by Kiefer, Lena
Draußen herrschte Chaos. Die Liegen waren wie von starkem Wind zu einem eigenartigen Gebilde aufgehäuft, die Pflanzen waren allesamt umgeworfen worden, das Geländer zur Terrasse zerstört. Zwei Mädchen hockten in einer Ecke, die eine hielt sich den Arm, ihre Schulter war blutüberströmt. Knox lief auf die beiden zu und holte sie aus der Gefahrenzone. Keine Minute zu früh. Im nächsten Moment rauschte etwas heran, und die Wand, die den Pool vom Abgrund trennte, wurde getroffen und zerstört. Tonnen von Wasser stürzten brüllend in die Tiefe und rissen alles mit, was in der Nähe war. Jemand schrie um Hilfe.
Ich kannte diese Zerstörungskraft, hatte sie im Unterricht bei Fiore gesehen: Nanopartikelwaffen. Sie pulverisierten jedes Material mit einem einzigen Schuss und konnten in Minuten ganze Städte zerlegen. Aber wer zur Hölle griff uns damit an?
»Phee, Vorsicht!«, rief Knox und riss mich zur Seite, warf mich fast um. Neben uns schlug etwas am Boden auf, eine Kommode, die mit ohrenbetäubendem Krachen in ihre Einzelteile zerschellte. Die Splitter spritzten in alle Richtungen. Ich hielt schützend die Arme vor mein Gesicht.
»Da oben!«
Ich sah an der Fassade hoch. An zwei Stellen war die Mauer verschwunden, Löcher klafften im Gestein, aus einem von ihnen musste die Kommode gefallen sein. Laute Schreie drangen bis zu uns hinunter. Mein Blick wanderte weiter, Angst stieg in mir hoch. Mir wurde eiskalt, als ich sah, dass die westliche Ecke des Gebäudes getroffen worden war. Lucien. Sein Zimmer war dort.
»Bringt alle in den Keller!« Ich lief ins Gebäude, ohne auf Antwort zu warten, sprintete die Treppe hoch. Ein Stockwerk höher stützte Martin jemanden, der aus einer Platzwunde an der Stirn blutete.
»Geh nicht da hoch, die kommen wieder!«, rief er mir zu, aber ich ignorierte es. Die zweite Treppe, wieder traf ich auf ReVerse-Mitglieder, manche verletzt, alle schockiert. Aber ich hatte nur einen Menschen im Kopf: Lucien. Er war einzig und allein hier, weil ich Mist gebaut hatte. Wenn er deswegen verletzt wurde oder sogar getötet … Plötzlich durchströmte mich tiefe, alles andere überflutende Zuneigung zu ihm. Ich musste ihn retten. Scheißegal, was aus uns werden würde, aber ich konnte nicht damit leben, wenn ihm etwas passierte.
Ich lief weiter, nahm immer zwei Stufen auf einmal, kam endlich im obersten Stock an. Der Flur dort glich einem Trümmerfeld. Der Teppich war kaum noch zu sehen, Gesteinsbrocken und Holzfetzen lagen überall. Ich bahnte mir einen Weg durch das Chaos, musste einige Möbel zur Seite räumen, riss mir dabei die Hände auf. Endlich stolperte ich zum letzten Raum an der Ecke, die Tür klemmte im Rahmen fest. Ich zog daran, schrie vor Wut, als sie sich nicht bewegte. Dann endlich schaffte ich es, sie aufzustemmen. Im gleichen Moment drohten meine Beine, unter mir nachzugeben.
Luciens Zimmer war nicht verwüstet.
Es war gar nicht mehr da.
Ein tiefes Loch klaffte im Gebäude, weit unten konnte ich die Terrasse sehen. Bis auf einen schmalen Streifen Fliesen neben der Wand war das Zimmer weggerissen worden. Langsam wagte ich mich vorwärts und hoffte, dass der Rest des Bodens halten würde. Wenn Lucien hier gewesen war … Ich balancierte an der Kante zwischen Wand und Abgrund, ein winziger Schritt nach dem nächsten. Ich war nicht gefasst auf das, was mich erwartete, schob die Bilder weg, die sich mir aufdrängten. Immer weiter tastete ich mich vor, im Kopf nur einen Wunsch. Bitte sei nicht dort. Bitte sei nicht da unten.
Die FlightUnit kam zurück, ich hörte das typische Geräusch der Aggregate. Eilig presste ich mich an die Mauer und schloss meine Augen. Das Röhren wurde lauter, gleich war sie hier. Gleich würde sie schießen. Vielleicht hatte ich Glück und stürzte nicht zehn Meter in die Tiefe. Oder ich hatte Glück und genau das passierte. Wenn Lucien tot war, dann –
Da packte mich plötzlich jemand am Arm, zog mich von der Kante weg, hob mich durch die Tür und auf sicheren Boden. Ich sah auf und blickte direkt in rauchblaue Augen. Sehr wütende rauchblaue Augen.
»Nach Tod im Urwald jetzt Tod im Luxushotel?«, rief Lucien aufgebracht. »Was zur Hölle stimmt nicht mit dir, Stunt-Girl?!«
Ich schluchzte vor Erleichterung auf und schlang ihm die Arme um den Hals.
»Ich dachte, du wärst …« Ich konnte es nicht laut sagen. Der Boden unter uns wurde erschüttert.
»Tot? Von wegen.« Er drückte mich an sich. »Ich kenne das Geräusch von nahenden FlightUnits, ich war schnell genug hier raus. Nur um dann zu hören, du wärst wie ein Zombie nach oben gelaufen.« Er löste sich von mir und nahm meine Hand. »Komm, wir sollten hier verschwinden.«
Wir suchten uns einen Weg zur Treppe.
»Das ist nicht Maraisvilles Werk, oder?«, fragte ich und schob mich an einem umgefallenen Schrank vorbei. Meine EyeLinks waren stumm, seit die erste Angriffswelle uns getroffen hatte.
»Was? Nein, natürlich nicht.« Lucien schüttelte den Kopf. »Phoenix mag mein Vorgehen manchmal nicht passen, aber es ist noch nicht so weit, dass er mich umbringen will.«
»Aber wer dann?«
»Keine Ahnung. Ich –«
Ein lauter Schrei unterbrach ihn.
»Hilfe! Ich brauche dringend Hilfe!« Die panische Stimme gehörte Elodie. Lucien und ich wechselten einen Blick. Dann ließ ich seine Hand los und wir rannten in den Flur im zweiten Stock.
»Ophelia, Emile, oh Gott, bitte … er atmet nicht!« Elodie kniete auf dem Boden, neben ihr ein regloser Körper. Als ich näher kam, drehte sich mein Magen um.
Die Gestalt war Tatius, auch wenn das kaum zu erkennen war. Sein Gesicht war voller Blut, sein Arm stand in einem schmerzhaften Winkel vom Körper ab. Aber das Schlimmste war sein Bein. Es lag unter einem schweren Balken, war am Knie bis auf den Knochen zerquetscht und der Teppich darunter färbte sich dunkelrot.
»Was ist passiert?« Lucien hockte sich neben Tatius auf den Boden und legte zwei Finger an seinen Hals.
»Ich weiß es nicht!«, schluchzte Elodie. »Er hat mich geholt, ich war oben, dann fiel der Balken runter und hat ihn getroffen … ich habe versucht, ihn wegzuziehen, aber er rührt sich nicht. Bitte hilf mir, bitte mach irgendwas!« Sie krallte sich in Luciens Arm. Er stand auf und zog an dem Balken, ich packte mit an, dann auch Elodie, aber er war selbst für uns drei zu schwer.
Lucien wandte sich kurz von Tatius ab. »Ophelia!«, rief er mir zu. »Lauf nach unten und besorg mir ein paar Helfer, um den Balken wegzuschaffen, okay? Außerdem alles, was du an Schmerzmitteln, Verbandsmaterial und Notfallsets finden kannst. Beeil dich!«
Ich nickte nur und spurtete los. Während ich um die Ecke bog, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Es war die Erinnerung an einen Satz, den ich heute gehört hatte. Du wirst sehr bald sehen, dass du dich für die richtige Seite entschieden hast. Plötzlich hatte ich einen starken Verdacht, wer das hier gewesen war. Dieser Angriff, diese Verletzten oder sogar Toten gingen auf ihr Konto.
»Sie war es«, murmelte ich. »Die OmnI hat das getan.«
Sie hatte ReVerse angegriffen und es so aussehen lassen, als wäre Maraisville dafür verantwortlich. Das konnte sie nicht selbst, aber Troy oder Costard waren sicher dankbare Handlanger gewesen. Und wofür? Um mir und allen anderen hier klarzumachen, dass es nur eine Seite geben konnte: Ihre.
Es war perfide, grausam und brillant.
Genau wie sie.
20
Während ich in die Zentrale rannte und nach medizinischen Vorräten fragte, rasten die Gedanken in meinem Kopf. Ich war eine Närrin gewesen, zu glauben, ich hätte die OmnI über meine Absichten getäuscht. Sie musste geschlussfolgert haben, dass ich ihren Plänen misstrauisch gegenüberstand – und vielleicht andere bei ReVerse damit anstecken könnte, also hatte sie vorgesorgt. Nichts einte eine Gruppe besser als ein Angriff des Feindes. Wahrscheinlich war es sogar ihr Plan, dass ich so wieder auf Linie gebracht würde. Aber ich würde mich nie wieder von ihr manipulieren lassen.
»Jye!« Als ich ihn sah, war die OmnI für den Moment vergessen. »Ich brauche ein Notfallset und etwas gegen Schmerzen, dringend!« Auf dem Weg nach unten hatte ich längst ein paar Jungs zur Hilfe in den zweiten
Stock geschickt.
»Komm mit.« Er ging vor zu einem der Lagerräume.
»Wie sieht es aus?«, fragte ich. Um mich herum saßen und lagen Menschen, einige waren verwundet, andere kümmerten sich um sie.
»Wir haben viele mit oberflächlichen Verletzungen, manche mit schwereren«, sagte Jye und presste die Lippen aufeinander. »Und einige sind noch vermisst. Elodie und Tatius …«
»Sie sind oben.« Kaum hatte ich das gesagt, bereute ich es schon.
»Oben? Geht es ihnen gut?!« Jye war bereits auf dem Sprung. Ich hielt ihn fest.
»Tatius ist verletzt«, sagte ich. »Sehr schwer. Ich weiß nicht, ob –«
Jye war aus der Tür, bevor ich ausgesprochen hatte. Ich fluchte, rannte ihm aber nicht nach. Ich musste erst die Sachen besorgen, die Lucien brauchte.
Schnell ging ich ins Lager und fand ein Notfallset neben einem Behälter mit Mullbinden.
»Phee!«
Ich drehte mich um. Knox kam auf mich zu, neben ihm eine unbekannte Frau. Sie war dunkelhäutig und sicher ein paar Jahre älter als wir.
»Glaubst du, das ist der richtige Moment für Besuch?« Ich stapelte Verbandsmaterial in meine Armbeuge.
»Für diesen schon.« Knox zeigte auf die Frau. »Das ist Aurora Lehair. Sie ist hergekommen, um meine Restoring-Fortschritte zu kontrollieren. Ich habe ihr gesagt, es ist zu gefährlich, hier zu sein, aber –«
»Aber ich habe mich nicht abhalten lassen«, unterbrach sie ihn. »Wo kann ich helfen?« Sie sah mich an. Ich versuchte, mich an alles zu erinnern, was ich über sie wusste.
»Du bist Neuromedizinerin, oder?« Sie nickte. »Wir haben oben einen Schwerverletzten, der dringend versorgt werden muss. Er hat einen offenen Bruch und jede Menge Blut verloren.«
Aurora stieß die Luft aus. »Okay, bring mich zu ihm. Ich habe ewig keine Notversorgung mehr gemacht. Aber ich kann es versuchen.«
Ich drückte Knox das Material in die Hände und fasste Aurora am Arm. »Komm mit.«
Im zweiten Stock war die Lage immer noch kritisch. Die Helfer, die ich geschickt hatte, schienen den Balken weggezerrt zu haben, aber das war auch die einzige Verbesserung. Jye und Elodie hockten beide neben Tatius auf dem Boden, genau wie Lucien. Er hatte das Bein offenbar mit einem Vorhangseil abgebunden und drückte zusätzlich die Hände darauf, aber es lief weiterhin Blut aus der Wunde. Als Aurora kam, stand er auf und überließ ihr das Feld. Ich ging mit ihm ein paar Schritte weg, während sie sich um Tatius kümmerte.
»Wie ist der Stand?«, fragte ich.
»Es sieht schlecht aus«, murmelte Lucien. »Das Bein ist nicht zu retten, fürchte ich. Außerdem habe ich den Verdacht, dass der Balken auch seinen Brustkorb getroffen hat. Vielleicht sind da innere Verletzungen, die man nicht sieht.« Luciens Hände waren tiefrot. Ich riss das Laken von dem Bett im nächsten Zimmer, damit er das Blut abwischen konnte.
»Es gab keinen neuen Angriff mehr, oder?« Ich horchte. Draußen war es eigenartig still.
»Nein. Offenbar haben sie aufgegeben.« Er senkte die Stimme. »Ich sehe dir an, dass du einen Verdacht hast, wer es war. Sag mir, was du denkst!«
»Ich glaube, es war die OmnI«, flüsterte ich. »Du hast doch das Gespräch mit ihr gesehen, oder? Am Ende hat sie gesagt, ich würde bald merken, dass ich mich für die richtige Seite entschieden habe. Damit hat sie den Angriff gemeint, er war ihr nächster Schachzug. Sie hat ihn über Costard mit Nanopartikelwaffen und FlightUnits inszeniert, Mittel, die vermeintlich nur auf Maraisville hinweisen können. Jetzt wird jeder hier glauben, Leopold hätte ReVerse angegriffen. Vermutlich hofft sie sogar, dass ich das auch glaube.«
»Verfluchte Scheiße …« Lucien stieß die Luft aus. Ich sah ihn zucken, als wollte er irgendetwas zerschlagen, tat es aber nicht. Auch in diesem Moment blieb er in seiner Rolle.
»Was sagen sie dazu?« Wie immer, wenn ich in seiner Nähe war, zeigte sich keine Nachricht auf meinen EyeLinks.
»Bisher nicht viel. Aber aus der Entfernung können sie eh nichts tun.«
»Wir müssen versuchen, die anderen davon zu überzeugen, dass dieser Angriff nicht das Werk von Maraisville ist«, sagte ich.
»Völlig richtig. Fragt sich nur, wie.« Die Falte zwischen Luciens Augenbrauen wurde tiefer. Selbst für ihn musste das eine schier unlösbare Aufgabe sein.
»Haltet ihn fest!«, rief Aurora plötzlich. Als wir herumfuhren, sahen wir, warum. Tatius bäumte sich vor Schmerz auf, er zitterte unkontrolliert, erstickte Laute quollen aus seinem Mund. Wir stürzten zu ihm und halfen, ihn auf dem Boden zu halten. Die Krämpfe schüttelten seinen Körper, seine Augen rollten weiß in ihren Höhlen. Der Anfall dauerte einige Augenblicke, dann war er vorbei. Tatius wurde schlaff und reglos, seine Augen schlossen sich. Panisch griff Elodie nach seinem Handgelenk.
»Ist er …?«, fragte sie leise. Aurora schüttelte den Kopf.
»Noch nicht, aber er ist nah dran. Die nächsten 24 Stunden werden zeigen, ob er es schafft. Wir müssen ihn nach unten bringen, damit ich ihn genauer untersuchen kann.«
Wir nahmen die Tür eines zerstörten Schrankes, und alle fassten mit an, als wir Tatius hinaufhievten und die drei Treppen ins Kellergeschoss trugen.
»Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist – wenn er stirbt, werde ich den König höchstpersönlich umbringen.« Elodies verweinte Augen sprühten vor Hass. »Ihn und alle, die auf seiner Seite sind.«
Über Tatius’ reglosen Körper hinweg sah ich Lucien an und er erwiderte meinen Blick. In diesem Moment wussten wir beide: Wenn heute Abend Menschen starben, brach die Hölle über uns herein. Wenn ReVerse glaubte, dass Leopold für diesen Angriff verantwortlich war, hatte die OmnI gewonnen.
Bald darauf kehrte im Hotel etwas Ruhe ein. Die Zentrale war zum Matratzenlager umfunktioniert worden und die meisten aßen etwas oder ruhten sich aus. Zum Glück war der Angriff insgesamt glimpflich verlaufen – die meisten Verletzungen waren Fleischwunden oder gebrochene Knochen, außer Tatius schwebte niemand in Lebensgefahr. Natürlich nicht, dachte ich bitter. Die OmnI hatte ihre Armee nicht zu sehr schwächen wollen. Ihr Plan war es schließlich nur gewesen, ReVerse gegen den König aufzubringen.
Ich hatte mich daran gemacht, alles an Essen aufzuwärmen, was die CoolUnits hergaben: Unmengen von Tellern und Aufbewahrungsboxen stapelten sich auf dem Tresen in der Küche. Lucien war nach draußen gegangen, um mit Maraisville zu sprechen, aber ich hatte nicht still sitzen und auf das Ergebnis warten wollen. Was sollten wir jetzt tun? Gab es überhaupt etwas, das wir gegen die OmnI ausrichten konnten? Bevor man uns angegriffen hatte, war ich zuversichtlich gewesen, Knox überzeugen zu können – aber jetzt war ich da nicht mehr sicher. Als ich mit einer neuen Fuhre von aufgewärmtem Eintopf in die Zentrale kam, kroch mir ein kaltes Gefühl den Nacken hoch.
Knox hatte sich an der Stirnseite des Raumes auf einen Tisch gestellt und bat um Ruhe. In seinem Gesicht sah ich eiserne Entschlossenheit, jeder Muskel in seinem Körper schien angespannt zu sein. Lautlos stellte ich das Essen auf dem nächsten Stuhl ab und verzog mich in die Nähe der Tür.
»Ich wollte eigentlich mit Freunde beginnen, aber das erscheint mir falsch. Wir sind viel mehr als das.« Knox sprach ruhig, aber der Unterton in seiner Stimme ließ die Kälte in meinem Nacken eisig werden. »Wir sind Soldaten im Krieg gegen Leopold de Marais! Wir sind Kämpfer für unsere Freiheit! Bisher hat dieser Kampf im Verborgenen stattgefunden, aber heute Nacht haben sie uns angegriffen, sie haben unsere Leben bedroht. Das werden wir nicht hinnehmen!«
Die Leute klatschten zustimmend. Neben mir glitt die Tür auf und Lucien schlüpfte in den Raum. »Ich habe meinen Nachnamen gehört«, raunte er so leise, dass es sonst niemand hören konnte.
»Wenn es nur das wäre«, murmelte ich. Knox schien gerade erst in Fahrt zu kommen.
»Vor sechs Jahren hat man uns alles weggenommen und uns erzählt, es geschehe zu unserem Besten. Aber das war gelogen! Es war ein Versuch, uns vollständig unter Kontrolle zu bringen, uns einzusperren und alles zu nehmen, was uns ausmacht. Das lassen wi
r uns nicht gefallen!«
Das klang ähnlich wie die Worte, die ich Leopold in der Nacht des Attentats an den Kopf geworfen hatte. Wie falsch das alles gewesen war, wie stumpf und kurzsichtig. Scham brannte in meinem Magen.
»Ich verspreche euch, wir werden uns wehren!«, rief Knox. »Wir werden dem König zeigen, was es heißt, ReVerse anzugreifen! Leopold de Marais wird schon sehr bald den Untergang der Abkehr erleben, den Untergang seiner eigenen, grausamen Herrschaft! Wir schlagen noch heute zurück!«
Alles jubelte und reckte die Fäuste, schnell kam ein Sprechchor auf. »Für ReVerse!« hallte es dutzendfach durch das Gewölbe, teilweise auch: »Knox, Knox, Knox!« Sechzig Menschen feierten ihren Anführer, der gerade ganz offiziell zu den Waffen gerufen hatte. Nur zwei im Raum wussten, wie fatal seine Rede tatsächlich war. Für uns alle.
Lucien und ich schlichen hinaus und suchten einen Ort, wo wir reden konnten.
»Was hat Maraisville gesagt?« Ich sah ihn an.
»Wir sollen abwarten«, antwortete er. »Sehen, wie es sich entwickelt.«
»Was? Haben die gehört, was Knox gesagt hat? Er will noch heute Rache nehmen!«
Lucien blinzelte, zweimal kurz, zweimal lang. Maraisville war stummgeschaltet.
»Rede mit Knox«, beschwor er mich leise. »Treib ihm diese Idee aus. Mir ist egal, was Phoenix sagt. Wir haben keine Zeit, um abzuwarten.«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann. Nach heute Nacht schon gar nicht.«
»Wenn es jemand schafft, dann du. Knox hört auf dich.«
Einige ReVerse-Mitglieder gingen in der Nähe vorbei, und ich musste warten, bis sie außer Hörweite waren.
»Was, wenn nicht? Wenn es schiefgeht, könnte er merken, dass ich nicht mehr auf seiner Seite bin.« Ich rieb mir die Augen. Meine Müdigkeit und Erschöpfung kämpften verbittert gegen Angst und Sorge.
»Wenn man jemanden liebt, übersieht man vieles.« Lucien sah an mir vorbei, und mir war klar, er dachte an sich selbst.
Ich holte Luft. »Du weißt, ich hätte das nie getan, wenn –«