Faded Duet 2 - Faded - Wenn alles stillsteht

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Faded Duet 2 - Faded - Wenn alles stillsteht Page 3

by Julie Johnson


  »Felicity, meine Liebe. Es gibt kein Problem.« Er lacht. »Sie haben recht damit, dass das Gericht Ihrer Tante die Vollmacht über die Pflege und die medizinischen Entscheidungen in Bezug auf Ihre Großmutter erteilt hat. Aber der Rest ihres Vermögens – ihr beträchtlicher Besitz – wurde auf ein Treuhandkonto eingezahlt.«

  Ich ziehe die Augenbrauen hoch.

  »Trotz der Krankheit, die ihr ihre Erinnerungen raubte, bekam Ihre Großmutter zumindest teilweise noch mit, was für ein, sagen wir, frostiges Klima zwischen ihren zwei Töchtern herrschte. Deswegen bat sie mich, den Inhalt ihres Testaments bis zu ihrem Ableben unter Verschluss zu halten.« Sein starker Südstaatenakzent verkümmert zu einem leichten Murmeln. »Wenn Sie gestatten, würde ich Ihnen diesen Inhalt nun gerne zur Kenntnis bringen.«

  Beim Gedanken daran, Worte zu hören, die meine Großmutter zu Papier gebracht hat – selbst wenn es nur Rechtsjargon ist, – schlägt mein Puls schneller. Unfähig etwas zu sagen, nicke ich nur.

  Jerry schiebt sich eine breitrandige Lesebrille auf die Nase und nimmt ein Blatt Papier vom Schreibtisch. Seine Stimme klingt warm, als er vorliest, was darauf geschrieben steht.

  Ich, Bethany Hayes, wohnhaft in Tennessee, verkünde hiermit im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und Erinnerungsfähigkeit, dass dies mein letzter Wille und mein Testament sein soll.

  Meiner Enkelin Devyn Hayes hinterlasse ich eine Summe in Höhe von fünfzigtausend Dollar, die der Finanzierung ihrer Hochschulausbildung dienen soll, die sie dringend nötig hat, denn Bloggen ist kein Beruf, was auch immer sie mir weiszumachen versucht.

  Meinen Töchtern Kim Hayes und Kandace Wilde hinterlasse ich den sehnlichen Wunsch, dass ihr eines Tages in der Lage sein werdet, mir meine Fehler zu vergeben – und dass ihr einander trotz eurer eigenen Fehler lieben werdet.

  Meinem Schwiegersohn Terrence Wilde hinterlasse ich absolut gar nichts, denn er hat meiner Familie bereits viel zu viel genommen.

  Und schließlich hinterlasse ich meiner Enkelin Felicity Wilde mein gesamtes restliches Vermögen, einschließlich jeglicher zukünftiger Tantiemenzahlungen sowie sämtliche Bankkonten. Dazu kommen die vierzig Morgen Land, auf denen einst mein Haus stand, sowie alle verbliebenen persönlichen Gegenstände, die immer noch als Staubfänger in irgendeinem Lager stehen – unter der Bedingung, dass sie diese alte Gitarre wegwirft, die sie ständig mit sich herumschleppt, und sich ein anständiges Instrument zulegt, um darauf zu spielen. Ich denke, dass sich meine blaue Gibson gut dafür eignen sollte.

  Sing weiter, Felicity. Du bist ein Licht in der Dunkelheit.

  Hiermit unterzeichne ich dieses Dokument mit all meiner Liebe,

  Bethany Hayes

  Jerry legt das Blatt Papier zur Seite und sieht mich über den Rand seiner Lesebrille hinweg an. Ein gedankenverlorenes Lächeln lässt seinen Schnurrbart zucken. Ich sitze stocksteif da, unfähig, die Worte, die er gerade vorgelesen hat, zu verarbeiten.

  »Ihre Großmutter hatte schon immer einen Hang zur Theatralik.« Er zuckt leicht mit den Schultern. »Haben Sie irgendwelche Fragen an mich?«

  Ich stoße einen erstickten Laut aus. Mein Atem scheint in meiner Lunge festgefroren zu sein.

  »Mary!«, ruft Jerry seiner Sekretärin zu. »Könnten Sie Miss Wilde bitte ein Glas Wasser bringen? Sie sieht aus, als würde sie jeden Moment umkippen.«

  Er hat nicht ganz unrecht.

  Einen kurzen Moment später, nachdem ich einen Schluck Wasser getrunken und mich gesammelt habe, bin ich endlich in der Lage, einen ordentlichen Satz zu bilden.

  »Sie hat mir alles hinterlassen?«

  Er nickt. »Abgesehen von dem Collegefonds für Devyn, der jedoch kaum zu Buche schlägt. Und da wir gerade von Beträgen reden …« Seine Augen leuchten auf, als er einen Blick auf einen Kontoauszug wirft. Als er die achtstellige Zahl vor der Kommastelle vorliest, rutscht mir das Glas aus den Händen, prallt am Teppichboden ab und spritzt Wasser auf meine zu engen Pumps.

  Ach du meine Güte.

  Jerry verbringt die nächste halbe Stunde damit, mir die Einzelheiten meiner Erbschaft zu erläutern – es ist ein endloser Strom aus Bankkonten, Bankleitzahlen, Bestandslisten und Landflächen. Ich versuche, meine ganze Aufmerksamkeit darauf zu richten, aber mein Verstand fühlt sich zu träge an, um diese überraschende Wendung zu verarbeiten.

  Ich bin wohlhabend.

  Mehr als wohlhabend – ich bin außerordentlich, beinahe auf anstößige Weise reich.

  Und all diese Geier, die in den letzten zehn Jahren über Omas Kopf gekreist sind in der Hoffnung, dass sie ihr Leben bald aushauchen wird, damit sie sich endlich auf sie stürzen und sich ihren Anteil an der Beute sichern können … Die haben nichts bekommen.

  Nichts.

  Trotz ihrer lautstarken Auseinandersetzungen und Kämpfe vor Gericht, trotz ihrer Manipulationen und bissigen Worte … wurden meine Eltern, meine Tante und all die anderen Verwandten, die aus ihren Löchern gekrochen sind wie giftiger Schimmel, als sie die Chance witterten, eine kranke alte Frau auszunehmen …

  Übergangen.

  Aus dem Testament gestrichen.

  Ich frage mich, ob sie überhaupt je dringestanden haben.

  »Oh, sie standen im Testament«, sagt Jerry, und ich zucke zusammen, denn mir war gar nicht klar, dass ich die Frage laut ausgesprochen hatte. »Ihre Großmutter ließ sie daraus streichen, als sie ins Pflegeheim kam. Sie wusste, dass es um ihre Gesundheit nicht gut bestellt war, und auch wenn ihre Töchter versuchten, ihre schlimmsten Streitereien vor ihr zu verbergen, war Bethany vollkommen klar, wie sehr sie sich das Leben gegenseitig zur Hölle machten.« Er hält inne. »Und damit auch Ihnen.«

  Plötzlich brennen meine Augen wieder.

  »Falls es Sie tröstet, Felicity, Ihre Großmutter war eine meiner liebsten Mandantinnen. Eine Freundin. Und ich weiß, wie sehr sie darunter litt, Sie schutzlos in diesem Haus zurückzulassen. Ich denke, dass das hier vielleicht … ihre Art ist, diese Schuld bei Ihnen wiedergutzumachen – auf die einzige Weise, die ihr möglich war.«

  Ich beiße mir auf die Unterlippe und konzentriere mich auf den Schmerz, während ich darum ringe, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Ich werde später zusammenbrechen. Wenn ich allein bin. Wenn niemand da ist, um Zeuge der heftigen Qual zu werden, die in mir tobt.

  Jerry räuspert sich erneut. »Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich immer für Sie da bin, wenn Sie Hilfe brauchen – ob bei rechtlichen Angelegenheiten oder was auch immer.«

  Seine Freundlichkeit gibt mir fast den Rest. Ich wende den Blick von seinem Gesicht ab und klammere mich verzweifelt an meinen letzten Fetzen Haltung. Mit schimmernden Augen starre ich auf meine Handtasche – und auf den weißen Umschlag, der daraus hervorlugt.

  »Eigentlich …« Meine Finger zittern, als ich sie um das Schreiben von Route 66 lege. »Gibt es da tatsächlich etwas, wobei ich Hilfe gebrauchen könnte …«

  Jerry schaut sich das mehrseitige Schreiben sorgfältig an. Während er die Seiten durchgeht, wird die Sorgenfalte zwischen seinen Augenbrauen immer tiefer. Ich rutsche unruhig auf meinem Stuhl hin und her, während ich auf das Urteil warte, und werde mit jeder Minute, die vergeht, angespannter.

  Als er endlich bei der letzten Seite angekommen ist, seufzt er und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. Er zwickt sich in den Nasenrücken, als würde sich bei ihm eine Migräne ankündigen.

  »Und?«, frage ich zaghaft, da ich nicht länger in der Lage bin, mich zurückzuhalten. »Wie schlimm ist es?«

  »Hätten Sie gern die verharmlosende Variante oder die kalten, harten Fakten?«

  »Ich brauche keine Verharmlosung.«

  »Sie sind genau wie ihre Großmutter.« Sein Lächeln wirkt ein wenig traurig. »Route 66 verklagt Sie wegen Vertragsbruchs.«

  »Aus welchem Grund? Ich habe ihnen das Album geliefert wie versprochen.«

  »Das Album, ja. Allerdings haben Sie sich laut diesem Dokument zu noch sehr viel mehr verpflichtet.« Als ich nichts erwidere, wird seine Stimme sanft. »Um
genau zu sein, zu einer sechsmonatigen Welttournee mit Wildwood.«

  »Aber das ist … Ich dachte nicht … Nein.« Ich schlucke. »Nein, das kann nicht sein. Sie können auf keinen Fall von mir erwarten, dass ich auf Tournee gehe! Nicht nach allem …«

  »Hören Sie, Felicity … Ich weiß nicht, was Sie dazu veranlasst hat, dieses Leben hinter sich zu lassen. Ich weiß nicht, warum Sie sich die letzten zwei Jahre vor der Öffentlichkeit versteckt haben oder wovor Sie weggelaufen sind. Ich weiß nur das, was in diesem Vertrag steht, und welche finanziellen Auswirkungen das hat.«

  »Und wie genau sehen die aus?«

  »Letztendlich läuft es auf Folgendes hinaus: Die Plattenfirma hat Ihre Unterschrift, mit der Sie zugestimmt haben, nach der Fertigstellung des Albums mit der Band auf Welttournee zu gehen. Dieser Teil der Abmachung wurde nicht eingehalten, also pochen sie jetzt auf ihr Recht – mit beträchtlichem Nachdruck, wie es scheint.« Er mustert mich vorsichtig. »Plattenfirmen wie Route 66 verfügen über eine Menge Geld, und sie mögen es nicht, auch nur einen Penny davon zu verlieren, wenn sie es verhindern können. Deswegen sind Sie ihnen ein Dorn im Auge, weil Sie einfach gegangen sind und damit ihre Pläne für eine enorm lukrative Reihe von Auftritten überall auf der Welt zunichtegemacht haben.«

  »Ich verstehe das nicht … Wie können Sie mich für eine Tournee verantwortlich machen, die nie stattgefunden hat? Sie haben meinetwegen doch kein Geld verloren! Sie mussten keine Veranstalter entschädigen und auch keine Roadies feuern …«

  »Das spielt keine Rolle. Es geht nur um den potenziellen Gewinn, den Sie ihnen hätten bringen können – Gewinn, den sie zu verbuchen hofften und der sich stattdessen in Luft auflöste, als Sie ihnen den Rücken zukehrten. Wenn man die Kartenverkäufe, das Merchandising und die Einnahmen durch die zusätzliche Werbung für das Album in Betracht zieht … haben sie über zehn Millionen Dollar Verlust gemacht. Und ihrer Ansicht nach, tragen Sie die Schuld daran.«

  Sämtliches Blut weicht aus meinem Gesicht. »Wie sehen meine Optionen aus?«

  »Sie können sich entweder vor Gericht mit ihnen anlegen und hoffen und beten, dass ein mitfühlender Richter in Ihrem Sinne entscheidet, nachdem er sich beide Seiten der Geschichte angehört hat … Oder Sie können zurückgehen.«

  »Zurückgehen?«, Meine Stimme bricht.

  »Nach Los Angeles.«

  »Sie meinen … Ich soll einwilligen, auf diese Tournee zu gehen?«

  Er nickt. »Oder zumindest sollten Sie mit den Leuten von der Plattenfirma reden. Um herauszufinden, ob Sie sich irgendwie einigen können, bevor alles den Bach runtergeht. Ich werde Sie gerne vertreten und Sie vor Gericht verteidigen, falls es dazu kommen sollte. Aber an Ihrer Stelle würde ich erst einmal alle anderen Optionen in Erwägung ziehen. Meiner Erfahrung nach lassen sich die meisten Gerichtsverfahren und Rechtsstreitigkeiten vermeiden, wenn beide Seiten ein wenig Kompromissbereitschaft zeigen. Sie würden staunen, wie viel Boden man sich mit offener Kommunikation zurückerobern kann.«

  Ich schweige. Zeige keinerlei Regung. Es ist erstaunlich, wie ruhig ich nach außen bin, wenn man bedenkt, dass die Welt um mich herum gerade zusammenbricht.

  Wieder einmal.

  »Die Tournee dauert nur sechs Monate«, gibt Jerry sanft zu bedenken. »Vielleicht könnten Sie sogar einen kürzeren Zeitraum aushandeln. Und sobald Sie Ihre vertraglichen Verpflichtungen erfüllt haben, können Sie der Plattenfirma den Rücken kehren – dieses Mal für immer. Denn es wird keine weiteren Gründe geben, Sie zu behelligen.«

  Das kann doch wohl nicht wahr sein.

  Mein Kopf schmerzt, und mein Puls pocht. Das ist zu viel, um es alles auf einmal zu verarbeiten. Ich versuche, etwas von der eisigen Ruhe heraufzubeschwören, die ich in den vergangenen zwei Jahren so effektiv um mein Herz gelegt habe. Doch das Eis zerbricht mit jedem heftigen Schlag gegen meinen Brustkorb ein wenig mehr. Mein Herz ist wie ein Tier, das sich nach einem langen, betäubenden Winterschlaf von seinen eisigen Ketten befreien will.

  »Nein«, keuche ich kaum hörbar. »Ich werde nicht dorthin zurückgehen. Ich kann nicht zurückgehen.«

  Nicht zu der Plattenfirma. Nicht zu diesem Leben. Nicht zu ihm.

  »Sollten Sie sich entscheiden, gegen die Klage anzugehen, werde ich mein Bestes tun, um Sie zu vertreten. Aber als Ihr Anwalt möchte ich es nicht versäumen zu erwähnen, dass ich Ihnen davon abraten würde, denn ich weiß aus eigener Erfahrung, wie solche Fälle normalerweise ausgehen.« Er rutscht auf seinem gepolsterten Lehnstuhl herum. »Ich kann sehen, wie sehr Ihnen die Vorstellung, nach Los Angeles zurückzukehren, zu schaffen macht, Felicity. Aber Sie haben einen unanfechtbaren Vertrag unterschrieben. Vor Gericht dagegen anzugehen wird nicht nur unschön und in aller Öffentlichkeit ausgefochten … es wird auch sehr viel Geld kosten. Am Ende könnten Sie alles verlieren, weil Sie es der Plattenfirma als Entschädigung zahlen müssen.«

  Mein Mund klappt auf, und ich mache Anstalten, ihm mitzuteilen, dass ich nichts Wertvolles habe, das man mir nehmen könnte … Doch die Worte lösen sich auf meiner Zunge in Nichts auf. Vor einer Stunde stimmte das noch. Ich hatte nichts, abgesehen von einem kleinen Haus mit nur einem Schlafzimmer an einem Küstenort. Und dieses Haus ist so heruntergekommen, dass selbst der geizigste Tourist die Finger davon lassen würde. Aber nun habe ich mein Erbe …

  Ich würde nicht die ärmlichen Ersparnisse auf meinem Girokonto verlieren. Ich würde das Vermögen verlieren, das mir meine Großmutter hinterlassen hat. Nicht nur ihr Geld, sondern auch ihr Land. Ihre Gitarrensammlung. Und vor allem ihre Hoffungen und Träume, dass ich dieses Geld für etwas Besseres verwenden würde als Gerichtsverhandlungen und Rechtsstreitigkeiten. Wenn Sie gewollt hätte, dass ihr Lebenswerk in den Taschen von Anwälten landet, hätte sie zugelassen, dass sich ihre Töchter bis aufs Blut um den letzten Penny streiten.

  Mein Magen wird bleibschwer, als mir klar wird, dass ich keine Wahl habe. Ich wurde in eine Ecke gedrängt, überlistet und überwältigt, und zwar von Leuten, die sehr viel geschickter darin sind, die Figuren auf diesem speziellen Schachbrett zu bewegen. Jerry sieht mir offenbar an, dass ich den Mut verliere, denn er beugt sich vor und drückt sanft meine Hand.

  »Sie sind Bethany Hayes’ Enkelin. Sie können das schaffen. Sie können alles schaffen.«

  Ich sage kein Wort. Ich klammere mich einfach nur an seine Finger, als wären sie das Einzige, was mich noch auf der Erde hält.

  »Nur ein paar Monate«, murmelt er. »Dann werden Sie ihre Freiheit wiederhaben. Für immer.«

  Als wäre das ein Trost.

  Als ich diese Stadt das letzte Mal betreten habe, reichten »ein paar Monate« für Los Angeles vollkommen aus, um alles zu zerstören, was mir lieb war. Beim letzten Mal genügten »ein paar Monate«, um meine Welt aus den Angeln zu heben und dafür zu sorgen, dass ich die Kontrolle über das Leben verlor, das ich mir Stück für Stück auf dem Fundament einer jungen Liebe und blauäugiger Naivität aufgebaut hatte.

  Ich will weinen.

  Ich will schreien.

  Ich will gegen das Schicksal wettern, das mich verhöhnt, während es mich zu den Scherben jenes zerbrochenen Traums zurückzerrt – zu den Scherben, die sich bereits in das Fleisch des verletzten Organs gebohrt haben, das viel zu schnell in meiner Brust schlägt, und es zum Bluten bringen.

  Doch ich tue nichts davon.

  Ich bin Bethany Hayes’ Enkelin.

  Ich werde ihr Erbe nicht entehren.

  Mein knallroter Lippenstift ist immer noch makellos. Ich straffe sie Schultern und schaue Jerry direkt in die Augen. »Darf ich mal Ihr Telefon benutzen? Ich muss die Fluggesellschaft anrufen und meinen Flug umbuchen.«

  4. KAPITEL

  Felicity

  Francesca Foster ist selten überrumpelt.

  Sie ist ein absoluter Kontrollfreak mit einer Vorliebe für Zahlen und dem Ruf, in der Musikindustrie erfolgreich zu sein. Sie war auch die treibende Kraft hinter Wildwoods erstem Album. Sie ist Anfang dreißig, wirkt meistens jedoch sehr viel älter, weil sie dem Leben und seinen
zahlreichen Problemen mit einem hohen Maß an Ernsthaftigkeit und kühlem Verstand entgegentritt. Seit unserer ersten Begegnung habe ich noch nie erlebt, dass auch nur eine Strähne ihres rotbraunen glatten, asymmetrischen Bobs aus der Reihe tanzt oder ihre Miene etwas anderes als kühle, unerschütterliche Gelassenheit widerspiegelt.

  … Bis zu dem Augenblick, in dem sie ihr gläsernes Eckbüro betritt und mich, mit den Füßen auf ihrem tadellos geordneten Schreibtisch, auf ihrem Stuhl sitzen sieht.

  »Felicity!« Schockiert mustert sie mich mit weit aufgerissenen Augen. Sie hat tatsächlich eine Hand an ihre Brust gehoben, so als hätte ich ihr beinahe einen Herzinfarkt beschert. »Was in aller Welt machen Sie hier?«

  Betont langsam nehme ich die Füße vom Schreibtisch, lehne mich auf ihrem Stuhl zurück und fixiere sie mit einem distinguierten Blick.

  »Was ich hier mache, Francesca? Soll das Ihr Ernst sein? Sie besitzen die Dreistigkeit, mich das zu fragen?« Meine Stimme ist kalt. Beinahe nicht wiederzuerkennen.

  »Sie haben Ihren Lakaien zur Beerdigung meiner Großmutter geschickt, damit er mir eine Gerichtsklage überreicht.«

  »Das war keine böse Absicht, was auch immer Sie denken mögen.« Sie seufzt tief, und eine Sorgenfalte ruiniert die glatte Haut zwischen ihren perfekt gezupften Augenbrauen. »Ich bedaure das Timing, aber Sie ließen mir kaum eine andere Wahl.«

  »Ich vermute, dass ich dankbar sein sollte, dass Sie ihn dreißig Sekunden lang warten ließen, bis sie unter der Erde war, anstatt ihn direkt am offenen Grab in meinen letzten Abschied platzen zu lassen, was?« Mein Lachen klingt höhnisch. »Das war ausgesprochen rücksichtsvoll von Ihnen.«

  Langsam durchquert sie das Büro und lässt sich mir gegenüber mit einer eleganten Bewegung auf den Stuhl vor dem Schreibtisch sinken. In ihrem maßgeschneiderten petrolfarbenen Kleid sieht sie unglaublich mondän aus. »Wie ich bereits sagte, bedaure ich das Timing. Aber die gestrige Beerdigung war das erste Mal in zwei Jahren, dass ich mit absoluter Sicherheit wusste, wo Sie sich aufhalten würden – wenn man bedenkt, dass Sie einfach so ohne ein Wort verschwunden sind und uns nicht mal eine Nachsendeadresse hinterlassen haben.«

 

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