by Kira Mohn
«Wo willst du hin?»
«Es reicht mir schon, hier zu sein.» Haven lässt sich am Rand der Lichtung nieder und lehnt sich gegen einen Stamm. «Jackson?» Ihre Stimme klingt dünn. Ich gehe vor ihr in die Knie, und sie tastet nach meinen Händen. «Ich weiß nicht, wie ich damit klarkommen soll. Ich wünschte … ich wünschte, ich könnte es wieder vergessen.»
«Nein.» Ich drücke ihre Finger. «Nein, das willst du nicht. Es ist immer besser, wenn man weiß, woran man ist, oder? Du wärst immer noch wütend auf deinen Vater, wüsstest du es nicht.»
«Aber sie wollte mich nicht.»
Darauf weiß ich nichts zu erwidern.
«Warum? Warum nicht, Jackson?»
«Haven.» Es ist zu dunkel, um ihr Gesicht zu erkennen. «Du weißt nicht, was Tage später gewesen wäre. Oder Wochen später oder Monate später. Deine Eltern haben sich gestritten – vielleicht hätte deine Mutter alles, was sie in diesem Moment gesagt hat, am nächsten Tag schon wieder bereut.»
«Vielleicht auch nicht.»
«Vielleicht auch nicht», räume ich ein. «Aber zu wissen, was damals passiert ist, macht dich nicht zu jemand anderem als zu dem, der du heute bist, und du bist …» Ich suche nach Worten. «Du bist einer der stärksten Menschen, die ich je kennengelernt habe.»
«Ich fühle mich nicht stark.»
«Jetzt nicht.» Ich lasse ihre Hände los und setze mich neben sie. «Aber irgendwann wieder.»
Weiß leuchtet der Mond über der Lichtung. Der Duft der Tannen und die Geräusche der Nacht hüllen uns ein.
«Ich vermisse das Gefühl, dass sie mich geliebt hat», murmelt Haven, und ich lege einen Arm um ihre Schultern und ziehe sie enger an mich. «Ich vermisse es, daran zu glauben, dass es so war.»
«Wenn du an die Bilder von dir und deiner Mutter denkst – kannst du dir dann wirklich vorstellen, dass du ihr nichts bedeutet hast?»
Sie kuschelt sich enger an mich.
«Ich will dir nicht einfach irgendwas sagen, nur weil du das gern hören würdest – aber ich glaube nicht, dass deine Mutter dich nicht geliebt hat. Vielleicht hat ihre Liebe zu dir sie sogar erschreckt, weil sie so heftig war.»
Neben mir bleibt es still. Dann windet Haven sich aus meinem Arm, setzt sich rittlings auf meine Beine und nimmt mein Gesicht in ihre Hände. Es ist zu finster, um irgendetwas erkennen zu können, doch ich spüre ihre Haare über meine Wangen streichen, und im nächsten Moment legen sich ihre weichen Lippen auf meine. In der Dunkelheit der Nacht küsst Haven mich, und ich küsse Haven, und es fühlt sich an, als würden wir damit etwas besiegeln.
«Danke», flüstert sie irgendwann, und alles, was mir dazu einfällt, ist, meine Hände in ihrem Haar zu vergraben und Haven wieder an mich zu ziehen.
32
HAVEN
I n dieser Nacht teilen Jackson und ich uns mein Bett, und als ich am frühen Morgen erwache, hat sich der allumfassende Schmerz von gestern Abend wie ein Stein in meinem Brustkorb eingenistet. Beim Atmen kann ich ihn spüren.
Ich liege in meine Decke gewickelt, und Jackson hat zusätzlich einen Arm um mich geschlungen. Obwohl er noch schläft, wirkt sein Gesicht angespannt – fast möchte ich ihn wecken und ihn fragen, welche Sorgen ihm seine Träume bereiten.
Als spüre er meinen Blick, öffnet er jetzt die Augen, und der harte Zug um seinen Mund löst sich in einem Lächeln auf.
«Guten Morgen», murmelt er.
«Guten Morgen.»
Er wirft einen Blick zum Fenster. «Wie viel Uhr ist es?»
«Ich weiß nicht … halb zehn vielleicht.»
Jackson brummt irgendwas, und ich muss lächeln, als er sich jetzt auf den Rücken dreht und mich mit sich zieht. Meine Wange liegt auf seiner Brust.
«Ein Frühaufsteher bist du nicht gerade, oder?», frage ich.
«Kann man nicht sagen. Du?»
«Meistens schon.»
«Dein Ernst?» Er hebt kurz den Kopf und lässt sich dann wieder zurückfallen. «Na ja, wir können ja gute Freunde bleiben. Das war ein Scherz», fügt er Sekunden später hinzu.
Ich weiß, dass Jackson seine Bemerkung nicht ernst gemeint hat, trotzdem ist mir plötzlich nicht mehr nach Lächeln zumute. Mit ihm zusammen aufzuwachen ist so selbstverständlich, es fühlt sich gut an. Richtig.
Und doch ist mir letzte Nacht beim Einschlafen etwas klargeworden.
Ich will nicht zurück nach Edmonton. Ich kann nicht. Ich gehöre dort einfach nicht hin. Es war nie der Ort, der für mich vorgesehen war.
Aber wie soll ich das Jackson sagen? Können wir noch zusammen sein, wenn er in Edmonton lebt und ich hier? Nichts würde sich dann mehr selbstverständlich anfühlen. Jedes Treffen müsste geplant werden, wir würden uns viel seltener sehen, und irgendwann wird er vielleicht bemerken, dass unsere Welten zu verschieden sind.
Seine Hand liegt ruhig auf meinem Rücken. Ist er wieder eingeschlafen? Oder denkt er in dieser Sekunde über ganz ähnliche Dinge nach?
«Hast du auch Hunger?»
Nein, offensichtlich nicht. Ich stütze mich auf die Unterarme, um ihn anzusehen, und er erwidert meinen Blick. Sein Lächeln ist so zärtlich, dass es mir das Herz zusammenzieht.
«Wir könnten uns was einpacken und irgendwo draußen frühstücken», schlage ich vor.
«Okay.»
Eine halbe Stunde später sind wir unterwegs. Während Jackson geduscht hat, habe ich einen Rucksack gepackt, und wir essen mit Käse belegte Weißbrotscheiben bei der alten Tanne. Ich erzähle Jackson von Gisbert, der sich heute nicht blickenlässt, und führe ihn zu dem Ort, wo Dad vor Jahren Snoops fand. Die Mittagssonne hat ihren höchsten Punkt bereits überwunden, als uns tatsächlich noch einmal Gracie über den Weg läuft, und ich zeige Jackson einen Platz, an dem ich jedes Mal, wenn ich dort vorbeikomme, einen Stein in die harte Erde vor einer abgestorbenen Tanne drücke. Mittlerweile ist dort ein Mosaik entstanden, das ich einfach hübsch finde.
Am frühen Nachmittag erreichen wir den Silent Lake . Jackson ist im Laufe der letzten Stunde immer stiller geworden. Wortlos lässt er sich jetzt am Ufer des Sees nieder, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Es ist noch warm für diese Jahreszeit, und ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke hinunter, als ich mich neben ihn setze. Schweigend blicken wir auf das unbewegte Wasser. Die Sonne brennt auf unsere Köpfe, fast kann man sich einbilden, der Spätsommer sei noch nicht vorüber.
Ich lehne meinen Kopf gegen Jacksons Schulter, und er legt den Arm um mich.
«Du willst nicht zurück», sagt er schließlich. «Nach Edmonton, meine ich. Oder?»
Jetzt müsste ich nicken, und er würde die Bewegung spüren, doch stattdessen drücke ich mich nur gegen ihn. Als würde ich dadurch um eine Antwort herumkommen. Ich schiebe eine Hand unter seine geöffnete Jacke, unter das Shirt, das er trägt. Die glatte Haut seines Rückens ist warm, und behutsam fahre ich die Kontur seiner Wirbelsäule nach, langsam, von unten nach oben.
«Haven?» Jackson sieht mich an, sein Blick ist ernst, selbst das Gold in seinen Augen wirkt dunkler als gewöhnlich.
Langsam senke ich bestätigend den Kopf, nur kurz, und dann lege ich ihm eine Hand in den Nacken.
Den ganzen Vormittag über habe ich versucht, ein wenig Abstand zwischen uns zu wahren, weil alles mit Sicherheit nur noch schwieriger wird, wenn ich ihn küsse. Aber ich kann nicht so nah bei ihm sitzen und es nicht tun.
Ein kristallklarer See mitten im Wald, den niemand kennt. Und hier sind nur Jackson und ich, während er mit den Daumen jetzt zart über meine Wangenknochen streicht, und obwohl der dumpfe Schmerz in meiner Brust sich nicht völlig vertreiben lässt, muss er zurücktreten vor diesem Gefühl, das mich immer erfasst, wenn Jackson mich so küsst, wie er es jetzt tut. Alles wird leicht. Es ist wie Tannenrauschen, wie ein Vogelschwarm, der über uns hinweggleitet.
Jackson dreht sich zu mir. Ohne den Kuss zu unterbrechen, lässt er seine Jacke von den Schultern gleiten, und als er das Shirt über seinen Kopf zieht, tut er es, weil ich es bin, die den Stoff nach oben geschoben hat, um seinen Bauch, seine Brust, seine Schultern berühren zu können.
Auch das wäre nicht mehr selbstve
rständlich. Jede Berührung, jeder Kuss wäre auf die wenigen Tage im Monat beschränkt, an denen wir uns treffen würden, und plötzlich will ich viel mehr davon.
Ich sehe ihm in die Augen, als ich mir selbst die Jacke und das Shirt ausziehe. Keiner von uns wendet den Blick ab, während Jackson über meinen Rücken streicht und den Verschluss des BH s öffnet. Erst als er zu Boden fällt, senken sich seine Lider, sacht streicht er meine Arme hinauf und ebenso sacht über meine Brüste.
Ein Schauer durchläuft mich, und leider muss ich plötzlich nervös lachen, obwohl es gar nichts zum Lachen gibt.
Auf Jacksons Gesicht lag gerade noch ein beinahe ehrfürchtiger Ausdruck, jetzt jedoch grinst er. Mit den Fingerspitzen fährt er leicht über meine Seiten bis unter die Arme, und zumindest weiß ich jetzt, warum ich lachen muss.
«Nicht kitzeln!» Ich presse mich gegen ihn, um ihn daran zu hindern.
Jacksons Hände wandern weiter hinunter bis zu meinem Hintern, und ich lege die Arme um ihn. Fast jedes Gefühl außer der Sehnsucht nach ihm hat sich verflüchtigt.
Mit den Fingern gleite ich in sein Haar, beuge den Kopf nach hinten, während er meinen Hals küsst, die Schultern und die Stelle zwischen den Schlüsselbeinen. Langsam, einen Kuss nach dem anderen, wie die einzelnen Töne einer Melodie, und ich beschließe, einfach allem zu folgen, was er tut, denn jede neue Berührung, jeder neue Kuss lässt mich die nächste Berührung und den nächsten Kuss herbeiwünschen.
Jackson greift nach unseren Sachen und breitet sie hinter mir auf dem grasbewachsenen Ufer aus. Über mich gebeugt, stützt er meinen Rücken, als wir uns gemeinsam darauf niederlassen, und dass er den Knopf meiner Jeans öffnet und den Reißverschluss herunterzieht, ist okay. Für einen Moment hebe ich die Hüften an und überlege dabei, ob er die Wäsche wohl mag, die ich darunter trage, doch als er über die Innenseiten meiner Oberschenkel streicht, wird es wieder unwichtig.
Ich weiß nicht, wie er das macht, aber während er sich um jede Stelle meines Körpers bemüht, langsam und ohne Hast, beginnt es in mir erst zu glühen und dann sanft zu brennen. Erst als Jackson zurückweicht und Anstalten macht, die eigenen Jeans herunterzuschieben, spüre ich inmitten all der anderen Gefühle wieder Nervosität in mir aufsteigen.
«Jackson», flüstere ich.
Er verharrt in der Bewegung. Der Ausdruck in seinen Augen ist anders, neu, doch vor allem anderen lese ich Zuneigung heraus. Ich ziehe ihn wieder näher, spüre seine Lippen auf meinen, und als er sich jetzt die Jeans über die Hüften schiebt, unterbreche ich ihn nicht mehr, sondern streife mir selbst das letzte Kleidungsstück herunter und strampele es mit den Füßen fort.
Jackson legt sich neben mich, so dicht wie möglich. Zum ersten Mal trennt nichts mehr seinen Körper von meinem.
Ich mache mich bereit für den Moment, doch als würde Jackson meine Anspannung bemerken, wird er in seinen Bewegungen sogar noch sanfter, noch langsamer. Seine Hand legt sich zwischen meine Beine. In der ersten Sekunde halte ich die Luft an, dann verstärkt er den Druck, und ich seufze auf. Er weiß, was er da tut, er weiß es ganz genau, und wegen mir müsste er seine Hand nicht wieder fortnehmen. Als sie irgendwann doch verschwindet, bin ich beinahe frustriert, überzeugt, dass alles, was noch kommt, nicht besser werden kann.
Etwas knistert, und nur kurz bin ich verwirrt, bis ich ein winziges, quadratisches Päckchen in Jacksons Händen entdecke.
Ich sehe in Jacksons schönes Gesicht. Hinter ihm der tiefblaue Himmel und die hohen Wipfel der Tannen.
Zuerst ist da der Kuss, ein Kuss wie in einem meiner Träume, nur diesmal bin ich wach. Fast gleichzeitig beginnt Jackson Millimeter für Millimeter in mich einzudringen. Ich umklammere ihn so heftig, dass er innehält. Erst als ich mich wieder entspanne und meine Hände über seinen Rücken hinunter zu seinen Hüften wandern, macht er weiter, bis ich so etwas wie einen schwachen Widerstand spüre.
Ich öffne die Augen und begegne seinem Blick.
Dann atme ich scharf ein, bevor mir klarwird, dass wir nicht näher zueinanderkönnen, dass dies der Moment ist, in dem wir so eng miteinander verbunden sind wie möglich. Nicht nur körperlich. Überhaupt.
Als er sich bewegt, bleibt es behutsam, vorsichtig, zart. Ein Gefühl breitet sich in mir aus, das süß ist und tief, und in Jacksons Augen steht nichts als Wärme und Glück und Liebe. Die Erinnerung an diesen Moment werde ich festhalten, für immer und ewig.
JACKSON
E s hätte keinen besseren Ort für das erste Mal geben können, obwohl wir uns ziemlich schnell wieder angezogen haben. Die wärmende Sonne und unsere eigene Hitze waren uns eine Zeitlang genug, doch auch wenn ich mit Haven im Arm noch ewig im Gras liegen und in den Himmel hätte blicken können, erinnert man sich Anfang Oktober doch recht schnell wieder daran, warum man eine Jacke trägt.
Haven sitzt vor mir zwischen meinen angewinkelten Beinen, ich habe die Arme um sie gelegt. Meine Wange berührt ihre, und am liebsten möchte ich sowohl den Anblick des Sees auf mich wirken lassen als auch mit geschlossenen Augen ihren Duft genießen.
Das hier ist echt. Das hier ist das, was ich will.
Mit Haven zusammen sein.
Sie glücklich sehen.
Mein Leben in meinen eigenen Händen halten.
«Ich wünschte, dieser Augenblick wäre für immer», flüstert Haven.
«Wir sind für immer», gebe ich zurück. «Ganz egal übrigens, ob du wieder nach Edmonton kommst oder nicht.»
Sie hält meine Unterarme umfasst, in die Stille hinein höre ich ihr hauchzartes Seufzen.
«Sagst du mir, warum du nicht zurückwillst?», frage ich irgendwann.
«Ich passe dort einfach nicht rein.»
Vielleicht sollte ich es einfach so stehenlassen, ihre Entscheidung akzeptieren, aber verflucht, ich kann nicht. Wenn sie nicht mehr in Edmonton lebt und wir uns nicht mehr so gut wie jeden Tag sehen können … ich will das einfach nicht.
Haven bewegt sich in meinen Armen. «Wenn du das zwischen uns deshalb beenden willst, dann …»
«Will ich nicht.» So weit war ich gedanklich immerhin schon. «Und darf ich dir sagen, dass es ein bisschen bescheuert von dir ist, so was überhaupt von mir zu denken?»
Sie schweigt. Lange. Dann erwidert sie: «Sorry.»
«Angenommen. Haven …» Sorgfältig suche ich nach Worten. «Wenn du hierbleiben willst, ist das okay. Das kriegen wir hin. Aber ich würd’s gern kapieren. Ist es noch wegen dieser Party? Ich hab mich danach scheiße verhalten, aber …»
«Hast du gar nicht», unterbricht sie mich. «Okay, vielleicht ein bisschen. Aber ich kann verstehen, warum, das ist es nicht.»
«Was dann? Stella? Lucy?»
«Stella ist mir egal, und mit Lucy habe ich mich ausgesprochen. Nein, es ist … ich weiß nicht. Ich fühle mich dort so losgelöst von allem. Ich wollte nach Edmonton, weil ich dachte … ich dachte, ich könnte dort etwas finden, das es gar nicht gibt. Auch wenn meine Mutter nicht gestorben wäre, hätte ich niemals mit ihr in Edmonton gelebt. Ich wäre mit Dad auf jeden Fall hierhergezogen.»
«Na und?»
Sie dreht den Kopf, um mich ansehen zu können. So etwas wie Unwillen liegt in ihrem Blick. «Und das bedeutet einfach, dass ich hierhergehöre und nicht irgendwo anders hin.»
Sie klingt ein wenig stur, und vermutlich fällt meine Antwort deshalb wenig verständnisvoll aus. «Haven, du bist kein Baum. Und auch kein … Puma oder ein Elch oder sonstwas, das zwingend in einen Wald gehört.»
«Du verstehst das nicht, es ist … mir fehlt in Edmonton das Gefühl, zu Hause zu sein.»
«Natürlich fehlt dir das da. Du bist dort auch nicht zu Hause. Noch nicht. Du bist erst vor wenigen Wochen in Edmonton angekommen – du erwartest zu viel. Du hast einfach Heimweh, das hätte jeder.»
Weil Haven schweigt, rede ich weiter.
«Vorschlag. Mach dein Semester dort zu Ende. Und triff dann eine Entscheidung. Das war doch ursprünglich dein Plan, oder? Ein Semester Edmonton. Zieh das durch – verschaff dir erst einen richtigen Eindruck.»
Haven schweigt immer noch.
«Und wenn du danach immer noch denkst, das alles sei
nichts für dich, werde ich die Klappe halten und ziemlich viel mit dem Auto fahren. Aber gib dem Ganzen noch eine Chance.»
Stille.
«Haven?»
«Ich … weiß nicht.»
«Okay, ich sag dir noch was.» Diese Eingebung kommt mir spontan, keine Ahnung, ob das jetzt noch was bewirken kann. «Ich hab ewig einfach nur so vor mich hin gelebt, ohne jemals wirklich eigene Entscheidungen zu treffen, okay? Weißt du noch, wie du zu mir gesagt hast, ich würde den leichteren Weg nehmen? Genau das hab ich getan. Immer nur der leichtere Weg. Aber in den letzten Wochen hab ich das geändert.» Ich atme einmal tief durch. «Ich hab das Studium geschmissen und mich deshalb mit meinen Eltern gestritten, die aktuell so tun, als würde sie das umbringen. Ich hab mir einen Job gesucht, ich hab … ich hab mich mit Lynn ausgesprochen. Und das fühlt sich alles richtig an, aber trotzdem ist es gleichzeitig anstrengend, weil ich jetzt nicht mehr denken kann, dass alles halt so gelaufen ist, wie es gelaufen ist, und ich nicht viel daran hätte ändern können. Ich will damit sagen …» Jetzt gerate ich ins Schwimmen. Im Prinzip erkläre ich mir das gerade zum ersten Mal auch selbst. «Wenn man sich für oder gegen etwas entscheidet, besteht immer das Risiko, dass es die falsche Entscheidung ist. Aber wenn man nix entscheidet, entscheidet man trotzdem, man merkt es nur nicht. Und dann braucht es halt ziemlich viel Glück, damit der Weg für einen selbst trotzdem stimmt. Verstehst du, was ich meine?»
«Ja.»
«Das ist gut, ich bin mir nämlich nicht so sicher, was ich gerade eigentlich gesagt habe.»
«Du hast gesagt, dass man sich bewegt, auch wenn man stillsteht.»
Wow. Entweder bin ich sehr weise, oder Haven ist es.
«Du willst jetzt nicht mehr Anwalt werden?», fragt sie. «Was dann?»
«Lehrer.»
«Und deine Eltern finden das nicht gut?»
Ich muss lachen. «Nein, sie finden es richtig zum Kotzen.»
«Ich nicht.» Haven lehnt sich in meinen Armen ein wenig zur Seite, um mir ins Gesicht sehen zu können. «Ich finde, das ist ein toller Beruf. Er passt zu dir.»