by Kira Mohn
Dad schiebt unsere Teller und die Pfanne beiseite und legt es auf den Tisch.
Es ist ein Fotoalbum.
Meine Haut fühlt sich plötzlich an wie Eis. Dort drin sind Bilder. Bilder von Mum. Von mir als Kind, von uns als Familie. Ich starre Dad an, der langsam ausatmet und dabei ein Stück weit in sich zusammenzufallen scheint.
«Es tut mir …» Seine Stimme bricht, und er räuspert sich. «Es tut mir leid. Ich hätte dir das schon viel früher geben sollen.»
Und warum hast du das nicht getan?
Dad streicht sich mehrmals über den Bart, eine fahrige Geste, aus der ich Scham herauszulesen meine. «Ich dachte, die Bilder würden dich vielleicht zurückwerfen … als du angefangen hast, dich hier wohl zu fühlen, wollte ich deine Trauer dadurch nicht neu auslösen», beantwortet er meine unausgesprochene Frage. «Und später …»
«Vielleicht hätte es mir geholfen», sage ich leise. «Du hättest es mir überlassen sollen, ob ich mir die Fotos anschauen möchte oder nicht.»
Darauf erwidert Dad nichts, und ganz plötzlich, nur eine Sekunde lang, möchte ich ihn anschreien, ihn schütteln, mit den Fäusten gegen seine Brust schlagen. Der Impuls verfliegt so schnell, wie er in mir aufgekommen ist. Mit langsamen Bewegungen ziehe ich das Album zu mir heran.
«Ich will dabei allein sein», sage ich, und Dad unternimmt keinen Versuch, mich aufzuhalten, als ich mich erhebe und an ihm vorbeigehe, das Album an die Brust gepresst.
Er hat wirklich alles getan, um mich meine Vergangenheit vergessen zu lassen. Dieser Gedanke hämmert in meinem Kopf. Wir haben Edmonton verlassen, Mums Kleider hat er entsorgt, Caroline nie erwähnt, und jetzt dieses Album …
Nachdem sich die Zimmertür hinter mir geschlossen hat, lege ich das Buch so behutsam auf mein Bett, als sei es aus Glas. Da drin sind lauter Fenster, die mir einen Blick auf Dinge gewähren werden, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Im selben Moment, in dem ich nach meinem Smartphone greife, schießen mir die Tränen in die Augen. Ich will nicht so wütend auf Dad sein, so enttäuscht, schon gar nicht am Tag vor meiner Abreise, aber verdammt noch mal …
Jackson und ich haben in den letzten Tagen über Edmonton gesprochen, über die Uni und darüber, was er mir alles zeigen will, und würde jetzt nicht dieses Album auf meinem Bett liegen, würde ich ihm heute nur von Samuel erzählen.
Als er sich meldet, bringe ich keinen Ton hervor.
«Haven?» In Jacksons Stimme schwingt Überraschung mit, von mir keine Reaktion auf seinen Gruß erhalten zu haben.
«Jackson, ich …» Angestrengt kneife ich die Augen zusammen und beiße mir so fest auf die Oberlippe, dass der scharfe Schmerz mich zur Besinnung bringt.
«Ist alles okay?»
«Ich habe einen Cousin. Er heißt Samuel, und er ist acht.»
«Aha.» Eine kurze Pause. «Was noch?»
«Ich …» Ich wünschte, ich wäre gerade nicht allein. Ich wünschte, du wärst hier. Der überraschende Gedanke, dass ich bisher jedes Mal, wenn es mir schlecht ging, in den Wald geflüchtet bin, statt auf die Idee zu kommen, mit jemandem zu sprechen, streift mich in der Sekunde, in der Jackson die Stille füllt, die zwischen uns entstanden ist.
«Haven, was ist los?»
«Mein Vater hat mir ein Fotoalbum gegeben», bringe ich heraus, und es hört sich nicht halb so zerstört an, wie ich mich dabei fühle.
«Du hast das Album nie zuvor gesehen, schätze ich», sagt Jackson nach einem kurzen Moment.
«Nein.»
Er atmet tief durch, und ich habe fast Angst vor dem, was er als Nächstes sagen wird. Ich will das verzweifelte Gefühl in mir loswerden, doch wenn Jackson jetzt irgendetwas Abwertendes über meinen Vater sagt, weiß ich nicht, wie ich darauf reagieren soll. Er darf das nicht tun.
«Hast du es dir schon angeschaut?»
«Nein», wiederhole ich. «Nein, ich … ich weiß nicht, ob ich es schaffe.»
«Wollen wir es uns zusammen ansehen?»
Zusammen? Auf … auf die Idee bin ich nicht einmal gekommen. Es war völlig klar, dass ich das allein durchziehen muss, so wie ich bisher eben immer alles allein durchgezogen habe. Vielleicht hätte ich es mit in den Wald genommen und die ersten Seiten aufgeschlagen, während irgendwo das beruhigende Geschnaufe von Gisbert zu hören gewesen wäre.
Aber das Album mit Jackson anzusehen …
«Ja.» Mit dem Ärmel reibe ich mir die Tränen aus den Augen, denen ich verboten habe, einfach so aus mir herauszufließen. «Das würde ich gern.»
«Okay.» Jackson klingt, als freue er sich über meine Antwort, und wenn ich damit richtigliege, dann ist das ein schönes Gefühl. Mit ihm zusammen kann ich mir diese Bilder vielleicht ansehen, ohne dabei weinen zu müssen.
Warum genau ist das überhaupt wichtig? Nicht weinen zu müssen?
«Ich hätte meinen Vater eben am liebsten angeschrien, aber ich konnte nicht», sage ich, und das ist mit weitem Abstand das Persönlichste, was ich je zu Jackson gesagt habe. Was ich überhaupt jemals zu jemandem gesagt habe. Überrascht lausche ich meinem eigenen Satz hinterher.
Als Jackson antwortet, redet er langsam, so als müsse er jedes einzelne Wort sorgfältig abwägen. «Vielleicht», beginnt er, «ist es einfach nicht leicht, wütend auf den einzigen Menschen zu sein, der für einen da ist.»
Jacksons Worte sinken in mich hinein, durchdringen mit Leichtigkeit alles, woran ich über die Jahre hinweg geglaubt habe, und verschwinden in dem grauen Nebel meiner Gedanken, wo vorher Gewissheiten waren. Wo das Gefühl war, dass mein Vater immer nur das Beste für mich wollte, dass alles, was er tat, darauf ausgerichtet war, mir ein guter Vater zu sein.
Ich weiß nicht mehr, ob er das war, und diese Sicherheit nicht mehr in mir zu spüren lähmt mich. Jackson hat recht. Mir fiel es nie leicht, auf Dad wütend zu sein. Genau genommen war es mir immer völlig unmöglich. Er war der einzige Mensch, den ich noch hatte, er war derjenige, der übriggeblieben war.
JACKSON
I ch kann nur erahnen, wie es Haven gerade geht. Morgen Vormittag wird sie in ihren Wagen steigen und über zweihundert Meilen nach Edmonton zurücklegen, um bei einer Frau zu wohnen, die sie seit zwölf Jahren nicht gesehen hat. Sie wird ihr bisheriges Zuhause zurücklassen, alles, was ihr vertraut ist, und ihren Vater, von dem sie sich … ja, was eigentlich? Betrogen fühlt? Verraten?
Vorhin am Telefon hat Haven nichts mehr dazu gesagt, doch ihrer Stimme war deutlich anzuhören, dass die ganze Situation ihr zu schaffen macht. Dieses Album … wie kam ihr Vater nur auf die Idee, es sei ausgerechnet jetzt ein guter Zeitpunkt, Haven einen Teil ihrer Vergangenheit zurückzugeben?
Als er beim Horseshoe Lake an unserem Zeltplatz aufgetaucht war und später Cayden versorgt hat, strahlte er die ganze Zeit eine Sicherheit aus, die auch auf mich überging. Ein Mann, der genau weiß, was er tut; zielgerichtet, unaufgeregt. Mir fällt die Vorstellung schwer, dass er mit dieser inneren Ruhe auch beschlossen hat, die Vergangenheit seiner Tochter vor ihr zu verbergen.
«Jax?» Cayden platzt in mein Zimmer. «Lust auf Netflix?»
«Nein. Klopf gefälligst an.»
«Wieso nicht?»
Er lässt sich mir gegenüber in einen der schwarzen Stahlrohrsessel fallen, zieht beiläufig die Zeitschrift zu sich, die auf dem Tisch daneben liegt, schiebt sie wieder zurück und starrt mich auffordernd an.
Ich sitze auf meinem Bett, die Beine lang ausgestreckt, den Rücken ans blassgraue Kopfteil gelehnt, und frage mich zum hundertsten Mal, ob Caydens dreiste Ignoranz damit zusammenhängt, dass quasi alles hier im Raum ihm gehört, angefangen von den beiden Sesseln, über den schwarzen, riesigen Kleiderschrank bis hin zu dem Doppelbett. Als ich hier einzog, war alles bereits vorhanden, und es hat mich nicht wirklich gestört. Bei der Vorstellung, irgendein Möbelstück aus meinem ehemaligen Zimmer im Haus meiner Eltern stünde in Caydens Luxusapartment, muss ich grinsen. Meine Eltern gehören zwar zu Saskatoons Oberschicht, doch im Vergleich zu Caydens Familie – man könnte es so zusammenfassen: Meine Eltern bezahlen für mich die Miete für das Zimmer in dem Haus, das Caydens Eltern ihm zu Beginn seines Studiums geschenkt haben.
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bsp; «Keine Lust.» Ich lasse das Smartphone neben mich auf die Matratze fallen und verschränke die Hände im Nacken. Mein Blick schweift von Cayden zu dem wandbreiten und bodentiefen Fenster, das einen gigantischen Ausblick bieten würde, wenn man mehr als die terrakottafarbene Außenwand des Nachbarhauses sehen könnte.
«Hast du gerade mit dem Waldmädchen telefoniert?»
Cayden und sein verdammter sechster Sinn, gepaart mit mangelndem Feingefühl.
«Du wolltest damit aufhören, sie Waldmädchen zu nennen.» Mir ist nicht ganz klar, wieso es Cayden so zu gefallen scheint, mir wegen Haven auf den Sack zu gehen, aber das tut er. Mir auf den Sack gehen.
Cayden grinst mich an. «Du hast gesagt, ich soll mich ihr gegenüber zurückhalten, aber sie ist doch gar nicht da, oder? Wann kommt sie noch mal? Morgen? Bringst du sie hierher?»
Im Leben nicht. Nicht, solange Cayden es unterhaltsam zu finden scheint, sich auf eine Art über Haven auszulassen, die mich mittlerweile nur noch ankotzt.
«Cayden, verpiss dich.» Ich schwinge die Beine über die Bettkante und stehe auf.
Cayden rührt sich keinen Zentimeter vom Fleck, und auch an seinem Grinsen ändert sich nichts. «Hey, es interessiert mich nur. Darf es mich nicht interessieren, wenn mein bester Freund sich ab morgen wieder offiziell in festen Händen befindet? Ihr seid doch immer noch zusammen, oder? Weiß Stella das eigentlich schon?»
Als ob er durch Kaylee nicht alles über Stella wüsste. «Von mir jedenfalls nicht.»
Die ganze Woche über hat er sich zurückgehalten, aber während einer unserer Vorlesungen heute hat er immer wieder Andeutungen gemacht, bis er auf die neugierige Frage von Chase hin herausposaunen konnte, morgen käme ja mein ‹Waldmädchen› angereist.
«Cayden.» Ich bleibe vor ihm stehen. «Lass es, okay?»
«Ich freue mich nur mit dir.»
«Einen Scheiß tust du», brumme ich und gehe an ihm vorbei zum Schreibtisch.
«Jax, sorry, aber seit Jasper bist du echt unentspannt. Hast du den alten Jax im Wald gelassen?» Jetzt sieht Cayden zumindest nicht mehr ausschließlich belustigt aus. «Hey, ich hab dir versprochen, dem Waldmädchen … Haven nicht blöd zu kommen, und daran halte ich mich. Also werd mal wieder ein bisschen lockerer.»
Mit verschränkten Armen lehne ich mich gegen die Schreibtischplatte. Mag sein, dass Cayden sogar recht hat und ich ‹unentspannt› bin – aber er kapiert einfach nicht, dass seine dämlichen Sprüche Konsequenzen nach sich ziehen.
«Du bist mittlerweile nicht mehr der Einzige, der von Haven als dem Waldmädchen spricht – was meinst du, wie das bei ihr ankommen wird?»
«Keine Ahnung. Wenn sie klug ist, lacht sie darüber. Ist doch nichts dabei – sie kommt schließlich aus dem Wald. Wahrscheinlich stört sie das nicht mal. Du machst dir echt zu viele Gedanken.»
«Cayden, das hier wird alles neu für sie sein. Die Stadt, die Menschen, die Geschwindigkeit, mit der hier Dinge passieren, die Lautstärke, alles.»
«Ach komm schon, Jax. Hast du dir mal überlegt, dass du derjenige bist, der deine neue Freundin klein macht? Du führst dich als ihr Beschützer auf – weißt du denn, ob sie das überhaupt will? Das braucht sie vielleicht gar nicht.»
Ich – okay. Dem kann ich nichts entgegensetzen. So habe ich es tatsächlich noch nicht gesehen.
Cayden deutet mein Schweigen richtig. «Also. Komm mal wieder runter. Wir werden sie so behandeln wie jeden von uns – es wird sein, als habe sie schon immer dazugehört.» Sein Grinsen hat zu ihm zurückgefunden. «Netflix?»
«Ich komme gleich», erwidere ich. «Such schon mal was aus.»
Cayden erhebt sich in einer fließenden Bewegung aus dem Sessel und verschwindet ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus.
Unzufrieden mustere ich die Wand vor dem Fenster. Mit jemandem wie Cayden zusammenzuwohnen ist anstrengend. Das wurde mir schnell klar, nachdem ich hier eingezogen bin. So etwas wie Nein kennt er gar nicht, sein Leben bestand immer nur aus Forderungen. Die stellt er auch an seine Freunde – und ich, der ich die Ehre habe, sein bester Freund zu sein, muss genauso mithalten wie alle anderen, vielleicht sogar noch mehr. Er hat ein nahezu unheimliches Talent dafür, Leute dazu zu bringen, zu tun, was er will. Und zu wissen, wann er doch mal nachgeben muss. In den letzten Jahren hat es gelegentlich Momente gegeben, in denen ich kurz davorstand, aus dem Apartment auszuziehen, und jedes Mal hat Cayden eingelenkt, als wisse er genau, wie weit er gehen darf. Meine Beziehung zu Haven wird ein weiterer Härtetest, das ist mir jetzt schon klar.
Ich stoße mich von der Schreibtischkante ab und gehe zur Tür.
Haven ist wichtig für mich. Vielleicht wichtiger als alles andere. Sollte das Cayden bisher nicht bewusst sein, werde ich ihm das deutlich machen müssen.
16
HAVEN
D er Abschied zwischen Dad und mir fällt so aus wie erwartet. Er begleitet mich zum Wagen und bleibt dort stehen, während ich eine große Tasche und meinen Rucksack auf die Rückbank werfe. Viel habe ich nicht dabei. Klamotten. Einen Teil meiner bisherigen Studienunterlagen. Das Fotoalbum.
«Mr. Strong braucht jeden Tag Wasser», erinnere ich Dad.
«Mr. Strong.»
«Der Nussbaum.»
«Ich weiß, wer Mr. Strong ist.»
«Und sollte Snoops vorbeikommen … jag ihn nicht weg. Ich will nicht, das er mich vergisst.»
«Er wird dich nicht vergessen. Selbst wenn du länger als sechs Monate fortbleibst.»
«Werde ich nicht.»
Dad lächelt und nimmt mich in den Arm. Ein wenig unbeholfen tätschelt er meinen Rücken, während ich plötzlich Schwierigkeiten habe, mich nicht an ihn zu klammern. Mit zugeschnürtem Hals trete ich einen Schritt zurück.
«Ruf mich an, wann auch immer dir danach ist», sagt Dad.
Ich nicke nur, schwinge mich auf den Fahrersitz, und Dad wirft die Autotür zu. Sie schließt sich mit einem dumpfen Geräusch, das irgendwie meine Verbindung zu allem zu durchtrennen scheint. Zum Wald und auch zu Dad. Hastig kurbele ich das Fenster runter und fühle mich dabei lächerlich. Nicht zu fassen. Ich bin noch nicht mal losgefahren und mir jetzt schon nicht mehr sicher, ob ich es überhaupt schaffe, auch nur bis zum Connaught Drive zu kommen.
«Fahr vorsichtig.»
«Klar.»
Er beugt sich nicht vor, um mich noch einmal durch das geöffnete Fenster zu umarmen, und ich starte den Motor mit einem blöden Gefühl im Magen. Mit Zärtlichkeiten war Dad schon immer sparsam, aber ich wünschte, er hätte mir noch einmal die Hand auf die Schulter gelegt oder so. Vielleicht hätte ich meine darüberlegen und ihm sagen können, dass ich ihn vermissen werde. Obwohl er sich so viel Mühe gegeben hat, einen Teil meiner Vergangenheit vor mir zu verbergen.
Ich tippe das Gaspedal an und sehe dabei in den Rückspiegel. Dad steht vor dem Haus, eine Hand in der Jackentasche, mit der anderen winkt er. Ganz kurz hebe ich meine Hand ebenfalls, vermutlich sieht er das schon gar nicht mehr, dann umfasse ich das Lenkrad fester.
Ich bin auf dem Weg.
Das Navigationssystem teilt mir mit, dass ich die Adresse, die Tante Caroline mir gegeben hat, in drei Stunden und achtundvierzig Minuten erreicht haben werde. Knappe vier Stunden. Nur vier Stunden trennen mein Zuhause von dem Haus, in dem die Schwester meiner Mutter lebt, und ich bin trotzdem noch nie dort gewesen. In diesem Moment fühlt sich das geradezu absurd an.
Nachdem ich den Nationalpark hinter mir gelassen habe, beginnen breite Rasenflächen die hohen Bäume links und rechts auf Abstand zu halten, und irgendwann erreiche ich Edson, die kleine Stadt, in der Grandma lebte. Seit unserem Umzug habe ich mich nie weiter von zu Hause entfernt als bis hierher.
Beinahe unmittelbar hinter Edson beginnt sich der Verkehr auf dem Yellowhead Highway zu verdichten, doch obwohl ich nicht sonderlich schnell vorankomme, fühle ich mich nicht unwohl beim Anblick der vielen anderen Wagen um mich herum. Dad hat mir das Autofahren beigebracht, da war ich elf, und dieser Wagen hier gehört mir, seit ich sechzehn bin. Mein Vater hat sich damals ein neues Auto gekauft und mir erklärt, es sei kein Drama, wenn ich in den alten Wagen eine Delle reinfahren würde. B
isher habe ich es nicht einmal zu einem Kratzer gebracht – hinter dem lederumwickelten Lenkrad fühle ich mich vollkommen sicher.
Was mich allerdings beeindruckt, ist, wie flach die Umgebung im Laufe der Zeit wird. Das Land ist platt wie festgetretene Erde, es gibt keine Berge, keine Hügel, nicht einmal schwache Anhöhen, und die hohen weißen Wolkentürme driften völlig unbehelligt über mich hinweg. Gäbe es die Bäume nicht, wäre der Horizont nur eine gerade Linie, die das grüne Land vom blauen Himmel trennt, und irgendwann verschwinden die letzten Bäume tatsächlich. Seltsam unwirklich.
Als ich mich Edmonton nähere, haben sich die weißen Wolkenberge zerfasert, sind zu einem undefinierbaren hellen Grau geworden, das fast das komplette Blau des Himmels verwischt. Brücken überspannen die Straße, und ich beginne, häufiger auf mein Navigationsgerät zu schauen, das mich bisher stur geradeaus geführt hat.
Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich etwas früher als geplant ankommen werde. Meine Tante meinte, sie werde auf jeden Fall zu Hause sein, selbst wenn es später wird.
Während ich den Blinker setze, um mich in eine anderen Spur einzuordnen, versuche ich einmal mehr, ein Bild von Tante Caroline in meinem Gedächtnis heraufzubeschwören – oder Lucy? Wie sahen sie aus? Haben die beiden vielleicht rötliche Haare, so wie Mum? Werden wir uns ähnlich sein?
Aber da ist nichts, keine einzige Erinnerung. Das streifige Grau am Himmel scheint sich auch in meinem Hirn ausgebreitet zu haben. Vielleicht hätte ich gestern Abend doch noch einen Blick in das Fotoalbum werfen sollen, doch ich habe es ungeöffnet in den Koffer gepackt. Hohe Straßenlaternen sind statt der Bäume aufgetaucht, und noch immer ist alles flach, flach, flach. Es gibt nichts, worin mein Blick sich einhaken könnte, nur der graue Himmel, die Straße und grüne Wiesen zu beiden Seiten, die mich den kompletten Weg über begleitet haben.