schreibtischstuhl und lässt sich schwer darauf fallen. Alles an ihm hat sich verändert. Seine Haltung, der Ausdruck in seinen Augen, als er mich ansieht, alles. Als würde die Tatsache, wer meine Mutter ist, auf einmal die Welt neu ordnen. Er beugt sich nach vorn, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und starrt wieder die Fotos an. «Wie ist Rachel gestorben?»
«Sie hatte einen Herzinfarkt. Sie kam vom Einkaufen und hatte gerade die Tüten die Treppe hochgeschleppt.» Das müsste ich ihm alles gar nicht erzählen, aber ich kann nicht aufhören, als würde ich in einer Wunde stochern. «Ich hatte schon Nudelwasser aufgesetzt, um zu kochen. Später hat der Rettungssanitäter den Herd ausgemacht, da war schon kein Wasser mehr im Topf. Alles verdampft.» Wieso erinnere ich mich ausgerechnet an dieses Detail?
Wenn er jetzt etwas Mitfühlendes sagt, dann weiß ich nicht, was ich tue. Aber Hayden reißt sich zusammen. Er öffnet den obersten Knopf seines Hemdes und fährt sich über die Kehle. «Ich könnte jetzt einen Brandy gebrauchen. Sie auch?»
«Ich trinke nicht.»
«Nein, natürlich nicht.» Er lacht auf, dann stockt seine Stimme. Er atmet mehrmals ein und aus. «Sie haben recht, David. Alles, was Sie mir vorwerfen, entspricht der Wahrheit. Ich habe das alles verdrängt. Ich habe nicht mehr an Rachel gedacht oder an Sie und Ihre Schwester. Seit Jahren nicht. Es war nötig, um weiterzumachen, weil ich einen Plan habe. Mir ist klar, dass Sie das nicht verstehen, aber das ist mein Leben.»
«Damit sind Sie verdammt billig davongekommen im Vergleich zu meiner Mutter.»
«Spielen Sie auf den Vertrag an, den wir geschlossen haben? Mit der Abfindung und der Verschwiegenheitsklausel? Ist Ihnen eigentlich klar, dass der für beide Seiten gilt? Ihre Mutter hatte selbst einiges zu verlieren. Sie hatte ihren kleinen Jungen und einen Mann, als sie schwanger wurde. Und ihre Ehe war ihr wichtig, sie wollte sie nicht aufgeben. Und für mich war es auch undenkbar, mich von meiner Frau zu trennen. Nicht, weil wir eine wahnsinnig glückliche Beziehung geführt hätten, sondern weil ich Abbi hatte. Und ja, auch weil ich Politik machen wollte und immer schon wusste, dass ich dafür eine saubere Familie brauche. Damals ging es der Firma nicht gut. Auch wenn Ihnen das heute lächerlich vorkommt, für mich war die Abfindung für Ihre Mutter zu dieser Zeit nicht wenig Geld. Den Vertrag haben Rachel und ich gemeinsam besprochen. Sie wollte nicht, dass ich ihre Ehe in Gefahr bringe, und ich wollte nicht, dass mir Jahre später irgendwann ein uneheliches Kind auf die Füße fällt und meine politische Laufbahn ruiniert.»
«Sie biegen sich die Vergangenheit so zurecht, wie es Ihnen passt. Meine Mutter kann nichts mehr dazu sagen. Alles, was Sie mir erzählen, ist doch nur Ihre eigene Wahrheit.»
«Dann fragen Sie verdammt noch mal Ihren Vater, David! Er weiß das alles. Als Ihre Schwester krank geworden ist, musste Rachel ihm alles gestehen. Aber weder er noch ich kamen als Spender in Frage. Ihre Mutter und ich haben uns deswegen gestritten. Ich gebe zu, das war keine Glanzleistung von mir. Wir hatten nie einen Vaterschaftstest machen lassen, und ich habe mir eingeredet, dass ich nicht Janes Vater sein kann und sie mich auch belogen und nur ausgenutzt hat. Gott, Rachel war fassungslos. Ein Wort ergab das andere. Sie hat sich danach nie wieder bei mir gemeldet.»
«Wie praktisch für Sie, wenn sich das Problem dann fast von allein erledigt.»
«Was soll das heißen?»
Ich stoße ein bitteres Lachen aus. «Nun, wenn Jane gestorben wäre …» Den Rest kann er sich selber denken. «Sie wäre beinahe nicht behandelt worden, weil wir die Chemo nicht bezahlen konnten.»
«Aber Rachel hat mir gesagt, dass die Versicherung ihres Mannes das übernimmt. Dass sie deshalb die Ehe aufrechterhält.»
Auf einmal wird mir etwas klar. Und das trifft mich so unerwartet und hart, dass ich für einen Moment keine Luft mehr bekomme. «Mein Dad hat uns verlassen. Mom musste nach der Scheidung für die Behandlungskosten einen Kredit aufnehmen. Sie hat ihn erst vor ein paar Monaten abbezahlt, kurz bevor sie den Herzinfarkt hatte.»
Hayden muss davon ausgegangen sein, dass es mit der Versicherung keine Probleme gibt, weil Mom ihm das weisgemacht hat. Ich muss ihn das jetzt fragen, weil es alles, was ich zu wissen denke, in ein neues Licht rücken kann. Und ich bete, dass es nicht stimmt.
«Meine Mutter hat Sie nie um Hilfe gebeten, oder?»
«Nein, das hat sie nicht.»
«Ist das wahr? Ist das wirklich die Wahrheit?» Das kann nicht wahr sein. Denn wenn es das wäre, dann … «Sind Sie nie auf die Idee gekommen, sie zu fragen oder von sich aus Ihre Hilfe anzubieten?»
«Ich wollte nur wissen, ob das Kind wieder gesund ist, alles andere ging mich nichts an. Ich gebe nicht vor, ein Heiliger zu sein, David. Ich habe ein Ziel und dem ordne ich alles andere unter. Das können Sie mir gerne vorwerfen. Aber ich wollte auch, dass Rachels Kind wieder gesund wird.»
«Woher wollten Sie das denn wissen, wenn Sie keinen Kontakt hatten?»
Er atmet einmal durch, bevor er antwortet. «Meine Frau hat sich damals nach ihr erkundigt. Sie wusste es, sie weiß alles. Ich habe keine Geheimnisse vor ihr, weil ich es nicht riskieren kann, sie zu verlieren. Maree hat sie einmal getroffen, aber Rachel wollte nicht mit ihr reden. Kurz darauf ist sie mit Ihnen und Jane umgezogen. Sie sind sehr oft umgezogen.»
Er hat recht. Und es hört sich alles so verdammt plausibel an. Ich kann kaum noch stehen, beuge mich nach vorn, drücke mir beide Handballen auf die Augen, weil es brennt. Es brennt wie Hölle. Hayden redet weiter.
«Ihre Mutter und ich … das war keine einmalige Sache. Wir waren etwa ein Jahr lang zusammen, aber Rachel hat mich immer auf Distanz gehalten. Ich wusste nicht einmal den Namen ihres Mannes, kannte nur ihren Mädchennamen. Sie müssen wissen, dass ich sie … Mir hat viel an ihr gelegen. Nur hatte das mit uns keine Zukunft. Denken Sie ernsthaft, ich hätte sie im Stich gelassen, wenn sie mir die Wahrheit gesagt hätte? Ich hätte einen Weg gefunden, ihr zu helfen, ohne meine Familie zu kompromittieren. Ich hätte ihr auch geholfen, selbst wenn Jane nicht von mir wäre, David.»
Oh Gott! Das macht alles noch viel schlimmer. Weil nicht allein er es war, der keinen Kontakt zu Jane wollte, sondern weil auch Mom daran schuld ist. Ich habe so viele Scheißstunden meines Lebens im Krankenhaus mit Jane verbracht. Und als ich älter wurde, war ich so oft allein mit ihr, weil Mom arbeiten musste und nie Zeit für uns hatte. So viel Zeit, in der wir auf uns gestellt waren oder ich Dinge übernehmen musste, die eigentlich Eltern tun sollten. Ich war schon mit zehn allein einkaufen und habe die Wohnung geputzt, mit Jane Hausaufgaben gemacht und vor den Nachbarn so getan, als wäre alles in bester Ordnung. Ich war nicht erwachsen, verdammt, und trotzdem hat sie von mir immer erwartet, es zu sein.
Ich komme nicht dagegen an. Ich habe das Gefühl, es nicht mehr auszuhalten. Die drückende Verantwortung, das alles zu wissen, es vor Jane geheim zu halten … Ich kann das nicht mehr. Dass mein ganzer Körper bebt, merke ich erst, als Hayden mich auf einmal festhält. Und das ist … scheiße. Ausgerechnet von Hayden getröstet zu werden. Ich verberge den Kopf in meinen Armen, und er zieht mich an sich, drückt mich an seinen Brustkorb, während ich Idiot losheule wie ein Kleinkind. Minutenlang. So lange, bis ich das Gefühl habe, vom
Geruch seines Aftershaves zu ersticken, weil ich ihn doch eigentlich hasse. Noch mehr als meinen eigenen Vater.
«Ich bin selten ratlos, David.» Ich höre ihn seufzen. «Wie kann ich euch helfen? Sag mir, was ich tun kann.» Er streicht mir über den Rücken, und es schnürt mir regelrecht die Kehle zu, alles in mir zieht sich wieder zusammen.
Ich schiebe mich von ihm weg, wische mir über das Gesicht und versuche, meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen und mich nicht selbst dafür zu verabscheuen, diese Schwäche gezeigt zu haben. Und das ausgerechnet vor ihm. Das wird mir nie wieder passieren. «Sie können uns nicht helfen. Meine Mutter ist tot.» Ich will mir die Fotos von seinem Schreibtisch schnappen, aber er geht dazwischen und kommt mir zuvor. Will er sie wegwerfen? Etwa weil ich sie gegen ihn verwenden könnte? Scheiß drauf. Ich brauche keine Fotos, um mich an alles zu erinnern, und dränge mich an ihm vorbei.
«David!»
«Was?» An der Tür fahre ich herum.
Er zieht die Manschetten seines Hemdes nach unten, die hochgerutscht sind. «Das ändert einiges für mich, aber nicht alles. Ich werde nicht zulassen, dass du oder deine Schwester sich meinen Ambitionen in den Weg stellen. Wir können darüber reden, wie ich Jane unterstützen kann, aber ich werde nicht ihr Vater sein.»
Okay, er ist ebenfalls schwach geworden, und das rückt er nun wieder gerade. Eigentlich sollte ich ihm dafür dankbar sein, das macht es leichter. «Ich verstehe Sie vollkommen, Sir. Und ich glaube auch nicht, dass Jane darauf Wert legt.»
«Und was Abbi betrifft …» Er strafft sich. Jetzt ist er wieder ganz in seiner souveränen Rolle. «Ich bin kein Idiot, David. Dass sich zwischen euch eine enge Bindung aufgebaut hat, war mir bewusst. Aber das hat nichts zu bedeuten, das weißt du so gut wie ich.»
«Natürlich», sage ich durch zusammengebissene Zähne.
«Das sind keine echten Gefühle. Das ist nur eine hormonelle Geschichte, die mit der Therapie zusammenhängt.»
Ich weiß genau, was er damit sagen will. Dass Abbi nur mit mir zusammen sein wollte, weil ihr Körper bei der Massage ein bisschen Kuschelhormon Oxytocin ausgeschüttet hat und sie bloß dieses gute Gefühl mit mir verbindet.
Fick dich, Hayden!
Ich presse die Kiefer aufeinander, um ihm das nicht an den Kopf zu werfen.
Bei seinen nächsten Worten ist seine Miene eiskalt. «Du wirst sie mir nicht wegnehmen.»
Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, was er damit meint. Dass er denkt, Abbi wüsste noch nichts und ich würde sie nun gegen ihn aufbringen, einen bescheuerten Satz aus einem Film zitieren wie zum Beispiel «Mein Baby gehört zu mir» und sie dann mitnehmen. Das ist lächerlich. Abbi entscheidet selbst, wohin sie gehört.
«Abbi weiß es.» Nur diesen einen Satz, mehr sage ich nicht, und Hayden fällt innerlich zusammen. Jetzt wird mir klar, wie jemand aussieht, von dem man sagt, er sei ein gebrochener Mann. Hayden wirkt in diesem Moment wie ein Schatten. Dabei kann ich ihm Abbi nicht wegnehmen. Ich kann ihm gar nichts wegnehmen. Weil mir nichts gehört. Ich kann von Abbi nicht verlangen, sich gegen ihren Vater zu stellen. Aber ich wünsche mir, dass sie es tut, verdammt. Dass sie zu mir hält. Weil ihr Dad niemals zulassen wird, dass wir uns sehen. «Leben Sie wohl, Mr. Hayden», sage ich und verlasse sein Büro, ohne auf eine Antwort zu warten.
Im Flur bleibe ich unschlüssig stehen. Wenn ich noch eine Minute länger hierbleibe, wird Hayden ganz sicher einen seiner Bullterrier im Anzug auf mich loslassen, aber ich kann auch nicht einfach abhauen, ohne Abbi eine Nachricht zu hinterlassen. Scheiße, ich muss nachdenken. Und mit Jane reden.
Der Gedanke frisst sich in meinen Kopf. Ich muss es Jane sagen. Ihr die Chance lassen, das selbst zu regeln. Hayden ist ihr verdammter Vater und hat vor, sie weiter zu verleugnen. Und wenn sie das persönlich mit ihm klären will, werde ich ihr beistehen. Ich werde sie nicht im Stich lassen.
In meiner Tasche finde ich einen alten Einkaufszettel. Er ist total zerknittert, aber das spielt keine Rolle. Noch im Gehen kritzle ich meine Handynummer auf das Papier und falte ein einfaches Papierboot daraus, das ich auf dem Beistelltisch in der Eingangshalle zurücklasse.
Jetzt muss Abbi entscheiden, was sie tun will.
Ein paar Sekunden später schlage ich die Haustür hinter mir zu und laufe über die Stufen nach unten. Kann sein, dass ich nur auf Autopilot funktioniere. Kann sein, dass ich heule. Kann sein, dass ich mein Scheißherz hier zurücklassen muss, weil ich Abbi vielleicht für immer verliere. Aber ich habe meine Autoschlüssel, mein Handy, knapp sechs Dollar in der Tasche und ein 1-a-Hörgerät. Und vor allem habe ich Jane.
Mehr habe ich doch sonst auch nicht gebraucht.
31. Kapitel
Abbi
David ist nicht da, als ich aufwache. Jeder einzelne Muskel tut mir weh, so verspannt bin ich. Dabei müsste es eigentlich mein Herz sein, das schmerzt. Weil David geweint hat und mein Vater der Grund dafür ist. Mein ganzes Leben scheint zu zerbrechen, alles, was mir immer Sicherheit gegeben hat, ist plötzlich weg. Mein Dad … Gott!
Ich muss David finden.
Ich trage immer noch das Kleid von gestern Abend, aber das ist egal. Ich schnappe mir meine Gehstützen, um nur schnell im Bad meine Zähne zu putzen und etwas Wasser über mein Gesicht laufen zu lassen.
Vielleicht ist David in der Küche bei Lorraine. Oder er ist im Garten. Ich weiß, dass das der einzige Ort auf diesem Grundstück ist, wo er sich richtig wohlfühlt. Meine Eltern werden erst heute Nachmittag nach Hause kommen, und ich habe keine Ahnung, ob ich es schaffe, mit ihnen zu reden, ohne sie anzuschreien. Keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen soll, aber eine Sache ist mir klar: Ich will wenigstens versuchen, etwas von dem in Ordnung zu bringen, was mein Dad Jane angetan hat. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Das ist es, was Gramps tun würde.
Als ich auf den Flur trete, geht mein Blick ganz automatisch zu Boden, aber dort ist kein Origami, wie es sonst jeden Morgen auf mich wartet. Mein Herz krampft sich zusammen. Vielleicht ist nun auch das anders.
Stufe für Stufe hangle ich mich die Treppe nach unten. In der Küche ist alles still, das Frühstücksgeschirr abgeräumt. Falls David mit Lorraine wie sonst auch Kaffee getrunken hat, ist davon jedenfalls nichts mehr zu sehen.
Ich schlüpfe durch die Terrassentür nach draußen, um nach ihm zu suchen. Am Pool ist er nicht, das Tor ist geschlossen, und dahinter wirkt die Wasseroberfläche glatt wie ein Spiegel. Vielleicht trainiert er in der alten Scheune? Doch je näher ich dem Gebäude komme, umso schneller gehe ich und umso rasender geht mein Puls. Denn die Türen sind zu. Ich haste trotzdem weiter und schiebe sie auf, obwohl mir schon bewusst ist, dass David nicht hier sein kann. Und natürlich – das Gebäude ist leer. Wo bist du?
Auf die Krücken gestützt, umrunde ich das Haus. Der Schweiß steht mir jetzt schon auf der Stirn, und meine Arme brennen. Was ist das für ein Wagen? Umständlich halte ich beide Krücken mit einer Hand fest und schirme die Augen gegen die Sonne ab. Verdammt! Anstelle von Davids altem Wagen parkt der SUV meiner Eltern vor dem Haus. Wieso sind sie schon da? Wieso müssen sie ausgerechnet heute früher nach Hause kommen? Nur wegen meiner SMS? Nur weil ich ihnen mit Davids Worten geschrieben habe, wie sehr es mich nervt, von ihnen ständig kontrolliert zu werden?
Alles ist still, als ich ins Haus zurückkehre. Wo zum Teufel sind sie? Und wieso ist David gefahren, ohne mir Bescheid zu sagen? Was ist passiert? Hat er mit meinem Vater gesprochen? Ich weiß, wie unnachgiebig mein Vater sein kann, wie hart er mit seinen Mitarbeitern umgeht, wenn er es für nötig hält, und jetzt habe ich Angst davor, was er zu David gesagt haben könnte. Die Tür zum Büro meines Vaters ist geschlossen. Ich höre einen Ventilator summen, sonst nichts. Mein Herz hämmert, als ich die Türklinke berühre. Ohne anzuklopfen, drücke ich sie runter und halte dann überrascht die Luft an, weil mein Vater vornübergebeugt an seinem Schreibtisch sitzt, das Gesicht auf seinen Armen gebettet. Meine Mutter ist bei ihm und streicht ihm gerade über den Hinterkopf. Sie blickt für eine Sekunde auf, deshalb weiß ich, dass sie mich bemerkt hat. «Ich erwarte mehr von dir als das», raunt sie meinem Vater zu. «Reiß dich zusammen, Will
iam.»
Oh Gott, meine Mutter weiß es. Sie muss es wissen! Also hat auch sie mich die ganze Zeit belogen. Reiß dich zusammen. Ich habe das untrügliche Gefühl, dass dieser Satz nicht allein meinem Dad gilt. Sie schließt mich damit ein, erwartet von mir, dass ich meine Gefühle in Zaum halte. «Ihr seid schon zurück?», quetsche ich heraus, aber Dad reagiert nicht.
Als sie sich seufzend aufrichtet und auf mich zukommt, suche ich nach irgendwelchen Anzeichen in ihrem Gesicht, die mir verraten, ob sie mit David gesprochen hat, ob sie irgendwie erschüttert ist. Aber das ist sie nicht. Kein bisschen. «Abigail», begrüßt sie mich mit einem Seufzen. «Wir sind etwas früher gefahren, weil ich wieder meine Migräne habe. Ich bin oben in meinem Arbeitszimmer, falls du mich suchst. Aber ich denke, ihr beide habt etwas in Ruhe zu besprechen.»
Ich nicke, bringe aber keine Antwort heraus. Die Worte, die ich ihnen am liebsten ins Gesicht brüllen würde, stecken plötzlich in meiner Kehle fest.
Auf Dads Schreibtisch stehen eine angebrochene Flasche Brandy und ein leeres Glas, obwohl es nicht mal Mittag ist. Dad trinkt nie um diese Uhrzeit, und so habe ich ihn auch noch nie gesehen. Er ist immer souverän und beherrscht, hat immer einen aufmunternden Spruch auf den Lippen. Aber jetzt wirkt er beinahe hilflos auf mich. Ob er überhaupt gemerkt hat, dass Mom gegangen ist? In seiner Hand hält er etwas fest, und obwohl er es fast zerdrückt, erkenne ich trotzdem das Foto darin, das David mir letzte Nacht gezeigt hat.
Oh mein Gott.
Was soll ich sagen? Wie soll ich anfangen? Mein Herz rast, und ich will das alles einfach nicht wahrhaben. «Dad?»
Er schreckt auf, sieht sich um und bemerkt jetzt erst, dass wir alleine sind. «Wo ist deine Mutter?»
Ever – Wann immer du mich berührst Page 32