Ever – Wann immer du mich berührst

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Ever – Wann immer du mich berührst Page 35

by Hotel, Nikola


  «Warum hast du es mir nicht einfach gesagt?»

  «Ich wollte dir nicht weh tun.» Verdammt, das klingt so abgefuckt, so unehrlich.

  «Weißt du was, David? Ich habe echt immer gedacht, du bist der netteste und anständigste Kerl der Welt.» Sie gibt ein Geräusch von sich, das nur vage an ein bitteres Lachen erinnert. «Aber da lag ich so was von daneben.»

  Okay, sie hat jedes Recht, wütend auf mich zu sein. Ich bin selbst verdammt wütend auf mich, auf diese Situation, darüber, dass wir das durchmachen müssen. «Ich wollte es dir sagen, aber … Dieser Vertrag ist das Letzte. Hayden wollte seine Politikerkarriere nicht gefährden, er konnte sich kein uneheliches Kind leisten. Wie scheiße ist das bitte? Außerdem … ich dachte, dass er Mom unter Druck gesetzt hat, diesen Vertrag zu unterschreiben. Aber das ist nicht die Wahrheit.»

  Sie presst die Lippen zusammen.

  «Mom wollte ihre Ehe mit Dad schützen. Und wie es aussieht, haben die beiden sich das zusammen überlegt.»

  «So ein Blödsinn. Mom hätte niemals …»

  «Und wenn doch? Verdammt, ich trage diese Scheiße jetzt seit Wochen mit mir rum und wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte, weil ich genau dasselbe gedacht habe. Mom hätte niemals. Aber das ist nicht wahr. Sie hat das gemacht, weil sie es so wollte. Und ich habe diesen Typen gehasst, weil er Mom nicht unterstützt hat. Sie nimmt diesen Kredit für deine Behandlung auf und er … tut nichts.»

  «Woher weißt du das alles?» Sie sieht sich beinahe panisch auf dem Bett um. «Gibt es noch mehr? Hast du noch Briefe oder so was gefunden?»

  Ich hasse es. Ich hasse diese beschissene Situation. «Die Familie, für die ich die letzten Wochen gearbeitet habe. Das waren die Haydens.»

  Der Ausdruck in ihrem Gesicht dreht das Messer in meiner Brust noch einmal um. «Wie … wie konntest du das tun? Verdammt, David, warum machst du das? Warum arbeitest du für ihn?»

  «Hayden hat mich eingestellt, ohne zu wissen, wer ich bin.»

  Sie richtet sich auf und beugt sich nach vorn. «Aber du wusstest es doch. Verdammt, du wusstest es! Wie kannst du wochenlang mit seiner Tochter arbeiten, ohne was zu sagen, wenn du genau weißt, dass Abbi … oh Gott. Deshalb hast du sie mit in den Diner gebracht.»

  Mein Herz krampft sich zusammen, als ich sehe, wie sie in sich zusammensackt. «Abbi wusste nichts davon. Ich schwöre dir, dass sie keine Ahnung hatte, als du sie getroffen hast. Und ich wollte nichts mit den Haydens zu tun haben, klar? Das Letzte, was ich wollte, war, Haydens Tochter zu therapieren.»

  «Und trotzdem hast du es getan. Du hast das einfach für uns entschieden, ohne mit mir darüber zu reden, ohne mich zu fragen. Und das ist …», ihre Stimme bricht, «… das ist nicht okay!»

  «Ja, du hast recht. Mit allem. Es ist nicht okay. Für Hayden zu arbeiten, ist nicht okay. Nur mit ihm zu reden, ist nicht okay. Und vor allem dir nichts davon zu sagen, ist nicht okay. Aber wie hätte ich dir das antun können, nachdem Mom gerade erst gestorben ist?»

  «Du glaubst immer noch, dass du alles allein regeln musst. Aber ich bin auch erwachsen, verdammt noch mal!», schluchzt sie auf. «Ich bin es so leid! Ich habe dich nicht darum gebeten, alles für mich zu tun. Mir alles abzunehmen. Ich bin nicht mehr krank. Ich bin vollkommen gesund. Du bist nicht für mich verantwortlich!»

  Sie hat ja recht, und ich weiß genau, was in ihr vorgeht.

  «Es fällt mir schwer, okay? Wir waren fast immer allein, und ich musste so viel für Mom übernehmen. Es tut mir leid, dass ich dir das Gefühl gebe, du bräuchtest einen Aufpasser. Ich weiß, dass du gut zurechtkommst. Aber verdammt, ich hatte keine andere Wahl, als diesen Job bei Hayden anzunehmen.» Ich hole tief Luft. «Ich habe mein Stipendium verloren, Jane. Ich wollte es dir erst sagen, wenn ich eine Lösung gefunden habe. Ich hatte es gerade erfahren, und dann hat Hayden mir plötzlich einen Haufen Kohle geboten. Ich dachte, ich kann das irgendwie hinter mich bringen und damit alle Probleme lösen, aber … das hat ganz offensichtlich nicht funktioniert.»

  «Du hast dein Stipendium verloren.» Sie flüstert es, und dann plötzlich fängt sie an zu lachen, aber auf eine Art, die mir Sorge bereitet. Und es dauert auch nur ein paar Sekunden, bis es umschlägt und ihr Tränen über die Wangen laufen, die sie energisch wegzuwischen versucht.

  «Und heute auch noch meinen Job», sage ich, um jetzt alles loszuwerden. «Hayden hat mich eingestellt, ohne zu ahnen, wer ich bin. Aber heute hat er es erfahren. Und mich gefeuert.»

  «Du hast es ihm gesagt?»

  «Ja, weil …» Oh fuck, das würde ich am liebsten für mich behalten. Aber keine Geheimnisse mehr. «Als ich den Job angenommen habe, ging es mir nur um das verdammte Geld.» Wobei ich mir nicht mal sicher bin, ob das die Wahrheit ist. Vielleicht wollte ich schon damals irgendwie in Abbis Nähe sein. «Aber dann hat sich was verändert. Ich hatte das nicht geplant …»

  «Was?» Sie schluckt. «Was hat sich verändert?»

  «Abbi … Abbi ist nicht das verwöhnte Mädchen, das von ihren Eltern jeden Wunsch erfüllt bekommt. Sie hatte von all dem genauso wenig Ahnung wie du. Aber sie vertraut mir. Und sie ist so unfassbar ehrlich und mutig. Abbi und ich …»

  «Oh mein Gott.» Jane sieht völlig entgeistert aus. «Du hast mit ihr geschlafen, oder? Du hast mit meiner Halbschwester geschlafen. Du … das ist …»

  Ich lasse mich neben ihr auf das Bett fallen. «Es tut mir leid, Jane.»

  Sie setzt zum Reden an, schnappt nach Luft und bricht wieder ab. Dann verzieht sie das Gesicht. «Hat sie gedacht, das wäre im Preis mit inbegriffen?», fragt sie. «Sex zur Entspannung? So als nette Beigabe zur Physiotherapie?»

  Jedes Blut weicht mir aus dem Gesicht. Im ersten Moment bin ich zu geschockt, um zu reagieren. Dann will ich sie am liebsten an den Schultern packen und schütteln, weil ich es nicht ertrage, was sie Abbi damit unterstellt. Und auch mir. Aber ich schaffe es, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. «Sie würde mich niemals ausnutzen, sie gibt mir etwas, okay? Und wir haben auch nicht miteinander geschlafen. Also zumindest nicht …» So richtig? Was für ein Schwachsinn. Als ob das einen Unterschied machen würde. Und außerdem ist es echt nichts, was ich mit Jane besprechen will. «Für was für ein Arschloch hältst du mich eigentlich? Habe ich mich jemals mit einer Frau eingelassen, die ich als Therapeut betreue?»

  Sie sieht mich gequält an und hält mich am Arm fest. «Das ist es ja gerade. Du machst so was nicht.» Dann weiten sich ihre Augen. «Du liebst sie. Oh mein Gott, du liebst sie.»

  Ich stoße schwer den Atem aus.

  Jane steht unter Schock. Genau wie ich. «Oh Gott, das ist … Dave, das ist so verrückt und … und verrückt und …»

  Sie hat mich Dave genannt. Was ich normalerweise nicht abkann. Aber jetzt in diesem Augenblick ist da nur Erleichterung. Weil es Hoffnung in mir aufkeimen lässt, dass sie mir doch verzeiht. Und dass sie damit klarkommt. Irgendwie. Das Ganze war ein totaler Schock für sie, aber sie steht das durch. Sie ist stark. Stärker, als ich es manchmal wahrhaben will.

  «Ich weiß selbst, wie seltsam das ist. Aber Abbi ist ganz anders als ihr Dad. Und ich … ich will sie, verstehst du das?» Ich will mir ein Stück von meinem Traum zurückholen, auch wenn das völlig unrealistisch ist. Aber jetzt in diesem Moment geht es überhaupt nicht um mich. Es geht um Jane. «Was sollen wir jetzt tun? Ich meine, was willst du jetzt tun? William Hayden ist dein Vater. Willst du ihn zur Rede stellen? Ihn treffen? Ihn auf entgangenen Unterhalt verklagen?» Ich ziehe eine Grimasse. «Einen Skandal anzetteln?»

  Jane erstarrt für einen Moment, dann strafft sie sich und steht vom Bett auf. Sie fängt an, die Papiere auf einen Haufen zusammenzuschieben. «So wie es aussieht, will er nichts von mir wissen. Das ist … scheiße, aber … ich kann damit umgehen. Ich meine, wir hatten Mom, oder? Und so wie er drauf ist, kann ich wahrscheinlich froh sein, dass er sich nie für mich interessiert hat. Also … will ich dieses Zeug hier wegschmeißen.»

  «Was?» Ich springe schockiert auf. «Das sind die einzigen Beweise, die wir haben, Jane. Das kannst du nicht machen.»

  Sie beißt sich nachdenklich auf die Lippe, dann nickt sie. «Doch, kann i
ch.»

  34. Kapitel

  David

  Jane hat gestern alle Unterlagen, die mit Hayden und Moms Kredit zu tun haben, zerrissen und dann mit dem Restmüll in eine der Tonnen unten im Hof gestopft. Ich konnte sie nicht davon abhalten, habe es aber auch nicht ernsthaft versucht. Es ist ihre Entscheidung. Ich kann sie nur dabei unterstützen, was auch immer sie tun will. Danach ist sie in ihre Turnschuhe geschlüpft und ein paar Runden allein um den Block gelaufen. Um in Ruhe nachzudenken, hat sie gesagt. Aber ich schätze, auch weil sie mich für eine Weile nicht sehen wollte.

  Jetzt bin ich auf dem Weg zur Klinik, weil Kadence mir meinen neuen Dienstplan geben will. Am liebsten würde ich sofort anfangen, allein schon, damit mich die Arbeit davon abhält, ständig aufs Handy zu starren in der Hoffnung, dass Abbi wider Erwarten doch noch anruft. Sie wird es nicht tun. Entweder hat sie das verfluchte Papierboot nicht gefunden. Oder …

  Scheiße. Ich brauche Gewissheit.

  Ich setze den Blinker und halte einfach am Straßenrand, bevor ich mein Handy heraushole und die Nummer von Haydens Haus in Hopkinton wähle. Wenn Hayden persönlich rangeht, lege ich auf. Es klingelt eine Ewigkeit, aber niemand nimmt ab, dabei warte ich so lange, bis das Tuten unerträglich wird. Tja, ich habe ganz offensichtlich mein Glück schon ausgereizt. Verdammt. Mit beiden Händen schlage ich gegen das Lenkrad und stoße einen Fluch aus. Dann beiße ich die Zähne zusammen und fahre weiter.

  Das einzig Gute ist meine Aussicht auf den neuen Dienstplan. Solange ich in der Klinik arbeiten kann, weiß ich zumindest, dass es irgendwie weitergeht. Nachdem ich das Auto geparkt habe, schaue ich kurz nach, wie viel Bargeld ich noch habe. Es reicht für ein Abendessen mit Jane. Aber wenn ich selbst koche auch noch für ein Mitbringsel für Madame Mustache, deshalb springe ich schnell noch in die Bäckerei um die Ecke rein, in der es New Yorker Cheesecake gibt, von dem ich weiß, dass die alte Dame ihn liebt. Damit bewaffnet mache ich mich auf den Weg zu meiner alten Station. Ich lasse den Aufzug stehen und laufe im Treppenhaus nach oben.

  «Hey, David», begrüßt mich eine der Schwestern, und ich frage sie direkt nach Kadence.

  «Die ist gerade noch mit einer Patientin unterwegs, du hättest sie eigentlich am Aufzug treffen müssen.»

  «Hab die Treppe genommen, aber danke, dann warte ich.» Im Aufenthaltsraum besorge ich für Mrs. Browning noch eine Gabel und klopfe dann an ihrem Zimmer an. Die alte Dame sitzt gut gelaunt in einem Stuhl am Fenster. Vor ihr auf dem Tisch steht ein Teller mit Kuchenresten.

  «Okay, Ma’am, ich komme wohl zu spät. Sie hatten schon Besuch.» Wahrscheinlich keine Verwandte, sondern eher jemand vom Sozialdienst, würde ich meinen. «Ein Verehrer?»

  «David, lieber Junge, komm rein. Du warst viel zu lange nicht mehr hier, ich habe dich vermisst.» Sie strahlt mich an. «Ich hatte heute ganz zauberhaften Besuch von einer jungen Dame, sie hat mir Kuchen mitgebracht.»

  Das freut mich für sie. Ich nehme sie in den Arm und setze mich dann zu ihr an den Tisch. «Eine Freundin von Ihnen?»

  «Nein, ich kannte sie gar nicht, und leider habe ich auch ihren Namen schon wieder vergessen. Aber ich glaube, sie war Patientin hier. Kadence hat sie mir vorgestellt, und wir haben eine Zeitlang geplaudert. Und dann hat sie mir noch diesen entzückenden Vogel dagelassen. Natürlich ist er nicht so hübsch wie die Schmetterlinge, die du für mich gemacht hast, aber eine wirklich nette Überraschung.» Sie hebt einen kleinen Papierkranich an der Schwanzspitze hoch und versucht dann, ihn wieder hinzustellen, ohne dass er umfällt.

  Scheiße. Das Loch in meinem Brustkorb reißt sofort weiter auf.

  «Sie hat mir dazu eine Geschichte erzählt, von einem Mädchen aus Japan, das Leukämie hatte und eintausend Kraniche gefaltet hat, um wieder gesund zu werden. Ich weiß nur nicht mehr, wie es ausgegangen ist.»

  Noch mal Scheiße. In meinem Hals fängt es an zu pochen. Das kann nicht Abbi gewesen sein. Ich gebe zu, es ist ein echt extremer Zufall, dass jemand ausgerechnet ein Origami für Madame Mustache faltet, aber es ist dennoch ein Zufall, oder?

  «Ihr Besuch», sage ich und räuspere mich. «Sie hatte nicht zufällig dunkelblonde Haare und sehr dunkle Augenbrauen? Ist sie … Ich meine, ist sie mit Krücken gelaufen?»

  Madame Mustache überlegt und schüttelt dann den Kopf. «An Krücken kann ich mich nicht erinnern. Und ihre Haare …? Ich weiß nicht mehr. Sie kam mir aber bekannt vor, ich habe sie bestimmt schon mal auf dem Flur gesehen.»

  Okay, ich glaube nicht an solche Zufälle. Aber was ich definitiv glaube, ist, dass ich gerade den Verstand verliere. Was für einen Grund sollte Abbi haben, in die Rehaklinik zu kommen und Madame Mustache zu besuchen? Warum sollte sie überhaupt hierherkommen? Hat sie Schmerzen? Ist irgendwas mit ihrem Knie? Scheiße, ich hoffe, sie hat sich nicht das Knie verdreht.

  «Tut mir leid, Ma’am, ich glaube, ich muss mich dringend mit Ms. Sawyer unterhalten. Ist es in Ordnung, wenn ich morgen wiederkomme?»

  «Natürlich, mein Junge. Und danke für den Käsekuchen, ich esse ihn heute Abend zum Nachtisch.» Sie kneift mich so fest in den Arm, dass ich zusammenzucke. Ich springe auf und bin schon auf halbem Weg zur Tür, als die alte Dame sagt: «Ich finde den Vogel ja wirklich interessant, ich verstehe nur nicht, was dieser Spruch bedeuten soll. Immer und immer wieder.» Als ich mit quietschender Sohle herumfahre, hat sie den Kranich wieder in der Hand. «Die Sprüche aus diesen Glückskeksen mag ich lieber. Die versteht man wenigstens gleich.»

  Hölle, jetzt kriege ich Herzrasen. Das ist kein Zufall. «Ähm, darf ich mal sehen?» Ich nehme ihr den Vogel ab, als sie ihn mir hinhält, und klappe den Flügel nach unten. Und da stehen diese Worte in Abbis Handschrift. Ich erkenne sie, weil ich sie auf der Blume, die sie für mich gefaltet hatte, ungefähr hunderttausendmal gelesen habe. «Ich denke, es ist ein gutes Omen für die Zukunft, Ma’am. Besser als ein Glückskeks. Viel besser als ein Glückskeks.» Und ich spüre, wie sich Hoffnung in mir ausbreitet. «Bis morgen, Mad… Mrs. Browning.»

  Kann sein, dass ich etwas zu schnell unterwegs bin, als ich über den Flur zum Schwesternzimmer sprinte. «Ist Kadence immer noch nicht da?», frage ich eine Kollegin, die am PC sitzt und wahrscheinlich irgendwelche Medikamentenbestellungen eingibt.

  Sie schüttelt den Kopf, und als ich meine nächste Frage nach Abigail Hayden anhänge, geht ihr Kopfschütteln nahtlos in ein Nicken über. «Ja, die war hier, ist aber schon wieder weg.»

  «Wann?»

  «Vor einer halben Stunde etwa.»

  «Weißt du, warum? Gab es irgendwelche Probleme mit ihrem Knie, oder hatte sie einen Termin?» Ein Termin, von dem ich nichts weiß? Klar, David.

  «Kann ich dir nicht sagen. Frag einen der Docs. Oder Kadence.»

  Sehr witzig, würde ich ja gern, wenn Kadence mal auftauchen würde. Okay, komm runter, David! Ich überlege, wie ich die Zeit besser nutzen kann, als während des Wartens durchzudrehen, und weil ich meinen Spind sowieso noch nicht ausgeräumt hatte, kann ich schon mal nachgucken, ob ich genug Wechselsachen hierhabe. Und die Patientendusche im großen Badezimmer nutzen, um Nebenkosten zu sparen. Ist das erbärmlich? Ja. Aber was soll’s.

  In der Umkleide werfe ich meinen Rucksack auf den Boden und drehe die Nummern vom Zahlenschloss auf. Ich ziehe die Tür auf, und sofort flattert mir etwas entgegen und landet auf dem Boden.

  Okay, Leute, wo ist die versteckte Kamera?

  Ich gehe in die Knie, um den Kranich aufzuheben, den jemand durch den schmalen Spalt in der Tür geschoben haben muss. Jemand. Abbi. Ich klappe die Flügel auf.

  Immer und immer wieder.

  Die Kehle wird mir eng. Abbi war hier. Auf meiner Station. An meinem Spind. Vor einer halben Stunde. Ich habe keine Ahnung, was sie vorhat. Ist das so was wie eine Schnitzeljagd? Warum schreibt sie das immer und immer wieder? Und darf ich mir wirklich Hoffnung erlauben? Hölle, ich hoffe so sehr. Bitte lass sie das ernst meinen.

  Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und wische über den Bildschirm, obwohl es sinnlos ist. Das einzige Mal, dass wir uns geschrieben haben, haben wir dafür Origamis benutzt. So wie jetzt. Aber ich weiß nicht, ob sie es ernst meint, u
nd das macht mich fertig. Was hat ihr Vater ihr erzählt? Weiß sie, was ich ihm alles an den Kopf geknallt habe? Weiß sie, dass meine Mom diesen verdammten Vertrag genauso haben wollte wie er? Oder dass er mir ein Scheißvermögen angeboten hat, damit ich sie nie wiedersehe? Shit, ich hoffe, dann weiß sie auch, dass ich es abgelehnt habe. Dass ich nichts von ihm will außer seiner Tochter.

  Mit zitternden Fingern zerre ich ein paar Wechselsachen aus dem Spind und schnappe mir ein frisches Patientenhandtuch, um damit im Bad zu verschwinden. Ich stelle das Wasser auf eiskalt, um einen klaren Kopf zu bekommen, merke dann, dass das ein Fehler ist, weil es mich noch mehr aufputscht. Scheiße, von wegen Elefant. Ich bin kein bisschen ruhig.

  Fünf Minuten später bin ich gerade in frische Sachen geschlüpft – Jeans und ein T-Shirt mit V-Ausschnitt, von dem ich weiß, dass es Abbi zum Grinsen bringen würde – und binde mir die Schuhe, als es an der Tür klopft und Kadence nach mir ruft.

  «David, bist du hier im Bad?»

  Ich schließe die Tür auf. Mein Haar ist noch nass, und Wasser tropft mir auf die Schultern.

  Kadence trägt eine dünne Mappe unter ihren Arm geklemmt und trommelt mit den Fingern darauf. «Wow. Verdammt, David, so was solltest du nicht auf Station machen, das bringt mein Kopfkino in Gang, und ich habe heute Abend ein Date mit einem Mann, der zwanzig Jahre älter ist als du.» Sie spitzt die Lippen und lacht dann rau.

  Darauf kann ich jetzt nicht eingehen, selbst wenn ich wollte. «Wo ist Abbi? Hast du mit ihr gesprochen? War sie hier?» Natürlich war sie hier. Der verdammte Papiervogel kann schlecht von allein hergeflogen sein. «Ich meine, warum war sie hier? Ist was mit ihrem Knie nicht in Ordnung?»

  «Es ist alles bestens.» Sie wiegt den Kopf zur Seite und nickt dann. «Ich soll dir schöne Grüße ausrichten.»

  «Nicht witzig, Kady. Was hat sie gesagt? Weißt du, wo sie nach ihrem Besuch hier hinwollte?»

  «Kann ich dir nicht sagen. Aber ihr habt gute Fortschritte gemacht. Sie kam ganz flott mit den Krücken über den Flur, sah ziemlich gut aus. Hat einen richtigen Bizeps bekommen, die Kleine.»

 

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