Wie dumm von mir.
Warum hätte er kommen sollen? Ich habe keine Ahnung, wie er seine Tage mittlerweile verbringt. Wie sein Leben aussieht, nun, da ich nicht länger ein Teil davon bin. Diesen Teil von mir habe ich abgeschnitten, als ich die Grenze von Los Angeles County überquerte und nach Osten fuhr … Ich fuhr, bis mir auf dem Weg nach Cape Cod buchstäblich das Land ausging und ich in einer kleinen Stadt landete, die so ruhig ist, dass der Strandhafer, der auf den Dünen im Wind weht, dort über viele Kilometer hinweg das lauteste Geräusch ist.
Doch ich war immer noch nicht weit genug gefahren, um meinen Erinnerungen zu entkommen.
Vorhin kam ganz Nashville zusammen, um sich von der großen Bethany Hayes zu verabschieden – zumindest diejenigen unter den Bewohnern, die singen können oder etwas von Musik verstehen. Alte Freunde, treue Fans. Musiker und Barbesitzer und Ikonen der Musikindustrie. Mein Herz verkrampfte sich, als ich Isaac entdeckte, den Besitzer des Nightingale, der mal für eine Weile mein Chef gewesen war. Er schien sich in seinem Anzug absolut unwohl zu fühlen und drückte sich am Rand der Menge herum, während er darauf wartete, dass der Priester mit der Zeremonie anfing. Carly, meine Freundin und ehemalige Kollegin, sah in ihrem ärmellosen dunkelgrauen Kleid ernst und blass aus, als sie sich hinter ihn stellte.
Mit angehaltenem Atem beobachtete ich, wie sich der kleine Bereich mit Klappstühlen langsam mit Verwandten füllte, die ich vor vielen Jahren kennengelernt hatte, bevor meine Großmutter krank geworden war und meine Eltern alle Verbindungen zum Rest der Familie abgebrochen hatten. Ich stellte fest, dass ich darauf wartete, dass zwei mir vertraute Gestalten mittleren Alters unter den versammelten Trauergästen auftauchen würden.
Da ist meine Tante Kim mit ihrem neuen Mann … Da ist meine Cousine Devyn mit ihrer Freundin … ein paar Familienmitglieder, an deren Namen ich mich nicht erinnern kann … die frühere Haushälterin meiner Großmutter … ihr langjähriger Anwalt Jerry …
Aber sie waren nicht da.
Die zwei Menschen, die mich großgezogen haben, sind nicht aufgetaucht.
Vielleicht ist »großgezogen« nicht gerade die passende Bezeichnung. Sie haben mich nicht großgezogen. Sie haben mich geschmiedet, wie Feuer eine Stahlklinge schmiedet. Meine Kindheit war ein einziges Höllenfeuer, das mich trotz größter Bemühungen, mich zu Asche und Knochen zu verbrennen, stärker machte.
Die Tatsache, dass sie nicht aufgetaucht sind, hat mich überrascht. Mehr als sie es gesollt hätte. Meine Eltern haben nie viel von Familienbande gehalten – wie man unschwer daran erkennen konnte, wie sie jeden ihrer Angehörigen eiskalt übergehen wollten, als sie mit blinder Besessenheit darauf aus waren, das Vermögen meiner Großmutter unter ihre Kontrolle zu bringen, nachdem bei ihr Demenz diagnostiziert worden war.
Es ist besser, dass sie nicht gekommen sind. Ich habe sie seit meiner Abreise aus Hawkins zwei Tage nach meinem achtzehnten Geburtstag nicht mehr gesehen. Damals stieg ich in einen Bus, der nach Nashville fuhr, und die Wut, die ich in diesem Haus erfahren hatte, steckte mir immer noch in den Knochen. Abgesehen von einem einzigen Anruf, mit dem mich mein Vater im Nightingale überraschte und mir somit auf bedrohliche Weise vor Augen führte, dass er mich immer finden würde, egal wie weit ich davonlaufe –, hatten wir keinerlei Kontakt.
Und genau dabei sollte es meiner Meinung nach auch bleiben.
Als ich endlich das Auto erreiche, strecke ich eine Hand nach dem Türgriff aus und bin in Gedanken bereits damit beschäftigt, wie lange ich brauchen werde, um zurück zum Flughafen zu fahren. Jerry Perry, der langjährige Anwalt meiner Großmutter, hat mich gebeten, in seiner Kanzlei vorbeizuschauen, bevor ich die Stadt verlasse. Ich hoffe, dass das, was er mit mir besprechen will, nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Mein Flug zurück nach Boston geht in sechs Stunden. Wenn ich ihn verpasse, werde ich hier bis morgen früh festsitzen.
Meine Finger verharren am Türgriff, als ich das unverkennbare Geräusch von Schritten höre, die sich knirschend über den Kiesweg bewegen, und jemand hinter der Baumreihe hervortritt und um den Kofferraum meines Autos herumgeht. Ein Schatten fällt auf meinen Rücken. Sofort stehen mir sämtliche Haare zu Berge, während mein Verstand alle Möglichkeiten durchgeht, wer dort hinter mir stehen könnte …
»Felicity?«
Das Herz klopft mir bis zum Hals, als ich herumwirbele. Ich habe die Finger bereits um meinen Schlüsselbund gelegt und bereite mich auf einen blitzschnellen Schlag auf die Augen oder einen kräftigen Hieb in den Magen vor. Ich erstarre, als ich sehe, dass es weder ein Paparazzo, der mir eine Kamera ins Gesicht hält, noch eine ähnlich unangenehme Alternative ist. Vor mir steht ein Fremder in einem marineblauen Anzug – er ist Anfang dreißig, schlank gebaut und trägt eine Drahtgestellbrille. Sein Blick ist rasiermesserscharf, als er mein Gesicht, mein Haar und meine Augen mustert, die hinter einer großen dunklen Sonnenbrille verborgen sind.
»Felicity Wilde?«
Ich antworte nicht – ich stehe da wie angewurzelt und fühle mich vollkommen entblößt. Er wertet mein Schweigen offenbar als eine Art unausgesprochene Bestätigung, denn er zieht blitzschnell einen großen weißen Umschlag aus seiner Aktentasche und drückt ihn mir in die Hand.
»Das Schreiben wurde hiermit offiziell zugestellt«, sagt er unverblümt und macht auf dem Absatz kehrt, noch bevor die Worte seinen Mund vollständig verlassen haben. Er geht ein paar Schritte, bleibt aber noch einmal stehen und schaut zurück, um mich von Kopf bis Fuß zu mustern. Er betrachtet mein schwarzes Kleid und mein verweintes Gesicht.
»Und … mein Beileid«, fügt er hinzu, als wäre ihm gerade erst aufgefallen, dass es unangemessen sein könnte, jemandem auf einem Friedhof offiziell Dokumente zu übergeben.
Anwälte. Was für ein gefühlskalter Haufen.
Ohne ein weiteres Wort der Erklärung verschwindet er über die staubige Straße in Richtung des schmiedeeisernen Tors, wo ein schwarzes Auto halb verdeckt in den länger werdenden Nachmittagsschatten steht. Halb gelähmt vor Fassungslosigkeit schaue ich auf den Umschlag in meinen Händen. Sofort erkenne ich das Logo in der rechten Ecke sowie den Namen auf dem Absenderaufkleber.
Francesca Foster
Seniorpartner
Route 66 Records
Meine Plattenfirma verklagt mich.
Und da dachte ich tatsächlich, dass dieser Tag nicht noch schlimmer werden könnte …
2. KAPITEL
Ryder
Meine Arme teilen das Wasser mit geübten Bewegungen und tragen mich über die Wellen hinweg. Hier draußen ist das weiße sandige Ufer fast nicht mehr zu erkennen, und das tosende Meer schlägt hohe Wellen. Manche von ihnen sind über drei Meter hoch oder sogar noch höher, wenn mehr Wind aufkommt.
Ich erwische ein paar Wellen und paddele wieder zurück aufs Meer hinaus. Jedes Mal wage ich mich weiter und weiter vor und hoffe halb, dass mich eine kräftige Strömung packen und unter die Wasseroberfläche ziehen wird. Ich lasse den Blick über den Horizont schweifen, über diese endlose Weite des Pazifiks, den ich die vergangenen sechs Monate über mit trostlosen Augen angestarrt habe. Die Sonne ist ein Feuerball, der immer tiefer am Himmel sinkt und das Meer in einen rot-orange glühenden Spiegel verwandelt. Hinter mir ragen nebelverhangene Klippen in den Himmel auf wie gezackte grüne Messer.
Man muss schon zugeben, dass das die schönste Tageszeit zum Surfen ist – und auch die gefährlichste. Mehr als einmal habe ich glatte graue Rückenflossen erblickt, die um das Riff herum ihre tödlichen Runden drehen, während ich in der Dämmerung auf Wellen warte.
Essenszeit.
Die meisten anderen Surfer waren klug genug, bereits wieder an Land zu paddeln, ich jedoch mache keinerlei Anstalten, ihnen zu folgen. Vielleicht gefällt einem Teil von mir der Gedanke, dass der Tod langsame Kreise um mich zieht, während ich hier auf der Oberfläche treibe. Vielleicht ist das das Einzige, was in letzter Zeit noch dafür sorgen kann, dass ich etwas empfinde. Denn obwohl das Wasser über fünfundzwanzig Grad warm ist, obwohl meine Tage voller Sonnenschein und meine Näc
hte heiß wie die Hölle sind … ist dieser Eisklotz, der seit fast zwei Jahren in meiner Brust feststeckt, nicht geschmolzen. Nicht mal ein kleines bisschen.
Hinter mir ertönt ein Plätschern im Wasser – eine Delfinschule durchbricht die Wasseroberfläche. Ich mache mir nicht die Mühe, mich herumzudrehen, um sie mir anzuschauen. Diese großen Tümmler sind nie weit entfernt, und ihre fröhlichen Gesichter und verspielten Luftsprünge stellen einen krassen Gegensatz zu dem gottverdammten Elend dar, das mich auffrisst. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich schwören, dass sie nur als glücklich verliebte Paare umherschwimmen und ihre Babys wie graue Blitze hinter ihnen hersausen. Ich bin schon seit so vielen Stunden hier draußen, dass meine Finger ganz schrumplig sind und meine Lippen vor Flüssigkeitsmangel aufplatzen. Ich weiß, dass ich zurück zum Strand paddeln sollte, aber das kann ich nicht. Nicht bis ich so erschöpft bin, dass ich auf meinem Bett zusammenbrechen und in einen traumlosen Schlaf fallen werde, der so tief ist, dass mich sogar meine Erinnerungen nicht wachrütteln können. Bis ich so viel Energie verloren habe, dass mein Verstand nicht mehr in der Lage ist, den Geist heraufzubeschwören, der mich jede Nacht heimsucht – ihr Gesicht neben meinem auf dem Kissen, ihr Haar, das sich im Mondlicht ausbreitet. Funkelnde goldfarbene Augen und ein vorsichtiges Halblächeln.
Ob ich nun schlafe oder wach bin, es gibt keine Erholung. Ich sehe ihre Schönheit in jedem Sonnenaufgang, ich höre ihre Stimme im Wind, der in den Bäumen raschelt. Ich werde von einem Traum heimgesucht, den ich nie wieder besitzen werde.
Ich lebe in einem Albtraum, dem ich nie entrinnen werde.
Als meine Arme wie tote Last an meinen Seiten hängen und vom stundenlangen Paddeln brennen, nutze ich noch eine letzte Welle. Die perfekte Pipeline umgibt mich wie ein Wassertunnel, während ich die Welle bis in die Untiefen reite. Als ich den Strand erreiche, ist die Sonne beinahe untergegangen. Ich löse die Klettverschlussleine von meinem Knöchel und klemme mir das Surfbrett unter den Arm.
Überrascht stelle ich fest, dass auf dem nicht asphaltierten Standstreifen ein weiteres Auto neben dem aufgebockten Jeep Wrangler geparkt hat, der zu dem Haus gehört, in dem ich wohne. Diese Bucht ist ziemlich abgelegen, ein unverdorbener Zufluchtsort für Einheimische, die den Strandliegen und Sandburgen, den Bierkühlern und Ghettoblastern, aus denen schlechte Musik dröhnt und die die beliebteren sandigen Abschnitte an der Küste ruiniert haben, entkommen wollen.
Als ich näher komme, steigen zwei Teenagerinnen aus der blauen Hecktüröffnung und machen sich daran, Fotos vom Sonnenuntergang über dem Wasser zu schießen, während ihre Mutter am Steuer wartet und die frische Klimaanlagenluft sowie vermutlich die Pause von dem ständigen Geplapper ihrer Töchter genießt. Ihrem starken Akzent, der auf eine Herkunft aus dem mittleren Westen schließen lässt, sowie der sonnenverbrannten Haut nach zu urteilen, sind sie Touristen, die Urlaub auf Hawaii machen. Ich frage mich, wie sie diesen Strand gefunden haben. Die meisten Besucher bleiben in der belebten Umgebung von Waikiki und verlaufen sich nie in die vom Tourismus unberührten Ecken von Oahu.
Ich werde mir eine neue Stelle suchen müssen, wenn diese hier plötzlich beliebt wird.
Verdammte Touristen.
Ich stelle keinen Augenkontakt her, als ich mein Surfbrett auf den Rücksitz des Jeeps werfe und mir ganz unten aus dem Kofferraum ein ausgeblichenes T-Shirt schnappe. Es riecht nach Salz und Schweiß, aber ich ziehe es mir trotzdem über den feuchten Oberkörper. Dann schüttele ich mir das Wasser aus meinen zu langen Haaren wie ein Hund nach einem Bad. Ich habe mir seit einem halben Jahr nicht mehr die Mühe gemacht, es zu schneiden – die Spitzen streifen in der Ozeanbrise meine Schultern.
Ich sehe absolut nicht wie ich selbst aus. Nichts an mir gleicht dem Mann, der ich einst war, als mein Gesicht noch auf jeder Klatschzeitschrift abgebildet war und meine Eskapaden in betrunkenem Zustand die Polizeiakten füllten. Deswegen bin ich auch so überrascht, als mir die beiden Teenagerinnen plötzlich den Weg versperren. Sie haben ihre strahlenden Augen fest auf mein bärtiges Gesicht gerichtet und wirken gleichermaßen neugierig und aufgeregt.
»Oh mein Gott«, keucht die rechte. »Du bist … Bist du …?«
Ich verspüre einen Anflug von Verärgerung. Sofort weiche ich den beiden aus und schwinge mich mit einer Hand an der oberen Querstrebe auf den türlosen Fahrersitz. Ich fische den Schlüssel aus dem Handschuhfach und stecke ihn hastig ins Zündschloss.
»Hey! Bist du nicht der Typ von …?«
»Nein.« Mit einem Brummen lasse ich den Motor an, damit sie die Frage nicht beenden können. »Ich bin niemand.«
»Warte! Du bist …«
Ich habe kaum den Gang eingelegt, da fahre ich auch schon von dem staubigen Standstreifen auf die schmale Straße und lasse die Mädchen mit verblüfften Mienen auf den noch unschuldigen Gesichtern zurück. Meine eigenen Worte verfolgen mich auf dem gesamten Rückweg quer über die Insel zu der Villa auf den Klippen, in der ich die letzten sechs Monate damit verbracht habe, mich vor meinem Leben zu verstecken. Ich hatte die vergebliche Hoffnung, dass ich vollkommen von der Bildfläche verschwinden würde, wenn ich nur lange genug fortbleibe.
Ich bin niemand.
Nicht mehr.
3. KAPITEL
Felicity
Jerry Perry sitzt hinter einem riesigen Mahagonischreibtisch in einem Büro, das stark nach Pfeifentabak und Leder riecht.
Er trägt immer noch den Anzug, den er auf der Beerdigung anhatte, und gibt darin ein Musterbeispiel an altem Südstaatencharme ab mit seinem langsam grau werdenden Schnurrbart, dem dunkelgrau karierten Jackett und der knallroten Fliege. Er erhebt sich, als mich seine Sekretärin in sein Büro führt. Auf seinen runden, freundlichen Zügen breitet sich ein Lächeln aus.
»Felicity!« Er umfasst meine Hand mit einem warmen, beruhigenden Griff. »Es tut mir so leid, Schätzchen. Ihre Oma …« Er schüttelt den Kopf. »Menschen wie Bethany gibt es heute nicht mehr. Sie hatte einfach Klasse. Die Welt ist ohne sie ärmer geworden.«
»Danke, Jerry.« Meine Augen brennen. Dieser Mann hat mit meiner Familie zu tun, solange ich mich erinnern kann. Meine Großmutter vertraute nur ihm, wenn es um die Verwaltung ihrer Finanzen ging – selbst nachdem sie krank geworden war.
»Setzen Sie sich, setzen Sie sich.« Er deutet auf den gepolsterten Lehnstuhl, der ihm gegenübersteht, und nimmt selbst an seinem Schreibtisch Platz. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie vorbeigekommen sind. Ich weiß, dass sie am Telefon sagten, dass sie nur für ein paar Stunden in der Stadt sein würden.«
»Mein Flug geht um zwanzig Uhr.«
»Dann werde ich direkt zum Punkt kommen.« Seine hellblauen Augen schimmern im dämmrigen Licht. »Sicher fragen Sie sich, warum ich Sie hergebeten habe.«
»Wenn es um die Beerdigungskosten geht …« Meine Wangen werden plötzlich ganz heiß. »Ich habe nicht viel gespart, aber ich werde helfen, so gut ich kann. Vielleicht kann ich das Geld in Raten bezahlen oder …«
Er schüttelt den Kopf. »Nein, nein, darum geht es gar nicht! Das ist alles bereits erledigt. Ihre Großmutter und ich haben schon vor Jahren Geld beiseitegelegt, um diese Kosten abzudecken.«
»Oh.« Ich atme erleichtert aus. In letzter Zeit verdiene ich kaum genug, um ausreichend Geld für Lebensmittel zu haben. Das finanzielle Polster, das ich hatte, als ich L. A. verließ – der ursprüngliche Vorschuss, den ich von Route 66 erhielt –, ist so gut wie aufgebraucht, denn davon habe ich mir das Haus auf Cape Cod gekauft und den ganzen Betrag auf einmal bezahlt. Der Teilzeitjob, den ich ergattert habe – ich sortiere dreimal die Woche Bücher in der örtlichen Bücherei –, hilft mir dabei, über die Runden zu kommen. Aber so bald werde ich nicht auf der Liste der reichsten Leute unter dreißig stehen.
Da ist allerdings noch etwas anderes, das dafür sorgen könnte, dass du doch noch auf dieser Liste landest, meldet sich eine nagende Stimme in meinem Hinterkopf zu Wort. Diese ganzen Wildwood-Tantiemen liegen einfach so auf einem Bankkonto von Route 66 herum und warten auf dich … Wenn du sie nur anrufen würdest … um sie w
issen zu lassen, wohin sie das Geld überweisen sollen.
Ich schüttle den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. Dieses Geld ist an ganz konkrete Bedingungen geknüpft. Und wenn man den bösen Brief vom Anwalt bedenkt, der gerade ein Loch durch meine Handtasche brennt, vermute ich, dass mir die Plattenfirma das Geld nicht so einfach aushändigen und mich ungeschoren davonkommen lassen wird.
Jerry räuspert sich und blättert durch ein paar Papiere auf seinem Schreibtisch. »Wie dem auch sei … Wie Sie zweifellos wissen, hat Ihre Großmutter einen Großteil des Sachvermögens bei dem Brand vor zehn Jahren verloren.«
Ich nicke.
»Zum Glück blieb ihr Bankkonto von einen solchen Schicksalsschlag verschont.« Er lacht und schüttelt ungläubig den Kopf. »Bethany gab kaum einen Penny von ihren Tantiemenzahlungen aus, abgesehen von dem Geld, das sie benötigte, um für ihre medizinische Versorgung aufzukommen. Deswegen gab es in den letzten paar Jahren, wie Sie sicher wissen, einige interne Streitigkeiten innerhalb Ihrer Familie. Es ging darum, wer im Fall ihres Todes die Kontrolle über ihr Vermögen erhalten sollte.«
Ich verziehe das Gesicht zu einer Grimasse. Interne Streitigkeiten. Das ist zweifellos ein Euphemismus für den offen geführten blutigen Krieg, der seit Großmutters Diagnose entfacht ist. Und meine Eltern sind an vorderster Front, während meine Tante mit ihrem Mann im gegenüberliegenden Schützengraben liegt. Und ich gehe in Deckung vor den schlimmsten Beschüssen, denn ich befinde mich mitten in einem Kampf, an dem ich nie teilnehmen wollte.
Jerry seufzt. »Leider sind Situationen wie diese nicht unüblich, wenn ein Verwandter mit Berühmtheitsstatus im Spiel ist. Die Leute …«
Werden zu gierigen, geldsüchtigen Geiern.
»… entwickeln ein übermäßiges Interesse«, sagt er taktvoll.
Ich starre ihn an. »Mr Perry, es tut mir leid, aber ich verstehe wirklich nicht, was das mit mir zu tun hat. Meiner Tante Kim wurde vor vielen Jahren die Vollmacht über das Vermögen meiner Großmutter erteilt … Falls es ein Problem gibt, denke ich, dass Sie am besten mit ihr darüber sprechen sollten …«
Faded Duet 2 - Faded - Wenn alles stillsteht Page 2