Der Himmel wird beben
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Emile löste sich vor mir auf. Er flackerte kurz, wie eine Holoaufnahme oder eine Projektion. Dann verflüchtigten sich die schwarzen Locken, die Grübchen und die olivfarbene Haut. Und dahinter erschien …
»Du?!« Schockiert starrte ich die Person vor mir an. Die goldbraunen Haare, die im Licht der Bungalowlampen schimmerten und zu einem nachlässigen Zopf geschlungen waren. Die gerade Nase. Die rauchblauen Augen. Und plötzlich kam alles zurück. Die Erinnerungen, die Gefühle, der Schmerz. Vor allem der Schmerz. Ich schnappte nach Luft, ging rückwärts, taumelte im tiefen Sand, suchte nach Halt. Es gab keinen.
»Hey …« Plötzlich griff er nach mir.
»Fass mich nicht an!« Ich entriss Lucien meinen Arm und wich weiter zurück. »Fass mich nie wieder an!«
»Okay.« Er hob die Hände und ich sah ihm zum ersten Mal wieder wirklich bewusst in die Augen.
Ich hielt es keine Sekunde aus.
»Wieso bist du hier? Wieso ausgerechnet du?« Ich presste die Hand auf meinen Brustkorb, der mir verflucht eng vorkam. Mein Herz rebellierte gegen alles, was es gerade fühlen wollte.
»Ich war die logische Wahl.« Seine Stimme klang ruhig, aber gepresst.
»Ach, und Emile selbst wäre keine logische Wahl gewesen?«, keuchte ich.
»Ich bitte dich.« Lucien schüttelte den Kopf. »Bayarri hat Talent, aber das hier ist eine Nummer zu groß für ihn.«
»Wieso hat mir niemand verraten, dass du herkommen würdest?« Ich sagte es mehr zu mir selbst. Meine Hände zitterten, meine Lippen ebenfalls. Ich presste sie fest aufeinander und spürte die Vibration in meinen Zähnen.
»Weil nicht geplant war, dass ich es dir sage.« Lucien atmete tief ein. »Phoenix wollte, dass du wie alle anderen glaubst, ich wäre Emile. Aber ich bin der Ansicht, dass ich dir ohnehin nicht lange etwas vormachen kann.«
»Du glaubst nicht, dass du mir etwas vormachen kannst?«, rief ich. »Ausgerechnet du? Du bist ein besserer Emile gewesen als Emile selbst! Und du hast mich wochenlang …« Ich brach ab. »Du kannst nicht hierbleiben«, würgte ich hervor. »Es geht nicht.«
»Das ist nicht deine Entscheidung, Ophelia. Oder meine. Hier geht es nicht um dich oder mich.« Luciens Gesicht verschloss sich und Wut funkelte in seinen Augen. Ich hatte mich schon gefragt, wo sie abgeblieben war.
»Aber wie soll ich …« Ich fuhr mir über das Gesicht. Das musste ein schlechter Traum sein. Der Vater aller schlechten Träume. »Warum tust du das? Willst du mich quälen?«
»Ob ich dich … Was denkst du denn von mir?« Er starrte mich an.
»Keine Ahnung, was ich denken soll!« Ich musste hier weg, so schnell wie möglich. Ich musste weg und in Zukunft verhindern, dass wir allein waren. Nur so konnte mein Plan funktionieren, nur so würde ich damit zurechtkommen, dass Lucien hier war. Wobei, was machte ich mir vor, ich würde nie damit zurechtkommen. Dazu war das zwischen uns für mich zu bedeutsam gewesen, zu tief und am Ende zu schmerzhaft.
Allerdings gab es etwas, das es mir leichter machen würde. Ich drehte mich zu ihm um. »Wie funktioniert es, dass du so aussehen kannst wie er?«
»Ganz einfach: über eine Manipulation von Eye- und EarLinks.« Lucien deutete auf seine Schläfe. »Ich habe ein ähnliches Implantat wie du, gekoppelt mit dem WrInk und ein paar anderen Sensoren. So wird jedem, der EyeLinks trägt, ein Bild von Emile angezeigt, obwohl ich es bin. Da wir eine ähnliche Statur und Größe haben, funktioniert es. Außerdem wird meine Stimme angepasst. Ich habe allerdings dein Implantat gerade so umprogrammiert, dass deine EyeLinks nun mich anzeigen und nicht mehr das manipulierte Bild.«
»Und was machst du, wenn jemand keine InterLinks trägt?«
»Dann habe ich ein Problem.« Lucien hob die Schultern. »Aber zum einen haben wir über dich gesehen, dass die ReVerse-Leute nahezu immer InterLinks tragen – und zum anderen registriert mein Implantat, wenn es bei jemandem nicht so ist. Dann muss ich schnell in Deckung gehen.«
Ich stieß die Luft aus. »Das heißt, alle sehen Emile und nicht dich?« Das war die gleiche Technik, die bei dem Fake-Angriff am See verwendet worden war und mir Knox gezeigt hatte.
Lucien nickte. »Richtig.«
»Kannst du es bei mir auch wieder umstellen?«
»Umstellen?«
»Mein Implantat. Kannst du es wieder so einrichten, dass ich Emile sehe und nicht dich?«
»Wenn es das ist, was du willst – natürlich.« Lucien schaute mich an, und ich glaubte, unter diesem Blick in meine Einzelteile zerlegt zu werden. War er wirklich verletzt? Oder bildete ich mir das nur ein?
Er kam auf mich zu, vorsichtig, als wäre ich ein scheues Tier. Als er sich mit dem Tool an meiner Schläfe zu schaffen machte, gab er sich Mühe, mich nicht zu berühren. Trotzdem war ich ihm viel zu nahe. Ich sah seine Wangenknochen, seinen Hals, die zum Zopf gebundenen Locken – und wusste wieder, wie es war, all das zu berühren. Sofort schlug mein Herz schneller, und ich versuchte, an etwas anderes zu denken. Aber dann streifte Lucien doch mit den Fingern meine Haut. Ich atmete scharf ein. So als hätte es wehgetan.
»Lass es.« Ich wich zurück und brachte Abstand zwischen mich und Luciens Hände. »Du musst es nicht umstellen«, sagte ich eilig, um meine Reaktion zu überspielen.
»Bist du sicher?«
»Ja«, sagte ich. »Es ist alles in Ordnung.« Das war eine Lüge, überhaupt nichts war in Ordnung. Wie sollte ich das mit Knox wieder auf die Reihe bringen, wenn Lucien in der Nähe war? Wie sollte ich die OmnI als Druckmittel benutzen, wenn er mich überwachte? Und wie zur verdammten Hölle sollte ich auch nur einen klaren Gedanken fassen, wenn ein Teil von mir sich die Zeit zurücksehnte, als wir zusammen gewesen waren?
»Wir müssen uns über das weitere Vorgehen unterhalten«, sagte Lucien. Es klang sehr nüchtern.
Ich nickte. »Ich weiß. Aber können wir das auf morgen verschieben? Ich muss erst mal … damit klarkommen.«
»Natürlich«, sagte er, und wir gingen schweigend nebeneinander den steilen Weg zum Hotel zurück. Zwischen uns lag so viel Abstand, dass es keine zufällige Berührung geben konnte, aber mein Blick streifte Lucien trotzdem immer wieder. Plötzlich schoss mir die Frage nach dem Brand in den Kopf, nach seinem Überleben dieser fürchterlichen Verletzungen. Aber ich stellte sie nicht.
»Meine Links sind mit deinen verbunden«, informierte er mich. »wenn ich in deiner Nähe bin, werden deine automatisch abgeschaltet, damit es zu keiner Überlastung mehr durch den Dauereinsatz kommt.«
Ich nickte nur und wir gingen weiter. Als wir schon fast am Hotel waren, blieb Lucien stehen und hielt mich zurück, ohne mich zu berühren.
»Ophelia, was hat die OmnI dir über mich gesagt?«, fragte er. »An dem Abend vor dem Attentat.«
»Nichts.« Ich sah ihn nun direkt an, weil ich mich ja irgendwie daran gewöhnen musste. »Nichts von Bedeutung.«
»Nichts?« Er klang enttäuscht und die Wut in seinen Augen war nur noch ein schwaches Glimmen. »Du hast schon besser gelogen.«
»Nie so gut wie du«, sagte ich traurig. »Gute Nacht … Emile.«
Eilig entfernte ich mich von ihm, beschleunigte meine Schritte. Als ich das Gebäude erreichte, lief ich bereits, auf dem Weg die Treppe hinauf rannte ich. Aber auch als ich die Tür meines Zimmers hinter mir zuschlug und mich keuchend dagegenlehnte, gab es kein Entkommen. Lucien war hier und mit einem Mal standen nicht nur mein Leben und meine Zukunft auf dem Spiel, sondern vor allem mein Herz und mein Verstand. Ich würde eine fünf Meter hohe Mauer errichten müssen, wenn ich das überleben wollte.
Am besten fing ich gleich damit an.
16
Ein lautes Klopfen an meiner Tür war das Erste, was ich am nächsten Morgen hörte. Stöhnend legte ich den Arm über meine Augen. Nicht, weil es hell war. Sondern weil mir eingefallen war, dass meine ohnehin desaströse Situation gestern ein Upgrade erhalten hatte.
»Scale! Hopphopp! Wir warten nicht auf dich!« Elodie klopfte noch einmal, dann entfernten sich ihre Schritte. Ich war versucht, mich umzudrehen und
weiterzuschlafen. Leider konnte ich das nicht. Die anderen hatten gestern mit »Emile« vereinbart, am heutigen Morgen Nahkampf zu trainieren – und ich hatte zugesagt. Wenn ich fehlte, gab das nur Stunk mit Elodie.
Meine Trainingssachen lagen auf dem Stuhl neben meinem Bett, die Sportschuhe standen darunter. Eigentlich ging ich immer erst Laufen, oft mit Jye, manchmal auch alleine. Aber als ich die Treppe herunterkam, stand bereits eine Menschentraube im Innenhof und wartete. Knox war dabei, ebenso Jye, Tatius und Elodie. Als ich auf sie zuging, tauchte jemand neben mir auf. Lucien. Meine grandiose Selbstbeherrschung verhinderte, dass ich zusammenzuckte. Er war Emile. Ich durfte nicht vergessen, ihn so zu behandeln.
»Morgen«, sagte ich und lächelte. In diesem Moment schalteten meine EyeLinks ab. »Wie war die erste Nacht als Widerstandskämpfer?«
»Großartig«, gab er zurück und lächelte ebenfalls, aber in Elodies Richtung. »Das Zimmer ist umwerfend, Lod. Danke dafür.«
»Immer gerne.« Sie strahlte ihn an. Am liebsten hätte ich ihr eine gescheuert.
»Also, wie läuft das hier ab?« Lucien deutete auf den Innenhof und sah sich um – sicherlich, um zu checken, ob alle Anwesenden InterLinks trugen oder er Gefahr lief, aufzufliegen. Es war befremdlich, Emiles Gesten bei ihm zu sehen, aber es half auch. Seine perfekte Vorstellung erinnerte mich daran, dass seine Gefühle für mich ja auch nur gespielt gewesen waren.
»Normalerweise wärmen wir uns auf und üben dann bestimmte Manöver im Nahkampf«, erklärte Tatius, der oft unser Training leitete. »Aber ich glaube, viele hier würden gerne sehen, wie zwei Anwärter aus Maraisville gegeneinander antreten.« Er schaute zu mir.
Wow. Tolle Idee. Wieso machten wir nicht etwas, das noch ätzender war? In einem Vulkan schwimmen oder kopfüber aus dem vierten Stock springen zum Beispiel? Oder vielleicht hatte Lucien ja auch ein Becherchen von dem Phoenix-Gebräu mitgebracht.
»Das ist doch albern«, sagte ich.
»Was denn, Scale? Hast du etwa Angst, du verlierst?« Elodie reckte herausfordernd das Kinn.
»Komm schon, Phee, was ist denn dabei?« Sogar Jye schien das für eine gute Idee zu halten. Ich begegnete Luciens Blick. Er zuckte mit den Schultern.
»Geben wir der Meute, was sie will.«
»Okay.« Ich hatte wohl kaum eine Wahl.
Wir wärmten uns auf, konnten uns aber nicht groß absprechen. Das Ereignis hatte sich verbreitet wie ein Lauffeuer, um uns herum drängten sich zig Leute und warteten gespannt auf den Kampf. Sogar auf den Balkonen standen sie und guckten von oben zu. Als ich in die Mitte des Innenhofs trat, fühlte ich mich wie in einem Fight Club.
»Bist du sicher?«, fragte ich leise und meinte damit nicht, ob Lucien diesen Kampf austragen wollte, sondern ob hier jemand war, der ihn nicht als Emile sah.
»Absolut«, raunte er mir zu, damit es niemand außer mir hörte. »Ich habe Knox gestern gesagt, dass es klüger wäre, wenn alle ihre Links dauerhaft aktiv lassen. Du weißt schon, zur Verkürzung der Kommunikationswege und so. Es gibt schließlich einen mächtigen Feind, bla bla. Er hat das gleich weitergegeben.«
Ich ärgerte mich, nicht selbst darauf gekommen zu sein. Aber ich war zu beschäftigt gewesen, damit klarzukommen, dass Lucien nun hier war.
Die Menge wurde unruhig.
»Fangt endlich an!«, rief jemand.
»Die tun so, als wären wir im Zirkus«, murmelte ich. Diese Sensationsgier war lächerlich. Jeder hier hatte mich bereits kämpfen sehen.
»Sind wir das nicht?«, fragte Lucien zurück und schenkte mir ein Lächeln. Ich erwischte mich dabei, wie ich ebenfalls lächelte. Dann nahm ich meine Kampfhaltung ein.
Wir hatten nie zusammen trainiert oder gegeneinander gekämpft, sondern unsere gemeinsame Zeit anders genutzt. Ich wusste trotzdem, wie Lucien sich bewegte, wie er reagierte und was seine Stärken und Schwächen waren. Manches davon hatte ich in unseren Gesprächen erfahren, anderes, wenn wir nicht geredet hatten. Aber ob mir das helfen konnte?
Lucien wartete ab und überließ mir den ersten Angriff. Während ich auf ihn zulief, sah ich, wie er seinen Körper anspannte – und ahnte, dass dieser Kampf nicht gut für mich ausgehen würde.
Meinem ersten Tritt wich er einfach aus, meinen Schlag blockte er mit dem Unterarm ab. Sonst passierte nichts. Er versuchte nicht, mich zu treffen, er startete keinen Gegenangriff. Er leitete meine Aktionen nur ab, eine nach der anderen, wie ein Blitzableiter. Mit erschreckender Leichtigkeit ahnte er voraus, was ich vorhatte, reagierte blitzschnell und ließ mir keine Gelegenheit für einen Treffer. Nach wenigen Minuten war ich völlig fertig, während er nicht einmal schwitzte. Wütend starrte ich ihn an, aber er hob nur eine Augenbraue.
»War das schon alles?«, fragte er mich.
»Ganz sicher nicht.« Es machte mich sauer, dass er mich vorführte. Bei Emile wäre es etwas anderes gewesen, ihm hätte ich diesen Sieg gegönnt. Aber Lucien? Niemals.
Beim nächsten Angriff versuchte ich, es anders zu machen als im Schakal-Handbuch: ungebremster, unberechenbarer, mit abgeschaltetem Kopf. Es klappte. Eine schnelle Schlagfolge und Lucien musste zurückweichen, eine weitere und ich landete einen Treffer in die Seite. Allerdings tat meine Hand danach weh. Ich hatte vergessen, wie gut er trainiert war.
Die Quittung bekam ich sofort. Lucien gab es auf, nur zu reagieren – und das war mein Ende. Seine Aktionen kamen schnell und waren tödlich. Ich spürte, dass er seine Schläge bremste, aber sie waren trotzdem hart genug. Es dauerte keine Minute, und ich lag auf den Steinen, mit Schmerzen in diversen Teilen meines Körpers und Wut in meinem Bauch. Der umstehende Mob applaudierte. Es galt nicht mir.
Lucien wollte mir aufhelfen und hielt mir die Hand hin. Ich zögerte, aber ein bittendes Zucken in seinem Gesicht brachte mich dazu, seine Hilfe anzunehmen. Mit Leichtigkeit zog er mich auf die Füße. Schnell ließ ich wieder los.
»Guter Kampf«, sagte er.
»Wer’s glaubt«, murrte ich und verzog mich in eine Ecke, um dem Spott zu entgehen. Lucien kam mir nicht nach. Ich war froh darüber.
Niemand beachtete mich, während ich eine Flasche Wasser nahm und ein paar Schlucke trank. Aber dann kam die Menge wieder in Bewegung und Geflüster ging durch die Reihen. Offenbar hatte sich ein neuer Gegner für Lucien gefunden.
»Ich glaube, ich brauche eine kurze Pause«, hörte ich ihn sagen. Ich spähte über ein paar Leute hinweg und sah, wer vor ihm stand: Knox.
»Kann dieser Tag noch beschissener werden?«, murmelte ich. Das war wie in einer von diesen pseudoromantischen Geschichten. Nur, dass es hier nicht um mich ging, sondern um Ego und Stolz. Knox wollte sich als Anführer beweisen und deswegen das andere Alphamännchen herausfordern. Fantastisch.
Jye drängelte sich zu mir durch. »Das war beeindruckend, Phee.«
»Japp, er schon.« Ich verzog das Gesicht.
»Ach, mach dir nichts draus. Du hast dich gut gehalten.«
»Hast du zugesehen? Er hat mich vernichtet.«
»Und wenn schon. Ihr seid doch Freunde, oder?«
Beinahe hätte ich über die Frage gelacht. Lucien und ich waren alles, nur keine Freunde. Aber da es auf Emile zutraf, nickte ich.
»Hat Knox Todessehnsucht?«, fragte ich dann. Jye grinste.
»Aber, aber. Spricht so eine liebende Freundin?«
»Momentan bin ich wohl keins von beidem.«
Jye holte Luft, um zu antworten, aber da sagte jemand: »Es geht los«, und er klappte den Mund wieder zu. Wir schoben uns ein Stück nach vorne, um etwas sehen zu können.
Lucien und Knox standen sich in der Mitte des Innenhofes gegenüber, und ich hatte zum ersten Mal Gelegenheit, sie miteinander zu vergleichen. Beide waren ähnlich groß, aber das war auch schon das Ende der Gemeinsamkeiten. Luciens Körper war beweglich und seine Mimik lebendig, seine Haare leuchteten in der Sonne und seine Augen reflektierten jeden Funken. Knox dagegen war wie ein Fels, eisern und dunkel, als würde er die Helligkeit einfach aufsaugen. Es war wie ein Aufeinandertreffen von Licht und Schatten, vo
n Tag und Nacht. Beide hatte ich geliebt. Aber nur bei einem hoffte ich darauf, dass die Liebe noch da war. Ja, aber bei welchem?, fragte die boshafte kleine Stimme in meinem Kopf.
»Bereit?«, fragte Knox. Ich verzog das Gesicht. Nun war ich gezwungen, dabei zuzusehen, wie Lucien mit ihm kurzen Prozess machte.
Zehn Minuten später war klar, dass nichts dergleichen passieren würde: Lucien schenkte Knox jede Menge Treffer. Er machte es geschickt, tarnte es gut, aber ich sah trotzdem jede kalkulierte Fehlentscheidung und jede bewusste falsche Bewegung. Hier ein Eindrehen der Schulter, dort ein Zurückziehen des Arms, ganz anders als vorhin bei mir. Es war eine einzige Einladung an Knox, ihn zu besiegen – und der nahm sie an. Ihr Kampf dauerte keine Viertelstunde, dann lag Lucien am Boden.
»So viel zur Todessehnsucht.« Jye fiel in das Klatschen und Gejohle mit ein. Alle stürmten auf Knox zu, gratulierten ihm und klopften ihm auf den Rücken. Offenbar hatte nur ich gesehen, dass es ein fauler Sieg war.
An Training war bei diesem Aufruhr nicht mehr zu denken, also beschloss ich, meine Wut abzureagieren und Laufen zu gehen. Auf meinem Weg nach draußen sah ich jedoch goldbraune Locken, die in Richtung Küche verschwanden. Ich zögerte nur eine Sekunde, dann lief ich hinterher.
Lucien stand an der offenen CoolUnit und trank eine Flasche Wasser auf ex leer. Ich warf die Tür zum Flur hinter mir zu.
»Was sollte das?«, fauchte ich.
»Was sollte was?« Er setzte die Flasche ab und schloss die Unit.
»Das mit Knox gerade eben.«
»Er ist ziemlich gut, nicht wahr?«
»Stell dich nicht blöd. Knox ist vielleicht gut, aber ich weiß, wie gut du bist. Du hast ihn gewinnen lassen!«
Lucien hob die Schultern. »Und wenn?« Er nahm den Saum seines Shirts hoch, wischte sich damit über das Gesicht und gab so den Blick auf seinen Oberkörper frei. Es ließ mich nicht kalt. Aber das machte mich nur noch wütender.