by Emily Key
»Wie würde Ihnen das gefallen, Mr. Moore?«, ersuchte er gerade um meine Meinung und stellte sich leicht hinter mich, um mich ebenfalls im Spiegel zu betrachten. Hannah saß mir gegenüber auf der dunklen Ledercouch und beäugte mich skeptisch.
»Ich weiß nicht, brauche ich solch eine Tasche?«, fragte ich und fühlte mich leicht überfordert. Hannahs Gesichtsausdruck war nicht mehr ganz so verbissen. Natürlich bemerkte ich, dass sie nicht flirtete und nicht ... ganz wie sie selbst war, aber ihre Professionalität ließ nicht zu wünschen übrig. Auch wenn sie den Abstand wahrte.
Mr. Albert merkte, dass ich mich nicht entscheiden konnte, und drehte sich euphorisch lächelnd zu Hannah um. »Was sagt denn die Braut dazu?«, fragte er ihr zugewandt. Erschrocken sprang sie auf, ihre Augen weiteten sich. Meine Hochzeitsplanerin holte tief Luft, doch ehe sie antworten konnte, lächelte ich den kleinen untersetzten Mann an. »Okay, wir nehmen eine französische Innentasche!«
»Ausgezeichnete Wahl«, betonte dieser, seine Aufmerksamkeit wieder auf mich richtend. »Wir können das Futter mit der Stofffarbe des Anzugs einfassen. Das sieht absolut fantastisch aus. Und hier ...« Er hob die linke Seite meines Jacketts an, welches ich gerade zur Probe trug. »Hier können wir den Namen Ihrer Verlobten einsticken.« Er zwinkerte Hannah zu.
»Ich bin nicht ...«, versuchte sie es erneut. Wohlige Wärme erfasste mich, als in meinem Verstand ankam, dass er wirklich diese wunderschöne Frau für meine zukünftige Ehefrau hielt.
»Es ist zwar ungewöhnlich, dass die Braut beim Anzug aussuchen dabei ist, aber gibt es nicht für alles ein erstes Mal?«, fragte er lächelnd, und Hannah stoppte in ihrem Auf- und Ablaufen, das sie in vollkommener Vollendung vollführte, und beäugte uns aus ihren Augen, die sie zu Schlitzen verengt hatte.
»Ich bin nicht die Braut!«, sagte sie energisch und setzte den Gang auf dem weichen Perserteppich fort. »Und ich finde es nicht schön, wenn der Name der Verlobten in seinem Anzug steht«, erklärte sie weiter, griff nach ihrem Glas Champagner, den er uns mittlerweile jeweils gegeben hatte, und nahm einen Schluck. »Ich finde, es ist sein Anzug, nicht der von seiner Verlobten. Es ist ja auch seine Hochzeit!« Sie wurde langsam sauer, das sah ich an ihrer Körperhaltung. Die Finger krallte sie so fest in ihre Hüfte, dass die Knöchel bereits weiß hervortraten.
»Aber finden Sie es nicht romantisch, wenn ihr Name nahe bei seinem Herzen geschrieben steht?«, fragte er in ungläubiger Tonlage. So als hätte er noch nie diese – in seinen Augen – lächerliche Frage stellen müssen.
Hannah zog wütend die Nase kraus und legte zusätzlich noch die Stirn in Falten. An ihrer Stelle antwortete ich. »Hannah ist tatsächlich nicht meine Verlobte«, sagte ich nun betreten und spürte auf einmal deutlich, wie der Gedanke wehtat. Wie es schmerzte, dass sie nicht demnächst meine Frau sein würde.
Ich stand immer noch auf dem kleinen Schemel, als der Schneider, ohne auf dieses Missgeschick einzugehen, um mich herum spazierte und hier und da Maß nahm, um es anschließend zu notieren. Hannah starrte in ihr Handy und tat so, als wäre ich nicht da. Es fühlte sich komisch an. Die wenigen Worte, die sie heute gesagt hatte, waren anders gewesen. Anders als alles, was zuvor gewesen war. Mit einer wütenden, verrückten oder leidenschaftlichen Hannah konnte ich umgehen, aber mit ... dieser Hülle, die sie gerade war, damit kam ich nicht zurecht. Viel schlimmer wurde es noch, als mir zwischen zwei Herzschlägen klar wurde, dass ich ihr Lächeln zurückzaubern wollte. Sie sollte mich wieder anstrahlen, sarkastische Kommentare ausstoßen und sich in meine Arme schmiegen. Sie sollte mir erzählen, was ihr diese Schatten unter den Augen bescherte und weshalb sie sich gerade so quälte.
Teufel noch mal, meinem Herzen war es egal, dass ich verlobt war oder Kelly bei mir zu Hause wartete. Ihm war es nur wichtig, dass es endlich das aussprechen konnte, was ich empfand, wenn ich meine Hochzeitsplanerin ansah. Dass das Versteckspielen zu Ende war und jeder wusste, dass Hannah Stone bald Mrs. Adam Moore sein würde.
Dummerweise wollte ich meiner Hochzeitsplanerin sagen, dass ich sie liebte.
Kapitel 24
Hannah
›Sehr geehrte Damen und Herren, willkommen zur Antipathie-Show der Woche. Unsere heutigen Gäste, Hannah, die Hochzeitsplanerin und die Braut, Kelly. Nein, unsere Kelly ist nicht wie die süße, unschuldige und freundliche Kelly aus Beverly Hills 90210 – die Serie aus den 90ern –, unsere Braut ist ein verschüchtertes, nervendes kleines Ding, das sich nicht entscheiden kann, und jedem Menschen – ob er es hören will oder nicht – mit dem Namen Adam auf den Nerv geht. Meine Damen und Herren, seien Sie bereit für eine spannende Runde zwei, nach der Werbepause.‹
»Ich weiß einfach nicht«, murmelte Kelly, welche auf einem Schemel stand und sich mit hängenden Schultern in dem übergroßen Spiegel betrachtete.
Ich rollte die Augen. Natürlich wusste sie es nicht. Sie wusste nämlich nie etwas.
»Hören Sie in sich hinein«, sagte die Verkäuferin aus dem Bridal Geschäft. ›Ganz in Weiß‹, ging mir mindestens genauso auf die Nerven wie die Braut. »Fließt Ihr Chakra?« Sie fuchtelte mit ihren Händen an Kellys Rumpf auf und ab. »Und?«, fragte sie sich erneut. »Schließen Sie die Augen.« Wieder ein Fuchteln, das aussah wie der Fruchtbarkeitstanz einer Kartoffel. »Fließt es?«
»Ich weiß nicht!« Abermals rollte ich mit den Augen und stand genervt von meinem Platz auf.
»Kelly, sehen Sie sich an. Wie fühlen Sie sich?«
»Na ja«, begann sie zaghaft, nachdem sie kurz darüber nachgedacht hatte. »Ich weiß nicht«
»Kelly!«, sagte ich energischer. »Sie müssen doch in einem verdammten weißen Kleid, welches zufällig für Ihre Hochzeit bestimmt ist, irgendetwas empfinden?«
Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie starrte mich an. Gut, ich verlor selten die Beherrschung, aber die letzten Tage waren einfach zu viel gewesen. Viel zu viel. Das ewige Hin und Her mit Adam, das verfluchte Katz-und-Maus-Spiel und nicht zuletzt seit zwei Tagen die Gewissheit, dass er Kelly definitiv heiraten würde. Wie ich darauf kam? Nun, nach unserem Termin hatte er mich nicht nach Hause gebracht und sich nicht mehr gemeldet. Zunächst war ich unsicher gewesen, was er wirklich wollte, weil er mich während der Anprobe so verträumt gemustert hatte. Dass er wirklich, ohne den ganzen Schlamassel abzusagen, heiraten würde, wurde mir in dem Moment klar, als ich zwei E-Mails in Kopie erhalten hatte. Einmal, die Auftragsbestätigung des Maßkonfektionärs, in welcher die Details des Anzuges und der Preis von schlappen 3000 amerikanischen Dollar standen. Die zweite stammte von Adam Moore. In seiner Antwort bestätigte er ihm den Erhalt und schickte ihm als Anhang ein Zahlungsavis mit, in welchem er die 50 Prozent Anzahlung bestätigte. Wäre es nicht sein ernster Plan gewesen, Kelly zu heiraten, hätte er sich doch nicht solch einen teuren Anzug gekauft! Als ich gestern Nachmittag diese Nachrichten immer und immer wieder gelesen hatte, war mir klar geworden, dass er mich nicht liebte, egal wie tief und romantisch meine Gefühle für ihn waren. Es würde nicht passieren, dass er die Trauung oder die Hochzeit absagte.
Also hatte ich resigniert. Nun, zumindest hatte ich heute Morgen versucht, meine Augenränder und verquollenen Augen zu überschminken, damit Kelly nicht auf die Idee kam, mich zu fragen, was mit mir los war. Was hätte ich denn antworten sollen? ›Hey, ich bin in deinen zukünftigen Ehemann verliebt, nachdem ich mehrmals mit ihm geschlafen habe. Es war übrigens der beste Sex meines Lebens. Aber nichts für ungut, beachte mich einfach nicht, das geht schon vorbei!‹
Die feste Überzeugung, dass alles, was mir übrig blieb, war, mich von ihm fernzuhalten, verletzte mich so dermaßen, dass ich mich am liebsten vergraben wollte. Und zwar so, dass ich keine Luft mehr bekommen würde. Irgendwie wollte ich einfach an dem Schmerz zugrunde gehen. Und nun Kelly hier zu sehen, in diesem verfluchten Kleid und mit dem Wissen, dass sie den Mann heiraten und ihr Leben lang an ihrer Seite haben würde, den ich liebte ... das war einfach zu viel. Mein Geduldsfaden war wirklich sehr zart.
»Hannah? Hören Sie mir zu?«, fragte mich die Verkäuferin.
Nein, eigentlich nicht. Sollte ich? »Selbstverständlich!«, murmelte ich und zwang mich
zu einem Lächeln. Lass dir nichts anmerken. Komm schon, du kannst das, du bist stark!
»Also? Wie finden Sie es?«, erkundigte sich die Verkäuferin und ich betrachtete die unscheinbare Kelly, welche sich unsicher auf die schmale Lippe biss.
»Na ja ...«, begann ich vorsichtig, stand auf und lief einmal um sie herum, um sie nochmals von allen Seiten betrachten zu können. Sollte ich? Oder sollte ich nicht? Immerhin wurde ich für meine ehrliche Meinung bezahlt, und abgesehen davon, dass ich sie nicht leiden konnte, war sie – und auch die Prominentenhochzeit, denn Adam war in Malibu wirklich ein Star – ein Aushängeschild für meine Agentur.
»Nein!«, fuhr ich schließlich mit fester Stimme fort. »Ein klares Nein!«
»Warum nicht?« Die Brauen zusammenziehend, betrachtete mich die Angestellte des Brautmodengeschäftes, als wäre ich wahnsinnig geworden. In gewisser Weise mochte das auch stimmen.
»Zu wenig Busen«, antwortete ich und deutete mit den Händen an, was ich meinte. »Dann hat Kelly wenig Taille, die sich kaum von den sehr schmalen Hüften unterscheiden lässt. Das ist traumhaft, zierlich, mädchenhaft, aber nicht für diese Form des Kleides geeignet!«
»Finden Sie?« Beiden Frauen stand der Mund offen, und während die Verkäuferin hektische rote Flecken am Dekolleté bekam, schien sich die Braut darüber zu freuen, dass ihr endlich jemand die Entscheidung abnahm.
»Ja, eindeutig!« Meine Augen scannten die Kleider, welche sich Kelly kurz zuvor aus der riesigen Auswahl herausgepickt hatte, um sie anzuprobieren. Sie hatte dabei nur nach ihrem Gefühl gehen sollen, und spontan mit ›Ja‹ oder ›Nein‹ antworten. »Ich denke, etwas Schmaleres, Mädchenhafteres ... so ein wenig wie Julia aus Romeo und Julia ... an so etwas denke ich.«
Zielstrebig griff ich nach einem Kleid und ließ meine Fingerspitzen über die weiße Seide wandern. Ein Stoff in Elfenbeinfarben oder Champagner wollte Kelly partout nicht, da sie sicher war, dass es Adam auf keinen Fall überzeugen würde. In mir schrie dabei alles, denn ich wiederum war davon überzeugt, dass man zum einen seinen zukünftigen Ehemann nicht überzeugen müssen sollte, damit man ihm gefiel, und zum anderen, dass warmes Elfenbein gegen hartes, strahlendes Weiß in Adams Augen gewinnen würde. Aber wer war ich, um dies zur Sprache bringen zu dürfen? Es war nur noch dieser eine Termin für dieses Brautpaar zu bewältigen, dazu ein paar wenige organisatorische Dinge, ich würde alles durchziehen, mich danach vergraben und meine Wunden lecken.
»Hier ist nichts dabei«, murmelnd ging ich zielstrebig nach vorne, um die Reihen erneut abzulaufen. Es sollte nichts sein, das mit Strasssteinen, Stickereien oder Tüll überhäuft war, denn darin wäre Kelly total untergegangen. Eher brauchten wir etwas ... »Ah, schlüpfen Sie in dieses hinein!«, befahl ich. »Das hier wird Ihr perfektes Kleid sein!« Schmerz raste durch mich hindurch, und ich zwang mich, die Tränen zurückzudrängen und tapfer zu lächeln. Meine Mutter wäre stolz auf mich gewesen, weil ich so hervorragend das Gesicht wahrte und trotz der miesen Umstände versuchte, das Beste aus meiner Klientin herauszuholen, auch wenn es mir noch so sehr das Herz brach.
Mit weit aufgerissenen Augen betrachteten die beiden Frauen den Stoff, welchen ich ihnen entgegen hob. »Vertrauen Sie mir Kelly, das hier ist Ihr Kleid!« Wie zur Bestätigung wedelte ich leicht damit hin und her. Als wäre alles perfekt.
Die dunkelhaarige Verkäuferin rollte die Augen und stöhnte leise auf. Sehr unprofessionell. Sie nicht weiter beachtend, drehte ich mich um, als sie nach gefühlten Minuten den Bügel ergriff, auf welchem das Kleid hing, und setzte mich wieder auf das weiche Ledersofa. Die Beine gleichzeitig zur Aufforderung und wartend überschlagen, die Hände in meinem Schoss gefaltet, nickte ich Kelly aufmunternd zu. Erst als die beiden hinter dem Vorhang der großen Kabine verschwunden waren, schloss ich gequält die Augen. Den Kloß der Trauer, welcher in meiner Kehle aufstieg, schluckte ich hinunter und zwang mich, tief durchzuatmen. Das leise Rascheln, die entspannende Musik, welche aus den Lautsprechern kam, beschleunigten meinen Puls eher, als ihn zu beruhigen.
Wenn das hier vorbei wäre, würde ich nur noch lesbische Hochzeiten planen, denn Frauen fand ich zwar hübsch, aber sexuell anziehend nur Männer. ›Nur Adam meinst du wohl!‹, verhöhnte mich der Teufel.
Nachdem sich mit einem Ruck der gelbe Vorhang – er sah ein wenig aus wie Urin – geöffnet hatte, löste ich meine verkrampften Kiefer und legte mir ein Lächeln auf die Lippen. ›Bleibe tapfer, Liebes!‹, flüsterte mein Engel und wäre er real gewesen, wären Tränen über seine Wangen gekullert. Die zukünftige Braut kam aus der Kabine, den Kopf gesenkt, auf ihre Schritte konzentriert und trat auf den Schemel zu. Mit ihren Fingern hob sie leicht den Saum des Kleides an. Der Augenblick, in welchem sie den Kopf hob, um ihr Spiegelbild zu betrachten, war absolut einnehmend. Selbst für mich. Mein Schmerz darüber, dass sie den Mann heiraten würde, welchen ich liebte, verebbte nicht, und es wäre zu viel gesagt, dass ich ihr gegönnt hätte, wie schön sie in diesem Kleid aussah. Aber die heikle Aufgabe und Verpflichtung, das absolut Beste aus ihr herauszuholen, hatte ich blendend erfüllt.
»Es ist wunderschön«, wisperte sie schließlich. Obwohl sie so leise sprach, hallte es in meinen Ohren wider, als hätte sie gebrüllt. Doppelter Schmerz für eine verlorene Liebe erschien mir so unwirklich. So wahnsinnig weit weg. Ich nickte ihr knapp zu, drehte mich weg und griff nach meiner Tasche. Die Verkäuferin würde mir kein Lob aussprechen – man sah es an ihren Augen – und ich legte auch keinen Wert drauf, dass sie mir sagte, wie großartig meine Auswahl für Kelly ausgefallen war. Ehrlich gesagt war die Sache hiermit noch besiegelter, als mit dem Kauf von Adams Hochzeitsanzug.
»Hannah? Wohin gehen Sie?«, fragte mich Kelly mit Panik in den Augen, als ich meine Tasche schulterte. Chanel machte mich gerade auch nicht glücklich.
»Sie kommen jetzt ohne mich klar ...«, murmelte ich, und als ich mir sicher war, dass sie mich nicht mehr hören konnte, entwich mir endlich das schmerzende Schluchzen, das die Dämme brach.
***
Manchmal passte das Wetter hervorragend zur Stimmung, so wie heute, denn es regnete seit zwei Stunden.
Nachdem ich den Shop mit den Hochzeitskleidern verlassen hatte, fuhr ich in einer Art Trance zu einem Supermarkt und kaufte zwei Flaschen Weißwein, zwei Flaschen Rotwein, eine Flasche Erdbeerlimes und drei verschiedene Ben&Jerry’s-Boxen mit dreierlei Geschmacksrichtungen. Ja, schon alleine vom Anschauen wanderte mir das Fett und der Zucker auf die Hüften, aber heute war es mir egal. Sowas von! Mechanisch lenkte ich den Wagen in die Auffahrt, raffte das Zeug zusammen und betrat meine Wohnung. Die Luft war abgestanden und es war düster, da trotz der frühen Nachmittagsstunde der Himmel durch die violetten Wolken verdunkelt war. Tiefe, melancholische Stimmung überkam mich, neben der Trauer über den Verlust von etwas nie da gewesenem. Die braune Papiertüte beachtete ich soweit, dass ich zwei der drei Eiscreme-Becher in meinen Froster schob und bis auf eine Flasche Rotwein – denn diese konnte ich auch ungekühlt trinken – den Rest in den Kühlschrank stellte.
Erschöpft, obwohl ich mich nicht wirklich körperlich betätigt hatte, schlüpfte ich aus meinen Schuhen, griff nach einem Löffel, dem Korkenzieher sowie einem Wasserglas und riss die Türe zum Balkon auf, welche von meiner Küche abging. Wie ein Kind zitterte meine Unterlippe, als ich mir das erste Glas einschenkte und mehrere große Schlucke trank. Da ich heute außer Joghurt mit Mango noch nichts zu mir genommen hatte, trat sehr schnell eine Wirkung ein, die mir jene Trägheit zuteilwerden ließ, die ich so dringend herbeisehnte.
Immer wieder sah ich vor meinem Auge all die Szenen, mit denen er es geschafft hatte, dass ich mich in ihn verliebte. Dass ich ihm mein Herz zu Füßen legte, auf welches er mit Anlauf gesprungen war. Auch wenn er es nicht aussprach, hatte ich immer gewusst, dass das zwischen uns enden musste, also wieso schaffte ich den beschissenen Absprung nicht? Das letzte Mal, als wir uns so nahe gewesen waren, dass ich in seinem Duft und seiner Umarmung schwelgte, schien Lichtjahre zurückzuliegen. Dabei war es erst eine Woche her. Eine verdammte Woche, in der ich die Bucht und die Bar, in welcher ich ihn einmal getroffen hatte, gemieden hatte. Der einfache Gru
nd dafür lautete nicht, dass ich nicht wollte, es war nur so, dass ich mir selbst nicht über den Weg traute. Immerhin waren wir uns bei jedem Treffen – abgesehen beim Konfektionär – in der einen oder anderen Form nahegekommen. Nämlich immer dann, wenn wir alleine gewesen waren.
Ich trank das Glas in einem Zug aus und goss sofort nach. Nachdem die ersten Tropfen vom Himmel gefallen waren, griff ich nach dem Eisbecher und schaufelte das Zeug in mich hinein. Schokolade mit flüssigem Karamellkern sollte doch helfen, oder?
Die Momente mit Adam, in denen er mich berührte, waren die Besten gewesen, die ich seit Langem erlebt hatte.
»Scheiße, Melissa!«, rief ich auf einmal, als mir der Gedanke in den Kopf schoss, dass sie an dem Dilemma schuld war. Immerhin war sie es gewesen, die meine Unterlagen einfach weitergegeben hatte. Ohne, dass ich es wollte oder auch nur gewusst hätte. Sie hatte Gott gespielt und mich so tief in die Scheiße geritten, dass ich nun fast sterben wollte.
Als der Becher mit dem Eis halb leer und meine Zunge fast am Löffel festgefroren war, war mir schlecht und es regnete in Strömen.
Kapitel 25
Adam
Wenn man eine Frau analysierte, verzweifelte man daran. Zum Beispiel wollte ich wissen, weshalb Hannah so abweisend zu mir war. Oder weshalb sie sich nicht meldete. Natürlich hätte auch ich mich melden oder ihr sagen können, was mich bewegte. Das hatte ich aber nicht getan, weil man als Mann mit solchen Dingen eben eher vorsichtig umging. Dieses In-die-Welt-Hinausposaunen lag uns nicht.
Noch schlimmer wurde es dann, wenn man auf einmal bemerkte, dass man an seine Verlobte nicht eine Sekunde gedacht hatte, bis zu dem Moment, in welchem man es registrierte. Traurig – sehr traurig – aber wahr. Es war nicht so, dass mir überhaupt keine Frauen durch den Kopf geisterten, denn immerhin war ich ja ständig von ihnen umgeben, zum Beispiel heute Morgen, als ich mir bei einem dieser zahlreichen Coffeeshops einen doppelten Espresso-to-go besorgt hatte, weil ich wieder eine schlaflose Nacht – auch wegen einer Frau – hinter mich gebracht hatte. Die Tatsache, dass ich an die Hochzeit dachte, war ebenfalls absolut verständlich, nur der unumstößliche Umstand, dass ich von der Hochzeit nicht als meine Hochzeit dachte ... das war verwunderlich. Oder eben auch nicht.