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Love is Loud – Ich höre nur dich

Page 31

by Engel, Kathinka


  »Das freut mich zu hören, Pendergast«, sagt die kalte Stimme. »Ihr Projekt wird das Viertel aufwerten. Lofts, Co-Working-Spaces, Ladenflächen, das ist genau das, was wir hier brauchen. Sie verpassen New Orleans ein neues Gesicht.«

  »Und es wird höchste Zeit«, sagt der andere, offenbar der Investor. »Wenn aus dieser Stadt noch mal etwas werden soll, müssen wir der Welt zeigen, dass wir mehr sind als Gras rauchende Jazzbands, die seit Jahrzehnten den gleichen Sound spielen.«

  »Wem sagen Sie das.«

  »Ich komme morgen bei Ihnen vorbei und unterzeichne die Verträge. Und dann sollten wir wohl auch über Tremé sprechen, Victor. Beim Lunch?« Beim Klang seines Namens muss ich tatsächlich kurz würgen.

  »Nichts lieber als das«, sagt Victor durch zusammengebissene Zähne. Ihre Stimmen und Schritte entfernen sich wieder, und ich wage es, tief Luft zu holen. Danach übergebe ich mich.

  Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Gentrifizierung auch hier um sich greift. Aber zu hören, was Menschen wie Victor – ob der Name nun Zufall war oder nicht – und dieser Investor über mein New Orleans denken, schmerzt. Umso mehr, da ich ohne Band viel weniger Teil davon bin. Ich spucke bittere Galle, dann steige ich wieder nach drinnen. Mein Schädel fühlt sich durch die Zeit in der Sonne an, als wäre er auf seine dreifache Größe angeschwollen. Ich sollte dringend Schmerzmittel auftreiben. Doch bevor ich irgendwo hingehe, muss ich mich … Ich stöhne vor Übelkeit und Schwindel, als ich mich an der Wand hinunter auf den Boden gleiten lasse … ausruhen.

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  Franzi

  Ich habe einen Flug für den nächsten Nachmittag gebucht, sodass ich genug Zeit habe, um mich mit Link auszusöhnen und ihm zu versichern, dass ich wiederkommen werde. Wir werden uns nicht für immer verabschieden, darauf haben Faye und auch Hugo bestanden. Und selbst in meinem Kopf rattert es schon die ganze Zeit. Ich fliege zurück nach Deutschland, ja. Ich werde für meine Mutter da sein, solange sie mich braucht. Aber dann … Ich kann mir ein Leben in Deutschland nicht vorstellen. Nicht im Moment. Nicht ohne Link. Nicht … im Grunde überhaupt nicht. Ich weiß nicht, ob ich naiv bin, ob das eine Entscheidung ist, die man übernächtigt und emotional überfordert treffen kann, doch einen Abschied für immer kann ich nicht zulassen. Der Gedanke daran ist unerträglich. Das Wie?, das Wann? und das Wie bringe ich es meiner Familie bei? sind Fragen, um die ich mich in Deutschland kümmern werde.

  Da ich Link immer noch nicht erreicht habe, beschließe ich kurzerhand, einfach bei ihm aufzutauchen. Nach Deutschland zu fliegen, ohne ihm zu sagen, dass ich ihn liebe und er meinetwegen unter Brücken schlafen könnte, bringe ich nicht übers Herz. Auch wenn es mir gegen den Strich geht, dass er einfach abtaucht und sich nicht mehr meldet. Aber vermutlich geht es dabei gar nicht um unseren Streit, sondern um die Sache mit Jasper und der Band .

  Wenig später schlüpfe ich durch den Zaun auf das verwahrloste Grundstück des Warehouse. Etwas, das mir in Deutschland definitiv fehlen wird – neben Link natürlich und Faye und Hugo und all dem Leben, das hier um mich herum pulsiert –, ist die Wärme, die auch jetzt im Herbst noch herrscht. Wurde mir bei meiner Ankunft noch nahezu die Luft abgeschnürt aufgrund der feuchten Hitze, gehört sie nun für mich wie selbstverständlich dazu.

  Ich steige die Stufen in den zweiten Stock hinauf. Jeder meiner Schritte hallt durch das kahle Treppenhaus. Wie gerne würde ich einfach nach Link rufen, aber irgendetwas hält mich davon ab. Ist es das Echo?

  Als ich oben angekommen bin, wage ich es doch. »Link?«, frage ich vorsichtig, dann spähe ich um die Ecke und …

  Ich bin wie erstarrt.

  »Wa…« Aber ich bringe nicht einmal das eine Wort zu Ende. Das kann nicht sein. Das ist unmöglich.

  Ich trete in die Halle. Die Plastikplane ist abgerissen und in einer Ecke zusammengeknüllt. Das ist alles, was noch übrig ist. Fast alles. Eine einzelne Glühbirne liegt auf dem nackten Betonboden. Link ist weg. All seine Sachen. Nichts ist mehr da. Es ist, als wäre er nie hier gewesen. Wie ist das möglich? Wie kann das sein?

  Langsam gehe ich ein paar Schritte. Dort, dort hinten lag seine Matratze. Wir lagen auf dieser Matratze. Liebestaumelnd. Glücksbesoffen. Streitend gestern Nacht. Wo ist sie?

  Ich hebe die Glühbirne vom Boden hoch. Was ist passiert? Mein Kopf scheint nicht zu verarbeiten, was mein Körper bereits weiß. Er klammert sich an irgendwas. Hoffnung kann es nicht sein, denn meine Augen lügen nicht. Oder doch? Natürlich nicht. Dennoch lasse ich mich auf die Knie fallen und berühre den Boden dort, wo wir gesessen haben. Dort, wo wir miteinander geschlafen haben. Die Tränen, die ausgeweint schienen, drängen mit aller Macht an die Oberfläche. Und ich lasse sie. Eine nach der anderen tropft auf den Boden vor mir und färbt den Beton fast schwarz. Dunkelgrau mit schwarzen Punkten. So fühlt sich mein Leben gerade an. Vom einen auf den anderen Moment. Meine Mutter liegt im Krankenhaus, ich muss Faye und Hugo verlassen, in den deutschen Vorwinter nach Hause zurückkehren.

  Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, mein US -Handy, das ich nicht vergessen darf, Faye zurückzugeben, und wähle zum ungefähr zwanzigsten Mal Links Nummer. Doch natürlich: The number you’ve called is temporarily not available. Danke für nichts.

  Auf einmal wird mir schlecht. Was, wenn ihm etwas zugestoßen ist? Was, wenn er entdeckt wurde? Nackte Panik breitet sich in mir aus. Mein ganzer Körper summt auf eine Weise, die mir Angst macht. Oder ist es die Angst, die meinen Körper zum Summen bringt?

  Immer wieder wähle ich Links Nummer. Ich weiß nicht einmal, was ich mir davon verspreche, aber ich kann nicht damit aufhören. Als ich das Handy schließlich doch sinken lasse, ist es tränennass. Obwohl ich kaum etwas sehe, tippe ich eine Nachricht an ihn. Eine weitere Nachricht, denn seit heute Morgen habe ich ihm bereits drei geschickt. Keine davon ist auch nur zugestellt worden. Dann tippe ich noch meine deutsche Handynummer ein und schicke ihm auch diese. Irgendwann wird er sein Handy einschalten. Hoffe ich.

  Mühsam erhebe ich mich vom Boden. Meine Glieder sind schwer, und mein Herz schmerzt auf eine noch nie gekannte Weise. Es fühlt sich an wie das Ende von etwas, obwohl ich mir selbst versprochen habe, dass es das nicht ist. Ich will gerade gehen, da kommt mir noch eine Idee.

  Ich krame in meiner Tasche, und tatsächlich: Ganz unten finde ich Hugos Bleistiftstummel, den er mir in meiner ersten Woche hier gegeben hat. Dann suche ich mir einen sauberen Ziegelstein auf Augenhöhe und schreibe meine deutsche Handynummer darauf. Bitte ruf mich an, Link, kritzle ich darunter. Ich liebe dich.

  Ich verlasse das Warehouse und Link, Faye und Hugo. Bonnie und Amory. Curtis, Sal und Jasper, obwohl mir Letzterer gestohlen bleiben kann. Ich verlasse das bunte Leben, die Wärme, die Feuchtigkeit, die Musik. Ich verlasse das French Quarter und den Garden District. Jedes einzelne Verlassen bricht mir das Herz, obwohl ich mir immer wieder sage, dass ich zurückkehren werde.

  Wir sehen uns bald, French Quarter.

  Ich komme wieder, Garden District.

  Bis bald, Faye und Hugo. Ihr werdet mir so sehr fehlen.

  Geht nicht weg, Leben, Musik und Wärme.

  Und als ich schon auf meinem Fensterplatz im Flugzeug sitze, flüstere ich: »Bitte warte auf mich, Link. Vergiss mich nicht.«

  44

  Lincoln

  Ja, hier könnte es gehen. Nach einer Nacht am Fluss und stundenlanger Suche heute habe ich ein leer stehendes Warehouse am Rand von Holy Cross im Osten der Stadt gefunden. Es ist nicht vergleichbar mit meinem vorherigen Zuhause, aber für ein paar Nächte sollte es gehen. Wasser habe ich nicht, und Strom gibt es vermutlich auch keinen. Dafür ein paar Ratten. Doch es ist ein Dach über dem Kopf und ein Ort, an dem ich meine spärliche Habe aufbewahren kann, bis ich etwas Besseres gefunden habe. Und das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt habe, als ich gestern meine Sachen zusammenpackte. Ich stopfte meine Decke und meinen Kocher zu meinen Klamotten, schraubte die Glühbirne aus meiner Lampe, denn Glas transportiert sich nicht gut in einem Seesack. Ich wickelte sie in mein Kissen und legte beides ebenfalls dazu. Den Topf knotete ich außen an den Sack, rollte meinen dünnen Futon zusammen und band ihn mit einer Schnu
r fest.

  Kurz spielte ich mit dem Gedanken, zu meinen Eltern zu gehen, aber ich wollte ihnen nicht noch mehr Kummer machen. Für sie muss ich der Sohn sein, der alles im Griff hat. Der die Dinge zusammenhält. Nicht derjenige, dem das Leben entgleitet. Der mehr kaputt macht, als er kittet.

  Ich lud mein Hab und Gut auf mein Fahrrad, taumelte mehr, als dass ich das Rad über den knirschenden Kies bis zur Lücke im Zaun schob. Alle paar Meter musste ich innehalten, um durchzuatmen und zu warten, bis die Welt um mich herum wieder scharfe Konturen angenommen hatte. Doch ich schaffte es auf die Straße, stieg auf das Fahrrad und radelte langsam und etwas wackelig in eine Richtung davon, an die ich mich nicht einmal mehr erinnern kann.

  Die Kopfschmerzen wurden immer stärker. Eigentlich war ich in keiner Verfassung, umzuziehen. Aber das Wichtigste war, einen neuen Ort zu finden, an dem ich leben konnte. Was der Grund ist, warum ich in diesem Moment, da ich mich endlich auf meinem Futon ausstrecken und meinen nach wie vor pochenden Kopf auf mein Kopfkissen betten kann, einfach nur erleichtert bin. Erst muss mein Kopf wiederhergestellt werden. Dann kann ich mich darum kümmern, die Scherben meines Lebens eine nach der anderen wieder aufzulesen. Vielleicht ein paar von ihnen wieder zusammenkleben. Frenzy wiedersehen.

  Ich verliere jedes Gefühl für Zeit. Meine Kopfschmerzen kommen und gehen, ebenso wie mein Bewusstsein. Manchmal träume ich wirre Dinge, dann wieder glaube ich, wach zu sein. Ich sehe Gesichter vor mir. Frenzy, Bonnie. Jasper. Blythe. Der Schmerz in meinem Kopf vermischt sich mit dem Schmerz meines Herzens. Dann nicke ich wieder ein, und heilsame Schwärze umgibt mich. Eine Dunkelheit, in der ich mich erhole und wieder ein Stück zu mir selbst werde. Doch als ich das nächste Mal erwache, dröhnt mein Kopf immer noch. Mein Mund ist trocken, und ich taste neben mir nach der Wasserflasche, die ich dort in weiser Voraussicht deponiert habe. Draußen wird es gerade Nacht. Schon bald kann ich kaum noch etwas sehen. Und nachts, wenn die Einsamkeit am erbarmungslosesten ist, potenziert sich jeder Kummer, jeder Schmerz .

  Langsam bin ich mir sicher, dass ich eine Gehirnerschütterung habe. Aber das Krankenhaus ist keine Option, da ich nicht versichert bin. Außerdem wüsste ich in meinem Zustand nicht einmal, wie ich mich aufraffen sollte. Ich frage mich, ob Frenzy sauer auf mich ist. Ob sie sich Sorgen macht. Ob sie mich sucht. Ein schlechtes Gewissen überkommt mich, aber nur für ein paar Sekunden, dann falle ich wieder in einen unruhigen Dämmerschlaf.

  Doch irgendwann erwache ich und merke, dass es mir besser geht. Dass das Wummern hinter meiner Stirn weniger geworden ist. Dass es nicht mehr schmerzt, meine Augen zu öffnen. Dass ich mich regelrecht über die Sonne freue, die auf mein Kopfkissen fällt.

  Die Wasserflasche neben meinem Bett ist leer, und ich weiß, dass ich mich bald um etwas zu trinken kümmern muss. Aber noch bleibe ich liegen. Erfreue mich für den Moment daran, dass es bergauf zu gehen scheint mit mir. Das Gefühl hält allerdings nicht lange an. Mit aller Macht prasseln die Erinnerungen auf mich ein. Die Band. Der Streit. Jasper, der mich mit der Faust ins Gesicht schlägt. Bonnie und Curtis, die After Hours vermutlich bereits hinter sich gelassen haben. Frenzy, die mich retten will. Die etwas aus mir machen will, als sei ich ein Projekt. Ich bin vollkommen allein. Und jetzt, da die Kopfschmerzen beinahe weg sind, spüre ich alles andere umso stärker. Die Einsamkeit, die Enttäuschung. Es schnürt mir die Luft ab, zu wissen, dass ich verlassen bin. Gottverlassen an diesem gottverlassenen Ort.

  Mit schwerem Herzen mache ich mich dennoch in der Dämmerung auf den Weg, um mir etwas zu essen und frisches Wasser zu organisieren. Ein wenig Geld habe ich noch, doch lange reicht es nicht mehr. Morgen, spätestens übermorgen muss ich wieder Straßenmusik machen. Auch wenn mir beim Gedanken daran, meine Gitarre in die Hand zu nehmen, wieder schlecht wird.

  Bei einem Eckladen kaufe ich einen Kanister Wasser und eine Flasche, die ich in einem Zug austrinke. Nicht weit davon finde ich einen schäbig aussehenden Imbiss, der Po’ boys verkauft. Ich bestelle mir einen mit frittierten Krabben und frage die dicke Frau hinter der Theke, welchen Wochentag wir haben.

  »Dein Ernst, Junge?«, fragt sie und wischt sich mit dem speckigen Handrücken über die Stirn.

  »Ich … war krank«, murmle ich, als sie mir das fettige Sandwich reicht.

  »Montag, Dummchen«, sagt sie und nimmt meine Dollarnoten entgegen.

  Mit vollem Mund nuschle ich ein »Dankeschön« und verlasse den Laden. Noch ehe ich wieder in meinem neuen Zuhause ankomme, habe ich das Po’ boy bereits verputzt.

  Montag. Morgen wäre er gewesen. Unser großer Moment. Unsere Chance. Der Auftritt im Palace of Sound. Der Gedanke daran lässt mich das Po’ boy beinahe wieder rauswürgen. Ich krieche in mein Bett zurück und wünsche mir nichts sehnlicher, als schnell wieder einzuschlafen, um von einfacheren Zeiten zu träumen. Oder noch besser: von nichts.

  »Du weißt, dass ich alles richtig machen wollte, oder?«, frage ich in die schwarze Stille hinein. »Ich wollte das Versprechen, das ich dir gegeben habe, halten. Wollte mich um Jasper kümmern. So gut es ging. Und jetzt ist alles aus.«

  Ein dicker Kloß hat sich in meinem Hals gebildet, und meine Stimme bricht.

  »Sie fehlt mir, Blythe. Sie fehlt mir so sehr.« Fast wünsche ich mir die körperlichen Schmerzen zurück. Wenigstens waren die seelischen durch sie überdeckt. »Ich dachte, sie wäre anders. Ich dachte, sie würde mich sehen. Den richtigen Link. Stattdessen wollte sie mich retten. Mich besser machen. Ich war nicht genug.«

  Ich fahre mit den Fingern durch meine Haare, die inzwischen nicht mehr zu bändigen sind. Ich denke an Annabella, an das Gefühl ihres mächtigen Körpers an meinen Schultern, während sie meine Haare schneidet. Das Gefühl von Zuhause. Von Geborgenheit. Von dem ich so weit weg bin, wie man nur sein kann.

  Das hat sie nie gesagt.

  »Denkst du, ich liege falsch?«, frage ich.

  Du musst Jasper Zeit geben.

  »Ich brauche selbst Zeit, Blythe.«

  Er ist in seinem Stolz verletzt.

  »Und was ist mit mir? Bin ich vielleicht nicht verletzt? Ich hätte alles für ihn getan. Für dich, Blythe. Für deine Kinder. Alles. Und das ist nun der Dank dafür?«

  Du hast zwei Möglichkeiten, Link. Du kannst hier herumhocken und auf die Welt schimpfen. Du kannst wütend sein auf Jasper, auf deine Freundin. Oder du nimmst die Dinge selbst in die Hand.

  »Du hast leicht reden«, sage ich bitter. Doch ich weiß, dass es stimmt. Natürlich habe ich nichts davon, mich hier in Selbstmitleid zu suhlen. Aber mir fehlt die Kraft. Wofür sollte ich die Dinge selbst in die Hand nehmen? Wofür weitermachen?

  Du bist stärker, als es im Moment scheint.

  »Das sagst du immer. Das hast du auch über dich gesagt, als du krank wurdest. Und dann warst du es nicht.« Ich denke an Weston und Maya, die keine Mutter mehr haben. An meine Eltern, die nur noch einen Sohn haben. Und was für eine Enttäuschung von Sohn. Ein Sohn, der stark sein sollte – für sie. Für Weston und Maya. Und da wird mir bewusst, dass ich mich aufraffen muss. Es ist egal, ob Jasper etwas mit mir zu tun haben will. Ob die Band Geschichte ist. Für meine Familie muss es weitergehen.

  Siehst du? War das so schwer?

  »Das ist es immer noch«, sage ich in die Stille hinein.

  45

  Franzi

  Verschiedene Dinge werden mir in den ersten Tagen in Deutschland klar. Und ich zähle sie. Zähle bis zehn. Denn erst bei zehn weiß ich, dass ich eine vernünftige Entscheidung treffe.

  Vom Flughafen nehme ich mir ein Taxi direkt ins Krankenhaus. Ich habe kaum geschlafen und stehe vollkommen neben mir. Ich freue mich zwar, meine Mutter und meinen Bruder zu sehen, fühle mich aber dennoch fehl am Platz. Als sollte ich hier nicht sein. Und so ist es ja auch, denke ich. Eigentlich sollte ich in New Orleans sein. Wo es warm ist. Hier ist es kalt. Herbstlich nasskalt.

  Eins, denke ich, als ich aus dem Nieselregen in das Taxi steige.

  Im Radio läuft irgendein deutscher Popsong, der klingt wie alle anderen deutschen Popsongs. Eine Männerstimme singt davon, dass man die Welt umarmen, auf der Erde tanzen und Hand in Hand durchs Leben
gehen sollte. Ja, das stimmt. Aber ich fühle es nicht. Ich muss an meine erste Begegnung mit Hugo und Faye denken. An die Autofahrt vom Louis-Armstrong-Flughafen in den Garden District. Daran, wie Hugo Fayes Radiomusik verurteilt hat und wie ich nun, sieben Monate später, verstehe, was er meint. Ich denke an After Hours und all die anderen Bands. Aber vor allem an After Hours. Daran, dass ich es bei ihnen gespürt habe. Was auch immer sie gespielt haben, ich habe ihnen geglaubt, dass dies der Ausdruck dessen ist, was sie sagen wollen, was sie spüren.

  Zwei, denke ich und bitte den Taxifahrer, das Radio leiser zu drehen.

  Im Krankenhaus frage ich am Empfang nach der Zimmernummer meiner Mutter. Ich habe Adrian zwar auf meiner Fahrt hierher ein paar Nachrichten geschrieben, doch ebenso wie Link reagiert er nicht. Die mittelalte Frau hinter der Glasscheibe nimmt keine Notiz von mir. Stattdessen klemmt sie sich gelangweilt einen Telefonhörer unter ihre drei Kinne und beginnt ein offensichtlich privates Gespräch mit jemandem namens Rita.

  Ich warte. Ich warte länger. Die alte Franzi hätte vermutlich bis in alle Ewigkeit hier gewartet. Aber die neue Franzi, Frenzy, ist müde. Sie ist schlecht gelaunt. Sie will ihre Mutter sehen, die einen Unfall hatte. Beim Gedanken an meinen New-Orleans-Namen verknotet sich etwas in mir drin. Dafür habe ich im Augenblick allerdings keine Energie. Ich muss mich auf das fokussieren, was vor mir liegt.

  »Entschuldigen Sie«, sage ich. »Ich brauche wirklich nur kurz eine Zimmernummer.«

  Die Frau hinter der Scheibe hebt den Finger, wie um mir zu bedeuten, dass ich mich noch einen Moment gedulden solle. Und natürlich gebe ich ihr einen Moment. Doch aus dem Moment werden zwei und drei. Vier und fünf. Unzählige von Momenten, während derer ich hier stehe und mich ärgere.

  »Bitte«, sage ich nach ein paar Minuten. »Sie müssen doch nur in Ihrem Computer nachsehen.«

  Die Kinn-Frau funkelt mich wütend an. »Sie sind dran, wenn Sie dran sind«, erklärt sie mir langsam und überdeutlich, als wäre ich ein dummes kleines Kind. »Und gerade sind Sie’s nicht. «

 

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