by Kira Mohn
Sie stützt sich neben meinen Schultern ab, ihre Haare fallen über meine Arme, und mit noch immer geschlossenen Augen lasse ich meine Hände über ihre Oberschenkel hinauf zu ihren Hüften wandern, gleite mit den Fingerspitzen über ihren nackten Rücken.
Haven senkt den Kopf und küsst mich. Ihr Mund öffnet sich in dem Moment, in dem ich die Finger spreize, um mit den Daumen von ihrer Taille nach oben zu fahren, so weit, bis ich die Wölbung ihrer Brust spüre und innehalte.
Ich muss ihr Gesicht sehen, um entscheiden zu können, wie weit ich gehen kann. Wie weit ich gehen darf.
Ihre Lider sind gesenkt, helle Wimpern auf zarter Haut.
Langsam gleiten meine Hände weiter, und Haven atmet genauso langsam ein. Nicht zu behutsam, ich will sie nicht kitzeln, aber auch nicht zu grob … Mein Gedankenstrom verebbt, als Haven aufseufzt.
«Jackson?» Sie flüstert das Wort gegen meine Lippen. «Gibt es irgendetwas, das du dir wünschst? Etwas, das ich …»
«Gar nichts», murmele ich. «Alles, was du tust oder nicht tust, ist richtig.»
«Okay.»
Sie tastet sich unter meinem Shirt vor, sanft wie ein Windhauch, und ich spüre dem feinen Brennen nach, das sie dabei hinterlässt. Jede Faser in mir will mehr, und jede neue Berührung, jeder neue Kuss lindert diese Sehnsucht und entfacht sie zugleich stärker.
Haven rutscht ein Stückchen nach unten, und als sie meine Brust küsst, während ihre Haare meine Haut streicheln, atme ich scharf ein, so heftig, dass Haven aufsieht.
«Alles okay», komme ich ihrer Frage zuvor, umfasse ihre Schultern und schiebe sie von mir runter, drücke sie auf das Kissen, denn wenn sie weiterhin genau dort sitzt, wo sie eben noch saß, weiß ich auch nicht. Ich bin ein Held, aber auch Helden kennen ihre Grenzen.
Ihr rotes Haar breitet sich auf dem hellen Stoff aus, sie schließt die Augen, als ich beide Hände über ihre Brüste lege, etwas, das ich mir schon oft vorgestellt habe und das doch ganz anders ist, als ich es mir ausgemalt hatte. Es ist elektrisierend, und zugleich möchte ich sogar noch vorsichtiger werden; ich möchte mit ihr schlafen und weiß doch, während ich behutsam über ihre Seiten streiche und dabei ihren Hals küsse, dass der Zeitpunkt noch nicht gekommen ist. Zu früh, immer noch.
Auch wenn Haven mir jetzt das Shirt über den Kopf zieht, und auch wenn sie mit Nachdruck ihre Hände gegen meinen Rücken presst. Der Moment, in dem ihre Brustwarzen meinen Oberkörper berühren, und die nachfolgende Wärme, als wir so nah zusammenliegen, ist fast schon schmerzhaft intensiv. Sachte fährt sie über meine angespannten Oberarme, und als sie die Augen plötzlich aufschlägt und mich ansieht, vollführt mein Herz einen Sprung und gerät vollends ins Stolpern, weil sie jetzt lächelt.
Ich rolle mich auf den Rücken und ziehe sie mit mir. Haven schmiegt ihren Kopf an meine Brust, ich umfasse sie mit beiden Armen, und so liegen wir da, bis es vor dem Fenster finster geworden ist, ohne ein Wort zu sagen, sogar ohne uns noch einmal zu küssen. Nur der Rhythmus unseres Atems passt sich einander an. Vielleicht auch unser beider Herzschlag. Wer weiß das schon.
25
HAVEN
«H i.»
Überrascht sehe ich auf. Stella. Es ist ausgerechnet Stella, die sich in diesem Moment ans Kopfende des langen Tisches setzt, an dem ich mich mit einem Stapel wissenschaftlicher Publikationen zum Lernen niedergelassen habe.
«Stör ich dich gerade? Ich wollte nur ein paar Bücher zurückgeben, und als ich dich gesehen habe, dachte ich mir, ich sage kurz hallo.»
Freundlich lächelt sie mich an, und mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Stella. Das ist das erste Mal, dass einer von Jacksons Freunden auf mich zugeht, Dylan mal ausgenommen, und dann ist es ausgerechnet Stella. Okay, ich will die richtigen Worte finden, ich will nicht blöd rüberkommen – sie gibt mir eine Chance, und wenn sie mich mag, würde alles viel leichter werden.
«Hallo.» Hastig schiebe ich das aufgeschlagene Heft zur Seite. «Du störst gar nicht, ich … sitze hier schon eine Weile.»
«Sieht nach jeder Menge Arbeit aus.»
«Nein … oder doch, aber im Moment geht die meiste Zeit dafür drauf, die ganzen Informationen zusammenzusuchen. Ich will …» Stopp. Stella schien bei unserem ersten und bisher einzigen Zusammentreffen nicht besonders interessiert an meinem Studium zu sein. «Ich verschaffe mir nur einen Überblick.»
«Einfluss biotischer und abiotischer Faktoren auf Artengemeinschaften und Ökosysteme» , liest Stella die Überschrift des Artikels, den ich gerade beiseitegeschoben habe. «Lass mich raten, unterm Strich kommt dabei heraus, dass der Mensch alles durcheinanderbringt, richtig?»
«Auf jeden Fall ist sein Anteil ziemlich hoch», erwidere ich.
«Wann ist das jemals nicht so?» Stella lacht und scheint nicht wirklich eine Antwort auf ihre Frage zu erwarten. Stattdessen überrascht sie mich mit ihren nächsten Worten. «Bist du hier noch länger beschäftigt? Ich wollte gerade etwas essen gehen.»
Eigentlich bin ich noch nicht einmal ansatzweise fertig, und wie üblich habe ich mir ein paar Sandwiches mitgebracht – aber auf keinen Fall werde ich Stellas Angebot ausschlagen. Ich klappe das Magazin zu. «Das passt gut, ich wollte sowieso eine Pause machen.»
Ein paar Minuten später laufe ich neben Stella durch die langen Gänge der Bibliothek, beantworte ihre Fragen dazu, wie ich mich in Edmonton eingelebt habe, und grübele zeitgleich darüber nach, was ich selbst zu unserer Unterhaltung beitragen könnte. Doch Stella führt uns so lässig durch das Gespräch, dass nicht eine einzige längere Pause entsteht, und als wir die Mensa erreichen, fühlt es sich fast schon normal an, mir ebenfalls eines der hellgrünen Tabletts zu nehmen und mich damit hinter Stella in die Schlange derer einzureihen, die auf ihr Mittagessen warten. Stella greift nach einem der Salate im Kühlregal und füllt sich Sekunden später Mineralwasser in ein Glas. «Möchtest du auch?»
Ich nicke, ohne zu erwähnen, dass sich eine Flasche Wasser in meinem Rucksack befindet.
«Stella – hi!» Ein Typ bleibt neben uns stehen. «Wir sitzen gleich da drüben.»
«Oh, hi! Easton – das ist Haven. Haven, Easton.»
«Hallo», sage ich schnell.
«Hi.» Eastons Blick gleitet einmal an mir herunter und dann wieder hinauf. «Nett, dich endlich kennenzulernen, Haven. Hab schon von dir gehört.» Er wendet sich wieder Stella zu. «Also wenn ihr mögt – da vorn, bei der Säule.» Er grinst Stella an, nickt mir noch einmal zu und geht in die Richtung, in die er gerade mit dem Kinn gedeutet hat.
Wieso hat er schon von mir gehört? Was denn? Ich habe diesen Easton noch nie gesehen – wieso scheint er mich also trotzdem zu kennen?
«Hallo? Was möchtest du?»
«Bitte?» Mir ist entgangen, dass wir inzwischen die Essensausgabe erreicht haben und die Mensa-Mitarbeiterin auf der anderen Seite der Glastheke mich anstarrt. Vor Stella steht bereits eine Schale mit einer klaren Suppe, in der Frühlingszwiebeln, Karotten und anderes Gemüse herumschwimmen.
«Ähm … gibt es hier irgendetwas ohne Fleisch?», frage ich die Frau, die aussieht, als habe sie mich bereits mindestens zweimal gefragt, was ich denn wolle, ohne eine Antwort zu erhalten. Vermutlich war es sogar so.
«Ohne Fleisch?»
«Ja … irgendetwas Vegetarisches?»
«Nimm einfach auch die asiatische Suppe», sagt Stella. «Die dürfte vegetarisch sein.»
«Okay», stimme ich zu und balanciere Sekunden später ein ganz ähnliches Tablett wie Stella vor mir her.
«Sollen wir uns zu Easton setzen?», fragt Stella, nur um direkt weiterzureden: «Ach, ein andermal, oder?»
Sie wartet meine Antwort nicht ab, sondern steuert einen freien Tisch an, und ich folge ihr erleichtert. Easton sitzt an einem Tisch in einer unübersichtlichen Gruppe, und um ehrlich zu sein ist mir unwohl bei dem Gedanken, mich irgendwo dazuzusetzen, wo vielleicht alle schon etwas über mich gehört haben. Ich muss Jackson darauf ansprechen.
«Und wie gefällt dir das Rutherford bisher?», fragt Stella, während wir uns auf zwei Stühlen einander gegenüber niederlassen. «Es ist ziemlich unübersichtlich, oder? In den ersten Wochen wa
r ich immer nur am Suchen, wo ich überhaupt hinmuss.»
«Ja, so geht es mir auch. Es ist wirklich ziemlich riesig.»
«Und du kennst noch gar nicht alles.» Stella faltet geschickt mit der Gabel ein Salatblatt und schiebt es sich in den Mund. «Aber mit den meisten Fakultäten kommt man natürlich kaum in Berührung. Oder wie ist es bei dir? Sind alle deine Vorlesungen hier auf dem Campus?»
«Nicht nur, ich habe auch zwei praktische Seminare. Da sind wir meistens in den Parks am Fluss unterwegs», erkläre ich.
«Klingt ja entspannt», sagt Stella nickend. «Was macht ihr da?»
«Es geht zum Beispiel um makroökologische Muster und wie Arten sich verbreiten … wir sammeln Daten und werten die dann aus.»
Stella nickt immer noch, und es gelingt mir nicht mal ansatzweise einzuschätzen, ob ich mich gerade dem Punkt nähere, an dem Leute normalerweise die Flucht ergreifen, weil ich ihnen zu seltsam werde. Oder vielleicht auch nur zu langweilig.
Aber diesmal stehe ich nicht irgendwo in Jasper, sondern ich sitze in einer Mensa an einem Tisch, und ich trage auch keine unmodernen, hässlichen Kleider, sondern bin dank Rae kaum von Stella zu unterscheiden, letzteres hoffe ich jedenfalls. Zumindest entdecke ich keinen wirklichen Unterschied. Nur Stellas Haare sehen eindeutig nach Friseur aus und meine … nicht. Vielleicht sollte ich das als Nächstes in Angriff nehmen.
«Spannend», sagt Stella jetzt, und mir wird bewusst, dass sie vermutlich abgewartet hat, ob ich noch weiterspreche.
«Ja», erwidere ich schnell. «Ist es auch.»
Soll ich mehr dazu erzählen? Oder nicht? Wieso fühlt sich einfach alles immer so kompliziert an – es ist doch nur eine simple Unterhaltung. An jedem Tisch hier reden Leute miteinander, und ich wette, keiner stellt sich dabei so unbeholfen an wie ich.
«Du machst nur ein Gastsemester, oder? Zumindest hat Jax das erzählt. Dann hast du bestimmt einen ziemlich vollen Stundenplan, um es auszunutzen.»
Jackson. Ja, natürlich – Jackson hat über mich gesprochen. Es ist also gar nicht weiter ungewöhnlich, dass seine Freunde bereits von mir gehört haben.
«Haven?» Stella sieht mich fragend an.
Ich muss dringend damit aufhören, alles zu analysieren, während ich mich eigentlich auf das Gespräch konzentrieren sollte.
«Ja. Ja, genau, nur ein Gastsemester. Und ich habe mich wirklich für ziemlich viele Seminare und Vorlesungen angemeldet – es gab einfach so viel, was ich interessant fand.»
«Klar. An einer Uni wie Rutherford ist das Angebot ja auch ziemlich groß.»
Nur weil Stella den Löffel in ihre Suppe taucht, fällt mir auf, dass mein eigener Teller immer noch unberührt vor mir steht. Verlegen ziehe ich ihn näher zu mir heran.
«Hast du da überhaupt noch Zeit für andere Dinge? Vielleicht hast du ja mal Lust, abends wegzugehen.»
«Ich treffe mich abends eigentlich immer mit Jackson.»
«Immer? Wirklich jeden Abend?»
«Na ja … schon. Bisher.» Das letzte Wort schiebe ich wie eine Entschuldigung hinterher. Verdammt, ich weiß doch, dass Stella über die Trennung von Jackson noch nicht richtig hinweg ist – warum um alles in der Welt fällt mir das jetzt erst wieder ein? Peinlich berührt ringe ich nach Worten, um meinen Fehler weder auszubügeln. «Es tut mir leid, ich wollte nicht … ich hoffe, ich habe dich nicht verletzt.»
«Bitte?» Gerade noch sah Stellas Gesicht irgendwie verkniffen aus, jetzt wirkt sie ehrlich überrascht. «Mich verletzt? Wie denn?»
«Weil … ich …» Keine Ahnung, was in diesem Moment richtig ist und was falsch. Soll ich das Thema tatsächlich ansprechen? Was, wenn Stella wütend wird? Oder traurig?
«Oh, du meinst, weil Jax und ich mal zusammen waren? Ach Gott.» Stella beginnt zu lachen. «Mach dir darüber keine Gedanken, das ist völlig okay. Es war eine schöne Zeit, aber es war ja von Anfang an klar, dass man von Jax nichts Ernstes erwarten kann.»
Noch vor einer Sekunde war ich heilfroh darüber, dass Stella mir meine Worte offensichtlich nicht übelnimmt, jetzt allerdings blinzle ich sie verwirrt an. Wie hat sie das gemeint? Von Jax … von Jackson könne man nichts Ernstes erwarten? Keine Beziehung hat mir wirklich etwas bedeutet. Das hat er vor einigen Wochen selbst gesagt.
«Na ja, wenn du Lust hast, könnten wir ja auch mal was zusammen unternehmen», unterbricht Stella abermals meine Gedanken. «Kaylee hast du schon getroffen, und Diane würde sich auch freuen, dich kennenzulernen. Wir drei wohnen zusammen.»
«Okay», erwidere ich schwach, bemüht, nicht weiterhin Stellas Andeutung über Jackson hin und her zu drehen. «Das wäre nett.»
«Nächste Woche machen wir eine kleine Party, nichts Wildes, nur ein paar Leute. Wenn du Lust hast, komm einfach vorbei. Dann stelle ich dich allen vor, die du hier kennen musst.»
Ich nicke. Party. Klar, warum nicht. Ich werde Jackson fragen. Und apropos Jackson … was hat Stella mit ihrer Bemerkung gemeint? «Stella?»
Stella, die gerade den Löffel neben ihren leeren Teller gelegt und ihr Smartphone aus der Tasche gezogen hat, sieht auf.
«Ich … also …» Plötzlich erscheint es mir doch unangemessen, ausgerechnet sie danach zu fragen, ob Jackson sich nicht auf ernste Beziehungen einlässt. Und warum nicht. Ich meine – Jackson und ich sehen uns nachher, und bei ihm wäre die Frage wohl besser aufgehoben, schätze ich.
«Wäre es okay, wenn ich Jackson zu eurer Party mitbringe?», improvisiere ich.
«Natürlich!» Stella lacht auf. «Wir fragen uns sowieso schon alle, wieso man euch nie zusammen irgendwo sieht – normalerweise ist Jax bei jedem Event dabei, aber seit …», sie hält inne, doch ich weiß auch so, wie der Satz geendet hätte. Seit ich da bin, nicht mehr.
«Es wäre toll, wenn ihr beide kommt», sagt Stella. «Wahrscheinlich denkt er, für dich sei alles noch etwas viel.»
Ja, wahrscheinlich. Oder er findet, dass ich nicht besonders gut in sein bisheriges Leben passe.
«Ich muss jetzt leider los. Gibst du mir deine Nummer? Dann schreibe ich dir eine Nachricht, wann und wo es losgeht.» Mit schnellen Bewegungen tippt sie die Zahlenfolge ein, die ich ihr nenne. «Okay, danke. Vielleicht sieht man sich ja vorher auch noch mal – das war echt nett. Isst du das noch, oder soll ich dein Tablett mitnehmen?» Sie deutet auf meinen noch immer gefüllten Teller.
«Ich mach das gleich selbst, danke.»
«Dann noch guten Appetit. Bis bald.» Stella schlängelt sich zwischen den Tischen davon.
Ein paar Sekunden lang starre ich auf einen Pilz, der in der Brühe vor mir dümpelt, bevor ich versuchsweise davon probiere.
Kalt. Wässrig. Ich lasse den Löffel wieder sinken und denke an das Smartphone in meiner Tasche.
Nein. Heute Nachmittag treffen wir uns ohnehin, und bis dahin werde ich es wohl aushalten, auf ein paar Antworten von Jackson zu warten.
JACKSON
H aven verabschiedet sich von diesem Typen, der sie seit Wochen umkreist wie eine aufdringliche Stechmücke und den ich genauso verabscheue wie diese Viecher. Allerdings kann ich ja schlecht von ihr verlangen, einen der wenigen Menschen, zu denen sie bisher Kontakt aufgebaut hat, in den Wind zu schießen, nur weil ich davon überzeugt bin, dass dieser Kerl die ganze Zeit auf seine Gelegenheit wartet.
Wir sind dazu übergegangen, uns nachmittags im Foyer des Hauptgebäudes zu treffen, und seitdem ich mitbekommen habe, dass Jon – der zufälligerweise mehrere Kurse besucht, für die sich auch Haven eingeschrieben hat – nicht verschwindet, bevor ich aufgekreuzt bin, achte ich darauf, vor Haven da zu sein.
Er ist nicht der Einzige, dem Haven bereits aufgefallen ist. Easton meinte neulich, für ein Waldmädchen sei sie echt heiß, woraufhin Diane spöttisch anmerkte, wenn das so sei, werde sie sich ab sofort nicht mehr die Beine rasieren.
War ich zu diesem Zeitpunkt fast so weit gewesen, Haven einfach mal mit den anderen zusammenzubringen, hatte sich das danach wieder erledigt. Auf ein Treffen, bei dem Haven sich die ganze Zeit Sticheleien wie diese anhören muss, kann ich echt verzichten. Zumal ich mir jedes Mal, wenn ich etwas dazu sage, um die Ohren schlagen lassen muss, ich sei humorlos gewor
den.
Jon sieht Haven hinterher, als sie zu mir kommt und ich meine Arme um sie lege. Erst nachdem wir uns geküsst haben, verschwindet er endlich, und erst jetzt fällt mir auf, dass Haven anders wirkt als gewöhnlich. Ernster.
«Hi», sage ich. «Alles okay?»
Sie legt mir einen Arm um die Hüften und zieht mich zum Ausgang. «Ich weiß nicht. Können wir irgendwo hingehen, wo nicht so viele Menschen sind?»
«Klar.» Innerhalb Edmontons gibt es kaum einen Ort, an dem keine Menschen sind, und wenn Haven von vielen Menschen spricht, meint sie damit mehr Leute als nur sie und ich. «Wir könnten zum Terwillegar Park fahren.» In einer Flussschleife des North Saskatchewan River gelegen, ist dieser Park nicht nur ein Hunde-Eldorado, es gibt dort auch ein kleines Waldgebiet. Haven, die über kurz oder lang immer die vorgegebenen Wege verlässt, mochte es, als wir das erste Mal da waren.
Auf ihr Nicken hin dirigiere ich sie zu meinem Wagen, ohne weiter nachzuhaken. Sie wird mir erzählen, was sie beschäftigt, wenn sie so weit ist. Das hat sie bisher immer getan.
Noch bevor wir den Parkplatz des Terwillegar Parks erreicht haben, atmet sie plötzlich vernehmlich aus, doch ein kurzer Blick in ihr Gesicht zeigt, dass sie noch immer nach den richtigen Sätzen sucht. Oder vielleicht möchte sie auch erst im Wald sein. Obwohl ich mir Gedanken darüber mache, was Haven mit mir besprechen will, muss ich fast lächeln. Ich fühle mich, als würde ich eine Meerjungfrau zum Ozean bringen, damit sie dort freier atmen kann.
Mit einem Ozean lässt sich das Wäldchen in Terwillegar mit Sicherheit nicht vergleichen, doch wie erwartet zieht Haven mich nach kurzer Zeit vom Weg herunter. Beim Laufen streicht sie wie so oft mit den Fingerspitzen über die raue Rinde der Bäume, eine Angewohnheit, die ich versuchsweise übernommen habe, wenn ich nicht gerade damit beschäftigt bin, Sträucher mit stacheligen Zweigen beiseitezuschieben, die sich in diesem lichten Wald dichter ausgebreitet haben als in den Schatten der mächtigen Wälder, die Haven ihr Zuhause nennt.