Der Himmel wird beben

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Der Himmel wird beben Page 37

by Kiefer, Lena


  »Verdammt, du hattest recht damit! Auf niemanden traf das mehr zu als auf mich, bis ich dir begegnet bin. Es ist vielleicht ironisch, dass ausgerechnet ich mich in eine Widerstandskämpferin verliebt habe, aber zum ersten Mal, seit meine Eltern gestorben sind, ist meine Zukunft kein tiefschwarzes Loch mehr.«

  Es war ihm ernst, das wusste ich. Und langsam drang in mein Bewusstsein, dass wir tatsächlich verschwinden könnten.

  »Was wird Leo­pold tun, wenn du weg bist? Du hast ihn gehört, er braucht dich.«

  »Mein Bruder braucht nicht mich, er braucht Leute, die für ihn kämpfen – und davon hat er mehr als genug. Was Leo­pold und mich verbindet, ist eine Verpflichtung, die niemals enden wird. Wenn ich weg bin, macht es das nur einfacher für ihn.«

  »Und Lynx?« Luciens Neffe war schließlich der Grund, warum wir beide spurten.

  »Ich habe Kontakte, die dafür sorgen können, dass du und ich vollkommen von der Bildfläche verschwinden. Phoenix wird dann keinen Grund haben, den Thronfolger zum Abschuss freizugeben.«

  Das klang logisch. Aber ich las in Luciens Gesicht, dass da noch mehr war. Ein Funkeln in seinen Augen, das mir verriet, wie wenig rational der wahre Grund hinter seinem Entschluss war.

  »Hast du mit Leo­pold gestritten, seit wir wieder hier sind?«, fragte ich.

  Lucien seufzte. »Jetzt weiß ich, wie nervig ich sein muss, wenn ich andere Menschen lese.«

  Ich erlaubte mir ein kleines Lächeln. »Also?«

  »Wir haben geredet, aber es kam nichts Neues dabei raus. Ich habe ihn noch einmal um Begnadigung für dich gebeten, und er hat mir wieder einmal erläutert, dass du keine Option für mich seist oder je sein würdest. Nicht, weil er es mir nicht gönne, sondern weil es politisch eine Katastrophe wäre.«

  »Womit er recht hat.«

  »Hör auf, so was zu sagen! Die Gründe, warum du das getan hast, hat er heraufbeschworen.« Luciens Züge wurden hart. »Jeden­falls haben wir gestritten, ich habe ihn einen Feigling und einen emotionalen Krüppel genannt, er mich einen romantisch verblendeten Schwachkopf … es war nicht schön. Aber er hat seinen Punkt deutlich gemacht, und ich werde meine Konsequenzen daraus ziehen. Ich gehe nicht dorthin zurück.«

  »Bist du sicher?«

  »Ich liebe dich, Ophelia.« Lucien nahm mein Gesicht in beide Hände. Seine Augen schimmerten dunkel im schwachen Licht. »Ich bin nicht wie Leo­pold, ich kann meine Gefühle nicht für das große Ganze opfern. Deswegen werde ich uns nicht aufgeben, nicht für einen Job, den ich hasse, oder für einen Bruder, dem sein Kreuzzug wichtiger ist als alles andere. Also lass uns herausfinden, wo die OmnI ist und dann von hier verschwinden, so schnell und weit weg wie möglich.« Er stockte plötzlich und sah mich an. »Oder willst du das etwa nicht?«

  Ich lachte ungläubig. »Ob ich was nicht will? Dich? Mit dir irgendwo leben, wo dieser ganze Kram keine Rolle mehr spielt? Himmel, ich will nichts auf dieser Welt mehr! Ich will nur nicht, dass –«

  »Ich verstehe, du möchtest es offiziell.« Lucien ging mit gespielt ernster Miene auf ein Knie und nahm meine Hand in seine. »Ich frage dich, Ophelia Scale: Willst du mit mir abhauen?«

  Ohne Zögern nickte ich. »Ja, Lucien de Marais. Ich will.« Dann zog ich ihn zu mir hoch, um ihn zu küssen, als hätte er mir tatsächlich einen Antrag gemacht. Ich hatte geglaubt, dass er seinen Bruder immer über mich stellen würde – stellen musste. Aber plötzlich war da Hoffnung, mehr als ich sie vielleicht je empfunden hatte. Wir würden zusammen sein, ohne Clearing, ohne Schakale, ohne Phoenix. Nur Lucien und ich. Das schien zu schön, um wahr zu sein.

  Es war zu schön.

  »Wie herzallerliebst. Ich würde ja gern klatschen, aber ich habe leider keine Hand frei.«

  Wir fuhren auseinander, drehten uns um – und sahen in die Mündung einer Waffe. Die Waffe lag in einer Hand, die gehörte zu einem Arm. Und dieser Arm war kein anderer als der von …

  »Troy.« Von einer Sekunde auf die andere verschwanden Freude und Glück hinter Anspannung und Angst. Was hatte er gehört? Was hatte er vor?

  »Dass wir uns immer wieder unter solchen Umständen treffen müssen, Scale.« Troys Augen hatten einen matten, ungesund wirkenden Glanz. Überhaupt sah er dünner aus, schwächer, krank. Seine Stimme war jedoch rasiermesserscharf und die Waffe in seiner Hand sehr real. Mein Blick zuckte zu dem Störsender, aber der lag zwei Meter entfernt auf der Liege und war immer noch aktiv. Von Maraisville würden wir keine Hilfe bekommen.

  »Was willst du, Rankin?« Lucien schob sich vor mich.

  »Keine Ahnung, Lucien.« Hass überzog Troys ebenmäßiges Gesicht. »Was hast du denn anzubieten außer diesem billigen Budenzauber, der dich wie Emile aussehen lässt?« Er lachte trocken. »Stellt euch vor, wie überrascht ich war, als ich erfuhr, dass Bayarri die Stadt seit Wochen nicht verlassen hat, dafür aber der Bruder des Königs schon länger nicht mehr dort gesehen wurde. Ich hatte schon eine Weile den Verdacht, dass du planen würdest, hierher zu kommen, Lucien. Aber ich hätte nicht geglaubt, dass du so dumm bist, es tatsächlich zu tun.« Troy legte den Kopf schief. »Eigentlich hatte ich mir eine dramatische Szene vorgestellt, in der ich die Wahrheit gewaltsam aus dir herauspresse. Das habt ihr mit eurer Prinz-und-Prinzessin-Nummer nun total verdorben.«

  »Dann kannst du die Waffe doch auch runternehmen«, schlug ich vor. Meine zittrige Stimme machte die Coolness meiner Worte jedoch zunichte.

  »Netter Versuch, Scale«, sagte Troy abfällig. »Aber das war nicht alles, was ich vorhatte. Selbst du musst zugeben, dass sich hier eine einmalige Gelegenheit bietet. Der Bruder des Königs, der Dritte in der Thronfolge, der Einzige mit einem Veto-Recht gegen Amelie … Es ist einfach zu verlockend, ihn zu töten.«

  »Du klingst wie ein richtig schlechter Filmbösewicht«, sagte Lucien ungerührt. Im Gegensatz zu meiner kam seine Lässigkeit gekonnt rüber.

  »Ich habe von deinen Talenten gehört.« Troy starrte ihn an. »Von deiner außergewöhnlichen Intuition und diesem Geschick, Menschen zu allem zu bringen, was du von ihnen willst. Aber wenn ich dich jetzt so höre, kann ich kaum glauben, dass du vor ein paar Jahren in Südamerika zwei Leute dazu gebracht hast, sich gegenseitig zu erschießen.«

  »Du glaubst auch jeden Scheiß, den man dir erzählt.« Luciens Arm, den ich umklammert hielt, wurde hart wie Stein.

  »Sagst du das, damit Ophelia nicht denkt, du seist ein skrupelloser Killer? Ist ja rührend. Ich hatte gehofft, du hättest etwas mehr drauf als die Nummer des hoffnungslosen Romantikers, der sein Mädchen beschützen will.«

  »Nimm die Waffe runter und ich zeige dir, was ich draufhabe«, knurrte Lucien.

  Troy lachte und ich sah mich nach einem Fluchtweg um. Aber wir hatten schlechte Karten. Der Raum war nicht besonders groß, unser Gegner stand in der einzigen Tür und wir hatten nichts, mit dem wir uns wehren konnten. Troy folgte meinem Blick zu seiner Waffe.

  »Das Spiel steht wohl eindeutig zu meinen Gunsten, oder?«, fragte er. »Ich muss nur mit dem Finger zucken und er ist tot. Noch einmal und du bist es auch. Aber ich glaube, wir gehen hier erst mal raus. Wäre doch schade, wenn der ganze Boden eingesaut wird.«

  Er hob seine Waffe höher und winkte uns zum Eingang. Ich wusste, dass Lucien überlegte, wie er Troy entwaffnen könnte, aber der hielt sich weit genug von uns entfernt. Er hatte uns in einem Moment überrascht, als wir uns sicher gefühlt hatten. Derartig überrumpelt konnte auch der beste Schakal nicht viel tun.

  Wir gingen nach draußen, traten auf den weichen Strand. Es war fast dunkel. Die Laterne vor dem Bungalow warf Schatten auf Troys ausgemergeltes Gesicht.

  »Darf ich bitten, Lucien? Auf die Knie.« Er deutete in den Sand.

  »Troy, hör auf damit!« Ich hielt Lucien immer noch am Arm fest. Wir wechselten einen Blick, aber es gab keine Lösung. Troy war zu weit weg, die Projektile viel zu schnell. Und er wusste das.

  »Du bist echt erbärmlich, Scale«, schnaubte er. »Und so leicht zu beeinflussen. Wie du damals im Bunker in der Ecke lagst und um deine Liebe zu diesem Versager g
ewinselt hast. Ich dachte, ich müsste mich gleich übergeben.«

  Ich sah Luciens Wut, aber er bewegte sich keinen Millimeter. Troy bemerkte es.

  »Muss ich erst ärgerlich werden?« Er schoss neben uns in den Sand und ich fuhr zusammen. Da löste sich Lucien von mir und machte einen Schritt nach vorne. Lautlos sank er auf die Knie.

  »Nein«, flüsterte ich. Ich wollte mich vor ihn stellen, da richtete Troy die Waffe auf mich. Reflexartig hob ich die Hände und dachte fieberhaft nach. Nichts. Meine Panik schwemmte jeden klaren Gedanken davon.

  Troy seufzte. »Ich habe darüber nachgedacht, in welcher Reihenfolge ich es erledige. Aber ich glaube, dich hasse ich mehr, Ophelia. Was macht es wohl mit dir, wenn du dabei zusiehst, wie er stirbt? Das werden üble letzte Minuten in deinem Leben.« Er hob den Arm und ich trat schnell nach vorne. Schützend schob ich mich vor Lucien.

  »Erschieß mich, okay? Das ist mir egal. Aber lass ihn in Ruhe!«

  »Dich?« Troy lachte. »Wieso sollte ich nur dich töten wollen? Du bist eine wertlose kleine Verräterin, Scale, sogar dein Tod ist wertlos. Versteh mich nicht falsch, ich tue dir diesen Gefallen sehr gerne. Aber wie ich schon sagte – den Bruder des Königs zu erledigen, lohnt sich viel mehr.« Er hob erneut die Hand. »Geh da weg oder ich lasse ihn leiden.«

  »Wie denn, mit deinem Gelaber?«, ätzte Lucien. »Ich hatte schon schlimmere Folterer.«

  »Wie heroisch von dir, mit einer Waffe vor deiner Nase noch den Coolen zu spielen.« Troy lachte hohl. »Nur wird deine Freundin nicht verhindern können, dass du stirbst. Wenn du also nicht willst, dass ich sie vor dir umbringe, pfeifst du sie am besten zurück.«

  Stille legte sich über den Strand.

  Ich rührte mich nicht.

  »Ophelia, geh zur Seite«, sagte Lucien. »Bitte.«

  »Nein!«, rief ich und spielte meine letzte Karte aus. »Die OmnI braucht mich, Troy, schon vergessen? Willst du dich wirklich mit ihr anlegen?«

  »Du denkst, die OmnI will noch irgendetwas mit dir zu tun haben, wenn sie erfährt, dass du sie die ganze Zeit hintergangen hast? Vergiss es. Und glaub mir, es wird das Erste sein, was ich ihr erzähle, wenn ich zu ihr zurückkehre.« Er lächelte bösartig. »Aber jetzt Schluss mit dem Gerede, ich würde gerne mit der Hinrichtung beginnen. Geh aus dem Weg, Scale. Sofort.«

  »Tu, was er sagt«, bat mich Lucien.

  Ich hatte keine Wahl. Also gehorchte ich stumm.

  »Na also.« Troy stierte mich an und nahm sein Opfer erneut ins Visier. Ich stand hilflos daneben und musste zusehen. »Ach, nur eine Kleinigkeit, Lucien: Würdest du deine Maske ablegen? Ich mochte Emile nie besonders, aber ich will dein Gesicht sehen, wenn ich dich töte.«

  Lucien hätte Troy sagen können, dass er dafür nur seine eigenen EyeLinks deaktivieren müsste, aber stattdessen hob ­Lucien die Hand an seine Schläfe und tat so, als würde er sich an seinem Implantat zu schaffen machen. Es dauerte länger als nötig, Troy drängte ihn zur Eile. Da sah ich meine Chance.

  Irgendwann zwischen Schakalausbildung und Widerstandsspitzelei hatte ich etwas gelernt: Wenn du keinen Plan hast, dann musst du einfach irgendetwas tun. Also tat ich genau das. So schnell ich konnte, stürzte ich mich auf Troy, riss ihn zu Boden. Ein Schuss zerriss die Stille. Die Waffe flog in die Dunkelheit davon.

  Wir landeten mit einem harten Aufprall im Sand, schmerzhaft ineinander verkeilt. Ich schlug mit meinen Fäusten, trat mit den Füßen und versuchte alles, um Troy zu verletzen. Er war stärker, aber ich war die bessere Kämpferin, also wälzten wir uns als sandiges Knäuel über den Strand. Er erwischte mich am Kinn, ich sah Sterne, traf ihn zwischen den Beinen und verpasste ihm einen Kopfstoß. Aber dann war ich kurz unaufmerksam und er warf mich auf den Rücken, drückte meine Arme in den Sand und presste mich mit den Knien an den Boden. Erst da fiel mir auf, dass ich längst Hilfe hätte bekommen müssen.

  Der Schuss.

  »Luc!«, brüllte ich. »LUCIEN!« Keine Antwort.

  »Ich bin ein guter Schütze, Scale«, sagte Troy voll abartiger Genugtuung. »Hast du das vergessen?«

  Meine Panik dehnte sich aus bis zum schwarzen Nachthimmel und ließ mich erstarren. Troy nutzte es aus. Er traf mich mit etwas am Kopf und ich spürte Nässe an meiner Schläfe. Benommen wollte ich danach greifen, aber Troy hielt mich fest und schlug wieder zu. Diesmal schoss der Schmerz durch meinen Schädel bis in den Rücken. Ich wollte ausweichen, mich wehren, um Lucien zu helfen, aber Troy hatte mich unter sich festgepinnt wie ein Sammler ein seltenes Insekt. Über mir sah ich den Himmel. Ein paar Sterne blitzten zwischen den Wolken hindurch.

  »Es gibt schlechtere Orte, um zu sterben, oder?« Troy grinste genüsslich.

  Dann legte er die Hände um meinen Hals und drückte zu.

  36

  Als ich wieder aufwachte, fühlte ich mich wie von einer Trans­Unit überfahren. Benommen griff ich mir an den Kopf. Er tat weh und das Blut an meiner Stirn begann schon zu trocknen. Wie lange war ich bewusstlos gewesen? Was war mit Lucien? Wo steckte Troy?

  Ich richtete mich auf, viel zu schnell. Alles drehte sich, mir wurde übel, aber ich zog mich trotzdem auf die Knie. Geräusche schwappten an mein Ohr. Ein dumpfes Schlagen, ein Ächzen, ein Aufprall. Ich sah mich um. Fünfzig Meter von mir entfernt kämpften zwei Menschen. Einer von ihnen hatte Locken, die im Schein der Laterne goldbraun leuchteten.

  Lucien! Er war am Leben. Ich wäre beinahe vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen. Bis ich sah, dass er sich nicht so geschmeidig bewegte wie sonst. Er schonte seine rechte Seite, während Troy versuchte, ihn genau dort zu treffen. Hatte der Schuss Lucien schwer verletzt? Hatte er in diesem Zustand überhaupt eine Chance?

  Ich hievte mich auf die Füße und dachte einen irrwitzigen Moment lang darüber nach, Hilfe zu holen. Kurz glaubte ich, Knox oder einer der anderen würde gegen Troy kämpfen und uns helfen. Dann lachte etwas in meinem Kopf böse auf. Luciens Tarnung war nach wie vor aktiv, aber Troy konnte jeden sofort darüber aufklären, wer er war. Niemand würde uns helfen.

  Troy hatte mich offensichtlich noch gewürgt, als ich schon bewusstlos gewesen war, denn ich konnte nur schwer atmen, als ich mich im Schatten der Steilküste zu den Bungalows hinüberschleppte. Mit den Augen suchte ich die Umgebung nach etwas ab, mit dem ich mich gegen Troy wehren konnte, einen Stock oder ein Stück Treibholz. Aber der Strand war sauber wie selten. Ob ich in den Bungalows etwas finden würde? Vielleicht war dort Werkzeug oder –

  Ein Aufschrei ließ mich herumfahren. Ich hatte die beiden nur kurz aus den Augen gelassen. Als ich mich umdrehte, sah ich Troy am Boden, Lucien über ihm. Meine Schritte wurden schneller, endlich war es vorbei. Aber plötzlich zog Troy den Arm hoch und traf Lucien an der Seite. Der schrie vor Schmerzen auf und sackte in die Knie.

  In dem Moment fiel mein Blick auf etwas, das vor mir lag, halb in den Sand gedrückt: Troys Waffe. Ich lief hin, griff danach, kontrollierte schnell das Magazin. Es war eine mechanische Waffe wie jene, die er mir gegeben hatte, um den König zu töten. Aber diesmal war sie sicher nicht manipuliert. Ich hob sie hoch und richtete sie auf Troy, während ich mich ihm ­näherte.

  »Hey!«, rief ich ihm zu. »Weg von Lucien!«

  In dem Moment duckte sich Troy zur Seite und sprang auf die Füße. Blitzschnell packte er Lucien von hinten und nahm seinen Kopf in den Schraubstock seiner Hände, eine am Kinn, eine an der Stirn. Ich erstarrte in der Bewegung, als ich erkannte, was er vorhatte. Die Waffe wurde schwer in meiner Hand.

  »Wenn du auch nur zuckst, breche ich ihm das Genick«, zischte Troy. Blut lief ihm über die Nase in seinen Mund. »Waffe weg, Scale. Ich werde kein zweites Mal bitten.«

  »Mach es nicht, Stunt-Girl«, brachte Lucien heraus. Sein Gesicht war unverletzt, aber weiß wie ein Bogen Papier. Das graue Sweatshirt war auf der rechten Seite dunkelrot. Mein Körper schmerzte, als wäre es mein Blut. »Er bringt mich sowieso um. Hau ab, bring dich in Sicherheit.«

  »Niemals.« Es war kaum mehr als ein Flüstern.

  Troy hockte hinter Lucien, sein Körper
war von seinem verdeckt. »Scale, letzte Chance.« Er packte fester zu. Es war eine simple Bewegung, jemandem das Genick zu brechen, eine Sache von Sekundenbruchteilen. Ich war nie im Leben schneller als er. Nicht, wenn ich nur sein halbes Gesicht als Zielscheibe hatte.

  Ich atmete aus, dann ließ ich die Waffe sinken.

  »Geht doch.« Troy lächelte zufrieden.

  In dem Moment riss ich die Hand hoch und drückte ab.

  Der Schuss knallte laut und vervielfältigte sich, als wäre ich in einem Raum mit meterhohen Decken. Aber es war anders, als die Leute sagten: Nichts passierte in Zeitlupe. Es passierte alles rasend schnell. Nur einen Wimpernschlag lang hatte ich Angst, nicht getroffen zu haben. Dann kippte Troy bereits nach hinten, seine Hände rutschten von Luciens Kopf und er fiel in den Sand.

  Lucien kämpfte sich auf die Füße und kam zu mir. Er sagte etwas, aber ich reagierte nicht. Ich konnte nur auf die leblose Gestalt von Troy starren, ein Rauschen in meinen Ohren, fassungslos und angewidert von mir selbst.

  Ich hatte es getan. Ich hatte einen Menschen getötet.

  So oft hatte ich mich gefragt, wie ich mich fühlen würde, wenn Leo­pold durch meine Hand starb. So oft hatte ich darüber nachgedacht, ob ich bereit dafür sei, jemandem das Leben zu nehmen. Großspurig hatte ich behauptet, das sei kein Problem für mich.

  Jetzt wusste ich: Das war eine Lüge gewesen.

  Mein Körper begann zu zittern, als herrschten Minusgrade. Meine Zähne schlugen aufeinander, meine Knie hielten mich nicht mehr aufrecht. Ich sank in den Sand, der von Troys Blut langsam dunkel gefärbt wurde. Kälte durchdrang mich, als würde ich selbst sterben.

  »Ophelia?« Lucien fasste mich an den Schultern. »Ophelia, bitte sieh mich an!« Sein Ton war flehend, aber ich konnte den Blick nicht von Troy abwenden. Immer noch umklammerte ich die Waffe. Lucien musste sie mühsam aus meinen steifen Fingern lösen.

  »Ich habe ihn umgebracht«, flüsterte ich.

 

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