Faded Duet 2 - Faded - Wenn alles stillsteht
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»In dreißig Sekunden werde ich mich umdrehen und davongehen, und das wird das letzte Mal sein, dass du mich je siehst. Du wirst mich nicht anrufen. Du wirst mich nicht kontaktieren. Du wirst mich nie wieder verfolgen.« Ich lehne mich vor. Mein Tonfall ist scharf wie ein Schwert, das die Luft zwischen uns in Streifen schneidet. »Andernfalls werde ich dafür sorgen, dass du diesen Fehler mit deinem Leben bezahlst, und jedem Wesen mit einer Polizeimarke und einer Schusswaffe erzählen, dass du eine unmittelbare Bedrohung für mich und mein Wohlergehen darstellst. Und falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Ich bin kein verängstigtes kleines Mädchen mehr, das du mit deinen Fäusten einschüchtern kannst, damit es den Mund hält. Ich bin Felicity Wilde. Und ich habe die Verbindungen und die Mittel, um dich hinter Gitter zu bringen – oder Schlimmeres –, falls du auch nur noch mal in meine Richtung blinzeln solltest.«
Nun grinst er nicht mehr.
»Du denkst, dass ich wie Oma bin? Das mag das Einzige sein, was du in deinem Leben je richtig erkannt hast. Denn Bethany Hayes war nicht schwach. Sie war stark. Sie war unverwüstlich. Und sie brachte mir bei, wie wichtig es ist, in der Dunkelheit weiterzustrahlen, statt sich von ihr erdrücken zu lassen.«
Ich wende den Blick von ihm ab und schaue zu York.
»Übergeben Sie ihn der Polizei. Sagen Sie ihnen, dass sein Name Terrence Wilde lautet, er aber manchmal auch die Decknamen Terry Dill und Terry Wylde benutzt, um seine Geschäfte zu tätigen. Sagen Sie ihnen, dass er den Staat Tennessee verlassen hat und damit gegen seine Bewährungsauflagen verstößt. Sagen Sie ihnen, dass er ganz tief in den Heroinhandel verstrickt ist und in den vergangenen vierundzwanzig Stunden höchstwahrscheinlich eine Ladung gekauft oder verkauft hat.« Ich seufze. »Und wenn das nicht ausreicht, um ihn für eine sehr lange Zeit in New Yorks berüchtigste Strafanstalt zu stecken und ihn dort wegzusperren, sagen Sie ihnen, dass sie mich anrufen sollen, damit ich ihnen in allen Einzelheiten beschreiben kann, was gerade eben in meinem Tourbus passiert ist und in wie viele vorangegangene Fälle von häuslicher Gewalt er verwickelt ist, die nicht bereits in seinem Vorstrafenregister stehen.«
York und Stevens nicken beide.
Ohne meinen Vater noch eines weiteren Blickes zu würdigen, drehe ich mich um und gehe auf die Aufzüge zu. Lincoln, Carly und Aiden flankieren mich und sagen kein einziges Wort, als wir in die Kabine steigen. Ich drücke auf den Knopf für die Penthouseebene und lege dann die Hände aneinander, damit sie nicht zittern.
»Bist du in Ordnung?«, flüstert Carly, als hätte sie Angst davor, die Stille zu durchbrechen. Als könnte ich jeden Moment zusammenbrechen, nachdem ich die letzten paar Minuten unter so großer Anspannung gestanden habe.
Ich werfe ihr einen Blick zu, schaue dann auch die Jungs an und versuche zu lächeln. »Tatsächlich … bin ich das. Ich bin mehr als in Ordnung. Ich fühle mich … irgendwie … frei.«
Sie schlingt die Arme um mich und drückt mich so fest, dass ich kaum noch atmen kann.
»Carly, du erwürgst sie«, warnt Aiden.
Sobald Carly mich losgelassen hat, zieht mich Lincoln an sich. Seine Umarmung ist sogar noch fester als ihre. Ich lache, da mich diese unerwartete Zurschaustellung von Zuneigung überrumpelt, und tätschele zaghaft seinen Rücken, während ich nach Luft schnappe.
»Du hast mir eine Heidenangst eingejagt, Fee«, murmelt er und spannt die Arme an.
»Linc, es geht mir gut. Ehrlich.«
»Lass ihr ein wenig Raum zum Atmen, du Idiot.« Aiden klingt so streng, dass der Schlagzeuger auf der Stelle gehorcht. Als ich wieder frei bin, legt er seine Hand auf meine Schulter und drückt sie kurz beruhigend. »Freut mich, dass es dir gut geht, Felicity.«
Ich nicke und lächle ihn an. Dann kommt mir plötzlich ein Gedanke, und ich runzle die Stirn.
»Wo ist Ryder?«
Sie alle schauen einander an und wirken besorgt. Schließlich ist Carly diejenige, die antwortet. »Ehrlich gesagt sind wir uns nicht sicher. Er war nicht im Penthouse, als wir hörten, dass du in Schwierigkeiten bist. Wir haben ihn auf dem Weg nach unten angerufen, aber er geht nicht an sein Handy. Jeder Anruf landet direkt auf der Mailbox.«
Unbehagen macht sich in mir breit, aber ich verdränge es.
Es geht ihm gut. Da bin ich mir sicher. Vermutlich ist er nur losgezogen, um sich eine Schachtel Zigaretten zu kaufen oder so was.
»Moment …« Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Was meinst du damit, dass ihr gehört habt, dass ich in Schwierigkeiten stecke? Wie habt ihr davon erfahren?«
Linc schnaubt. »Das waren wohl eher York und Stevens. Sie erhielten einen Anruf von Linden, der vom Sicherheitspersonal des Hotels darüber informiert worden war, dass ihnen auf ihren Überwachungsaufnahmen ein Gerangel an unserem Tourbus aufgefallen sei. Wir bekamen das Telefonat zufällig mit, da sie sich zu diesem Zeitpunkt in unserer Suite aufhielten, um nach versteckten Kameras und so einem Mist zu suchen.«
»Und da habt ihr beschlossen, die Helden zu spielen?«, frage ich ungläubig.
Er zuckt unbeeindruckt mit den Schultern.
»Das war nicht klug!« Ich schaue sie alle nacheinander an. »Ich kann nicht glauben, dass ihr euch alle so achtlos in Gefahr begeben …«
»Du warst in Schwierigkeiten«, sagt Carly einfach.
»Wir waren nicht bereit, abzuwarten und Däumchen zu drehen«, fügt Linc hinzu. »Nicht, wenn wir in der Lage waren zu helfen.«
»Nicht, dass du Hilfe gebraucht hättest.« Aidens Stimme ist warm. »Du, Felicity Wilde, warst heute ziemlich beeindruckend.«
Meine Augen füllen sich mit Tränen, während ich sie erneut anschaue.
Meine Band.
Meine Freunde.
Meine Familie.
28. KAPITEL
Felicity
Nach dem Zwischenfall mit meinem Vater fühle ich mich erstaunlich ruhig. Zumindest … bis wir gemeinsam aus dem Aufzug steigen, unser Penthouse betreten und es leer vorfinden.
Kein Ryder.
Erst nach einer halben Stunde fange ich wirklich an, mir Sorgen um ihn zu machen. Nach einer weiteren halben Stunde verfalle ich langsam in Panik.
Wo bist du?
Wo bist du?
Wo bist du?
Linc, Aiden, Carly und ich sitzen auf der Couchgarnitur und starren einander schweigend und besorgt an. Auf Ryders Handy erreichen wir immer nur die Mailbox. Unsere Reservierung fürs Abendessen haben wir längst verpasst. In drei Stunden soll das Konzert losgehen – wir werden uns schon bald auf den Weg zum Madison Square Garden machen müssen.
»Bist du dir absolut sicher, dass du heute Abend auftreten willst?«, fragt mich Carly zum tausendsten Mal.
»Ja.« Ich reibe meine Schläfen. »Wenn ich nicht auftrete, gewinnt mein Vater. Und ich lasse nicht zu, dass er mein Leben bestimmt – jetzt nicht mehr. Ich werde auf diese Bühne gehen und ich habe vor, dort verflixt noch mal das beste Konzert meines Lebens abzuliefern.«
Linc hebt sein Bier, um auf meine Verkündung anzustoßen.
Aiden raucht eine Zigarette nach der anderen und starrt auf die Uhr.
Unsere Sorge wächst, und da wir keine anderen Optionen haben, rufen wir das Sicherheitsteam. Sie haben sich gerade erst um unsere letzte Krise gekümmert und nun konfrontieren wir sie bereits mit der nächsten.
»Ryder ist verschwunden«, sage ich, sobald York und Stevens durch die Tür treten. »Er ist seit über einer Stunde nicht mehr gesehen worden. Ich mache mir Sorgen, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte.«
Die Wachleute tauschen bedeutungsvolle Blicke aus.
»Was?«, schnauze ich. »Was ist los? Geht es ihm gut? Hat mein Vater … Ist etwas passiert?«
»Nein, Ms Wilde.« York hat den Blick fest auf mich gerichtet. »Mr Woods geht es gut. Er befand sich während des Zwischenfalls nicht im Hotel. Smith ist bei ihm. Er hat uns gebeten, Ihnen allen zu versichern, dass er wie geplant am Veranstaltungsort sein wird.«
Ich atme erleichtert aus. »Oh. Also … geht es ihm gut? Er ist nicht ver
letzt und liegt auch nicht irgendwo in einer Gosse?«
»Nicht dass ich wüsste, Ma’am.« Stevens’ Augen funkeln. »Aber wenn Sie wollen, dass wir Smith um eine aktuelle Statusmeldung bitten, tun wir das sehr gerne.«
»Das wird nicht nötig sein.« Wieder atme ich erleichtert aus und lasse mich auf die Couch fallen. Mein Körper erschlafft vollends, als die Anspannung von mir abfällt. »Ich bin froh, dass es ihm gut geht. Tatsächlich bin ich froh, dass er nicht hier war. Wenn er meinen Vater gesehen hätte …« Ich schüttle den Kop. »Vermutlich hätte er ihn umgebracht.«
Linc schnaubt. »Er hätte ihn gefoltert. Und dann umgebracht. In dieser Reihenfolge.«
»Zuallererst hätte er ihn beschimpft. Dann gefoltert. Und dann umgebracht«, korrigiert Aiden. »In dieser Reihenfolge.«
Ich seufze, widerspreche ihren recht düsteren Prophezeiungen aber nicht. York und Stevens sind bereits wieder auf dem Weg zur Tür, als ich sie zurückrufe.
»Weiß Ryder bereits, was passiert ist?«, frage ich. »Hat Smith es ihm erzählt?«
»Nein, Ma’am.« Yorks Blick ist aufmerksam. »Wir dachten, dass wir das lieber Ihnen überlassen. Aber wenn Sie wollen, rufen wir ihn an …«
»Nein!«, falle ich ihm vehement ins Wort, dass alle erschrocken zusammenzucken. Ich mäßige schnell meinen Tonfall. »Nein. Ich denke wirklich, dass es das Beste ist, wenn wir ihm erst nach dem Konzert erzählen, was passiert ist.« Ich schaue zu Linc, Aiden und Carly. »Er würde sonst nur ausflippen. Und das Konzert …«
»Würde er sausen lassen«, murmelt Carly.
»So wie ich Ry kenne, wird er vor Wut an die Decke gehen, wenn er davon erfährt.« Linc verzieht das Gesicht. »Trotzdem gefällt es mir nicht, ihn anzulügen.«
»Wir lügen nicht«, murmelt Aiden. »Wir zögern nur die Wahrheit hinaus, bis sich ein geeigneterer Moment dafür ergibt.«
»Also lügen wir«, sagt Linc unverblümt.
»Das Konzert ist ausverkauft. In New York City. Im Madison Square Garden.« Aiden hebt nie die Stimme, aber seine Worte haben Gewicht. »Wir wären verrückt, das zwei Stunden vor Beginn abzusagen. Wir wären verrückt, wenn wir das überhaupt absagen würden. Basta.«
Lincoln beißt die Zähne zusammen, widerspricht ihm aber nicht.
»Wir müssen nur alle zusammenhalten und an einem Strang ziehen.« Ich blinzle die Jungs an. »Also? Warten wir noch etwas, bis wir es ihm erzählen?«
Sie schauen mich beide lange an. Dann nicken sie.
»Wir warten.«
Ich stehe im dunklen Backstagebereich, zupfe ein letztes Mal mein funkelndes Kleid zurecht und versuche, ruhig durchzuatmen. Ich kann den anschwellenden Applaus hören, als das Licht gedimmt wird. Die Menge wird immer unruhiger, während sie darauf wartet, dass das Konzert endlich losgeht – wir hätten bereits vor fünfzehn Minuten anfangen sollen.
»Wo zum Teufel steckt er?«, murmelt Aiden und sieht aus, als würde er jeden Moment ausrasten.
»Er wird schon auftauchen«, sagt Carly in beruhigendem Tonfall. Ohne nachzudenken, streckt sie eine Hand aus und legt sie auf Aidens Arm. Sobald ihre Haut die seine streift, zucken sie beide zurück. Carly murmelt etwas davon, dass sie die Garderobenräume überprüfen muss, und eilt mit hochroten Wangen davon.
Ich schaue ihr mit hochgezogenen Augenbrauen nach.
Lincoln schnaubt. »Die zwei werden echt jeden Tag seltsamer.«
Ein paar weitere Minuten vergehen, die Jubelrufe verwandeln sich in Unmutsbekundungen. Wir denken ernsthaft darüber nach, ohne ihn anzufangen, als Ryder endlich dicht gefolgt von Smith durch die Hintertür kommt.
»Endlich, verdammt noch mal«, murmelt Aiden und gibt dem Technikteam ein Zeichen. »Er ist hier, lasst uns loslegen.«
Ich schaue Ryder ins Gesicht, als er neben mir am Seiteneingang der Bühne stehen bleibt, und weiß sofort, dass etwas nicht stimmt. Und zwar ganz und gar nicht. Seine Augen sind blutunterlaufen und voll düsterer Gedanken, die ich nicht entziffern kann.
»Geht es dir gut?«, frage ich und greife nach seiner Hand. Sein Griff ist schlaff – er verschränkt seine Finger nicht mit meinen und erwidert auch meinen warmen Händedruck nicht. »Ryder, du machst mir Angst. Schau mich an.«
Als er meiner Bitte nachkommt, stockt mir der Atem. Er starrt mir direkt ins Gesicht, und sein Blick ist so leer, dass man meinen könnte, er würde einen Fremden anschauen.
»Erzähl mir, was los ist«, sage ich und spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen. »Erzähl mir, was passiert ist.«
Aber dafür ist keine Zeit. Das Licht in Stadion geht aus, als Linc und Aiden auf die Bühne laufen. Das Publikum kreischt euphorisch und ist mehr als bereit für unser Konzert, das nun endlich losgehen muss. Die Roadies schieben uns nach vorn und geben uns das Zeichen, dass wir unsere Plätze in der Mitte der Bühne einnehmen sollen.
»Ryder«, flüstere ich in der Dunkelheit und versuche, seine Hand festzuhalten. Ich versuche, ihn festzuhalten, weil ich spüre, dass er mir entgleitet.
Er lässt mich los.
Als er spricht, sagt er nur ein einziges Wort, und sein Tonfall ist so frei von Hoffung und Liebe und diesem ansteckenden Charme, der so typisch für ihn ist, dass ich ihn kaum wiedererkenne.
»Später.«
Irgendetwas stimmt nicht, so viel ist klar.
Zuerst denke ich, dass er betrunken oder vielleicht sogar high ist. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Seine Worte klingen nicht verwaschen. Seine Augen sind nicht trüb. Er ist einfach nur …
Nicht er selbst.
Ich kann es an seinem Tonfall hören und an seiner steifen Haltung sehen. Seine Hand ist ganz angespannt, als er seine Gitarre umfasst, und die Venen in seinem Hals treten hervor, als er sich zum Mikro vorbeugt. Es ist, als wäre der Ryder, den ich kenne, der Ryder, den ich liebe, irgendwie abhanden gekommen und unter diesem distanzierten Fremden, der neben mir singt, begraben.
Zum Glück ist das Publikum so verzückt, dass es das nicht zu bemerken scheint.
Mein Herz rast fast ebenso schnell wie mein Verstand, während wir durch unsere ersten fünf Lieder hetzen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was ihn in diesen Zustand versetzt haben könnte. Ich kann mir nichts ausmalen, was schlimm genug wäre, um dafür zu sorgen, dass er stundenlang verschwindet, unsere Verabredung und beinahe unser Konzert platzen lässt …
»You’re the moon, I’m the sun, stuck in distant skies …«, singe ich und versuche, ihm dabei in die Augen zu schauen.
»I’d gladly burn out, to see the light in your eyes«, erwidert er und weicht meinem Blick aus.
Ich beiße die Zähne zusammen und singe weiter. Ich habe keine andere Wahl, schließlich schauen uns zwanzigtausend Menschen zu und achten auf jede unserer Bewegungen.
Wir müssen nur dieses Konzert hinter uns bringen.
Dann werden wir uns um das Problem kümmern …
Was auch immer es sein mag.
Wir sind fast fertig, haben es fast geschafft … nur noch ein Lied trennt uns von unserem Abgang von der Bühne … als plötzlich jemand aus der ersten Reihe während der kurzen Pause vor »Faded« ruft: »Spielt ›Move the Stars‹!«
Als Ryder die Worte hört, versteift sich sein ganzer Körper. Er schaut mich an, schüttelt den Kopf und nimmt sein Mikrofon vom Ständer.
»Ihr wollt ›Move the Stars‹ hören?«, fragt er die Menge und klingt kein bisschen wie er selbst. Es ist, als hätte jemand anders Besitz von ihm ergriffen.
Die Menge schreit mit voller Lautstärke.
»Tja …« Ryder zieht die Augen zusammen. »Leider bin ich heute Abend nicht in der Stimmung, dieses Lied zu singen.«
Die Menge stößt Buhrufe aus.
Aiden, Lincoln und ich wechseln nervöse Blicke.
»Keine Sorge! Ich habe etwas vorbereitet, um es wiedergutzumachen. Sonst bin ich immer derjenige, der Solos singt … Warum geben wir nicht mal jemand anders eine Chance?« Er schaut zu mir. Seine Stimme dröhnt aus den Lautsprechern und ist frei von jeglichem Gef
ühl. »Ich denke, dass Ms Felicity Wilde etwas für euch im Ärmel haben könnte! Wie fändet ihr das?«
Die Menge rastet vollkommen aus – ich singe nie Solos.
»Ryder!«, zische ich leise und mache ein paar Schritte auf ihn zu. Dabei habe ich ein aufgesetztes Lächeln auf den Lippen. »Was in aller Welt ist dein Problem?«
Er ignoriert mich und lehnt sich wieder zu seinem Mikro vor. »Du hast sie gehört, Felicity! Sie wollen dich singen hören!« Sein Lächeln ist eiskalt, sein Blick brennt sich in meinen. »Wie wäre es mit diesem neuen Lied, an dem du gearbeitet hast … ›Nineteen‹?«
Ich höre nicht, wie die Menge rhythmisch meinen Namen ruft, um mich ihrer Unterstützung zu versichern.
Ich sehe nicht, wie unser Bassist und unser Schlagzeuger Blicke wechseln.
Ich sehe nur ihn – die Falten, die Trauer und Schmerz in sein Gesicht gefressen haben, die vollkommene Trostlosigkeit in seinen Augen, seinen Mund, der zu einem verdrehten Schmunzeln verzogen ist, das eher wie eine gequälte Grimasse wirkt.
Die Erkenntnis überkommt mich wie eine herzzerreißende Flutwelle.
Er weiß es.
Ich bin mir sicher, dass er halb damit rechnet, dass ich die Bühne verlassen werde.
Dass ich irgendeine Ausrede erfinden oder irgendein anderes Lied aus meinem Repertoire spielen werde.
Denn das Einzige, was den Schmerz in seinem Gesicht noch übertrifft, ist der Ausdruck reiner Überraschung, der seine Züge verzerrt, als ich meinen Gitarrengurt zurechtzurre und mich mit entschlossen gestrafften Schultern der Menge zuwende.
»Wisst ihr … dieses Lied, dass ich jetzt gleich für euch spielen werde … habe ich noch nie vor Publikum gespielt.«
Sie applaudieren, als würde ihrer aller Leben davon abhängen, und ich lasse zu, dass mich dieses Geräusch erfüllt. Es gibt mir Auftrieb und hilft mir dabei, über diese Flutwelle des Schmerzes hinwegzugleiten.
»Felicity …«, flüstert Ryder, doch ich ignoriere ihn.
»Dieses Lied handelt vom schwersten Jahr meines ganzen Lebens. In diesem Jahr habe ich nicht nur eine, sondern zwei Lieben verloren.«
Das Gemurmel der Menge wabert um mich herum.