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Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us

Page 3

by Iosivoni, Bianca

»Wenn ich geahnt hätte, dass ausgerechnet du hier herumschleichst, hätte ich noch fester zugeschlagen.«

  Keith schnaubte leise, als hätte er mit keiner anderen Antwort gerechnet. »Ich freue mich auch, dich wiederzusehen.«

  Ich zuckte zusammen, als wäre ich diejenige, der man mit dem Baseballschläger eins übergezogen hatte. Denn genauso fühlte es sich an, ihn hier und jetzt wiederzusehen. Wie ein Schlag aus dem Nichts, der mich mit voller Wucht erwischte. Ich konnte regelrecht spüren, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich, während ein eisiges Prickeln über meine Haut glitt, als würde sich eine Eisschicht darauf ausbreiten.

  »Was machst du hier?« Irgendwie brachte ich die Worte hervor, obwohl ich das Gefühl hatte, genauso daran zu ersticken wie an seinem Namen auf meinen Lippen. Denn niemand, weder Holly noch Stella, hatten mich vorgewarnt. Keine von ihnen hatte auch nur die geringste Andeutung fallen lassen, dass ausgerechnet Keith wieder da war.

  »Ich werde eine Zeit lang hier wohnen.«

  Ein simpler Satz, der die Macht hatte, meine ganze Welt auf den Kopf zu stellen. Keith Blackwood wohnte hier? In meinem Elternhaus? Wieso? Er war jahrelang fort gewesen. Warum kam er ausgerechnet jetzt zurück?

  Ein Bild flackerte vor meinem inneren Auge auf. Weiße Wände, weiße Bettwäsche und dunkelblaue Vorhänge, die zugezogen waren. Ein Strauß bunter Blumen. Die Deckenlampe spendete grelles Neonlicht und vom Flur her drangen Geräusche herein. Schritte. Gedämpfte Stimmen. Die scharrenden Rollen eines Bettes, das durch die Gänge geschoben wurde. Das Klingeln eines Fahrstuhls, als sich die Türen öffneten. Das gleichmäßige Piepen der Geräte direkt neben mir. Nichts von alledem schien zusammenzupassen. Erst der Geruch nach Desinfektionsmitteln, Gummihandschuhen und kranken Menschen machte mir deutlich, wo ich mich befand. Und ein fünfzehnjähriger Keith, der in der Tür zu meinem Zimmer stand.

  Er hatte ein dickes Pflaster am Kopf und einen Kratzer an der Wange. Seine Arme waren verbunden, aber nicht eingegipst. Er lehnte am Türrahmen, als würde es ihn zu viel Anstrengung kosten, aufrecht zu stehen. Als wäre sein Körper nicht stark genug, ihn zu halten – oder als würden die Schuldgefühle ihn niederdrücken.

  Ein Blick in sein Gesicht genügte, um die tiefe Trauer in seinen braunen Augen zu sehen und zu wissen, was passiert war. Der Fahrunterricht mit Dad. Seine mahnenden Worte, dass Keith nicht so schnell fahren sollte. Die SMS, die ich auf meinem Handy an Faye tippte. Dann war da nur noch Leere. Ein schwarzes Loch, das all meine Erinnerungen in sich aufgesogen hatte. Ich wusste nicht mehr, wie oder wo es geschehen war. Doch als Keith mich so ansah, da wusste ich, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Er sagte nichts, gab mir keine Erklärungen, keine tröstenden Worte, sondern hüllte sich in ein Schweigen, das mehr schmerzte als jedes Wort aus seinem Mund es je gekonnt hätte. Und in diesem Moment wurde aus dem Jungen, an den ich mein Herz verloren hatte, die Person, die ich am meisten hasste.

  Ruckartig holte ich mich in die Gegenwart zurück. Eine Gegenwart, in der ich vor dem Menschen stand, von dem ich geglaubt hatte, ihn nie wieder sehen zu müssen. Kurz nach dem Unfall war er gegangen. Ohne Abschied. Ohne ein Wort der Erklärung. Ohne eine Entschuldigung. Einfach so. Er war nicht einmal auf Dads Beerdigung erschienen. Und jetzt tauchte er genauso unangekündigt wieder auf? Warum? Was in Gottes Namen ließ ihn glauben, er wäre hier willkommen?

  »Du wohnst hier?«, wiederholte ich ungläubig und riss den Baseballschläger wieder an mich. Es kostete mich all meine Selbstbeherrschung, nicht erneut auszuholen und ihn aus dem Haus zu prügeln. Verdient hätte er es. Das und noch so viel mehr. »Seit wann? Wie bist du überhaupt reingekommen?«

  »Ich war vorhin bei Mom im Krankenhaus. Sie hat mir einen Schlüssel gegeben«, antwortete er ruhig. Doch damit warf er nur weitere Fragen auf.

  Stella hatte davon gewusst? Also war das hier kein Überraschungsbesuch, sondern ein geplanter? Und sie hatte es Holly und mir einfach verschwiegen? Denn ich war mir sicher, dass meine kleine Schwester genauso ahnungslos war wie ich. Dieses Mädchen konnte kein Geheimnis für sich behalten, schon gar keines, bei dem es um den unangekündigten Besuch unseres Stiefbruders ging.

  Stella schon. Sie hatte nicht mal mit der Wimper gezuckt, als sie mich heute umarmt hatte. Hatte sie Keith genauso warmherzig willkommen geheißen? Als wäre nichts geschehen? Als würde sie nicht wieder den Menschen in unser Leben, in unser Haus lassen, der unsere Familie zerstört hatte?

  »Keine Panik«, murmelte er. »Du wirst mich schneller wieder los, als du Hau ab sagen kannst.«

  »Ich würde nie Hau ab sagen, sondern Fahr zur Hölle!«

  »Klar.« Er sah mich ausdruckslos an. Zynismus tränkte seine nächsten Worte. »Ich bin nur hier, bis ich etwas Eigenes gefunden habe.«

  Es ergab noch immer keinen Sinn. Warum jetzt? Warum hielt er es nach sieben Jahren für nötig, zurückzukommen? Um Buße zu tun? Dafür war es zu spät. Er konnte nicht ernsthaft glauben, dass die Leute hier vergessen hatten, was er getan hatte. Ich hatte es definitiv nicht und das würde ich auch nie. Der Unfall selbst mochte durch die Gehirnerschütterung aus meinem Gedächtnis gelöscht worden sein, aber ich würde immer wissen, was dazu geführt hatte. Wer die Schuld daran trug. Und wer hinterher feige abgehauen war, statt sich den Folgen seiner Taten zu stellen. Ich war so wütend auf Keith gewesen, aber als ich endlich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, war er nicht mehr da gewesen. Wo sollte ich hin mit meinem Hass? Ich konnte ihn nicht auf jemanden richten, der nicht da war? Und wie sollte man trauern, wenn der Schuldige ungestraft davongekommen war?

  Im Laufe der Zeit wurde der Schmerz dumpfer. Ich war erwachsen geworden und sicher gewesen, diese Sache überwunden zu haben. Doch jetzt kehrte alles mit einem Schlag zurück. Die Wut. Der Hass. Die Verzweiflung. All das legte sich wie ein tonnenschweres Gewicht auf meine Brust, bis ich das Gefühl hatte, darunter zu zerbrechen. Und Keith stand einfach nur da und musterte mich, als wäre nichts passiert. Als würde sein Auftauchen kein heilloses Chaos in meiner Welt auslösen.

  Sekundenlang konnte ich ihn nur anstarren. Fassungslos, dass das hier wirklich geschah, während ein kleiner Teil in mir noch immer darauf hoffte, dass ich es nur träumte. Der Junge, den ich gekannt hatte, war verschwunden, und an seine Stelle war ein Mann getreten. Die Jahre hatten ihn verändert. Sein Gesicht war ernster geworden, die Konturen härter. In der Dunkelheit um uns herum war das nicht so deutlich auszumachen, aber ich erinnerte mich noch gut an unsere Begegnung heute Nachmittag. An den Ausdruck in seinen braunen Augen, den Armeerucksack … und wie ich ihn angelächelt hatte. Wie ich mich blamiert und darauf gehofft hatte, dass er mir seine Nummer gab. Oh Gott. Vielleicht sollte ich mir selbst eins mit dem Baseballschläger überziehen, denn ich war offensichtlich nicht mehr bei Verstand. War ich wirklich kurz davor gewesen, mit meinem Stiefbruder zu flirten? Mit der Person, die ich am allermeisten hasste? Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Oder fluchen. Fluchen war immer gut.

  »Am Flughafen …«, begann ich zögerlich, denn mit einem Mal tauchten all die Details auf, die mir zuvor nicht aufgefallen waren. Die Art, wie er mich angesehen und wie er gelächelt hatte, selbstbewusst, aber gleichzeitig auch unsicher, als wüsste er nicht so recht, was er von mir halten sollte. »Du wusstest, dass ich es bin, oder?«

  Bitte sag nein. Bitte sag nein. Bitte sag …

  »Ja.«

  Ich schloss die Augen. Jede noch so kleine Hoffnung, von der ich nicht einmal geahnt hatte, dass ich sie gehegt hatte, erstarb mit diesem einen Wort. Er hatte gewusst, wer vor ihm stand. Und ich hatte mich auch noch bei ihm bedankt. Aber wie hätte ich denn ahnen können, wen ich da vor mir hatte? Ich hatte Keith schließlich sieben Jahre lang nicht mehr gesehen.

  Hitze schoss mir in die Wangen, als sich Wut und Scham einen erbitterten Kampf lieferten.

  »Keine Sorge.« Ich riss die Augen gerade rechtzeitig wieder auf, um das spöttische Lächeln zu sehen, das seine Lippen umspielte. »Ich verrate keinem, dass du ganz hin und weg warst.«

  »Du bist …«, begann ich, ohne zu wissen, mit w
elcher Beleidigung mein Satz enden würde.

  »Einnehmend?«, schlug er vor. »Faszinierend? Unwiderstehlich?«

  Es gab tatsächlich Leute, die glaubten, dass Menschen sich ändern könnten. Ich gehörte nicht dazu, und in diesem Moment bewies mir Keith, wie recht ich damit hatte. Er hatte sich kein Stück verändert. Er provozierte mich noch genau wie früher, nur, dass er es jetzt in dem Wissen tat, was er angerichtet hatte. Und so fühlte sich jedes Wort, das seinen Mund verließ, wie eine Klinge an, die sich in meine Brust bohrte. Kein schlichtes Küchenmesser, sondern ein Skalpell, dass er mit grausamer Präzision genau dort ansetzte, wo es am meisten schmerzte.

  »Unerträglich«, stieß ich hervor. »Genau wie früher.«

  Bevor er etwas darauf erwidern oder ich etwas tun konnte, das ich hinterher vielleicht bereuen würde, machte ich auf dem Absatz kehrt und ließ ihn stehen.

  Das Blut rauschte in meinen Ohren und meine Knie zitterten, als ich davonstapfte. Vermutlich grenzte es an ein Wunder, dass ich überhaupt einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Das letzte Mal, dass ich mich so gefühlt hatte, war der Moment gewesen, in dem ich von Dads Tod erfahren hatte. Als hätte mich jemand aus meiner vertrauten Umgebung gerissen und in eine neue Wirklichkeit hineingeworfen. Eine Wirklichkeit, die so wenig mit meiner eigenen zu tun hatte, dass ich alles dafür gegeben hätte, sie wieder zurückzutauschen. Aber es gab nichts, das ich hätte tun können. Weder damals noch heute. Es war nicht Trauer oder Hass, der einen Menschen zerstören konnte. Es war Hilflosigkeit.

  In meinem Zimmer angekommen warf ich den Baseballschläger zurück in den Schrank und ging wieder ins Bett. Doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Die Stille um mich herum war genauso erdrückend wie die Fragen, die immer wieder in meinem Kopf auftauchten. Dazu kam das Wissen, dass Keith unter demselben Dach schlief. Alles in mir sträubte sich gegen diese Vorstellung, und am liebsten wäre ich aufgesprungen, hätte meine wenigen Sachen gepackt und wäre zurück zum Campus gefahren. Aber ich hatte Holly versprochen, den Sommer mit ihr zu verbringen.

  Nur aus diesem Grund blieb ich liegen und zwang mich dazu, die Augen zu schließen. Ich war für meine kleine Schwester hergekommen und für sie würde ich auch bleiben. Selbst wenn das bedeutete, dass ich mich eine Zeit lang mit meinem Stiefbruder arrangieren musste.

  Die Geräusche, die mich am nächsten Morgen weckten, waren fremd und vertraut zugleich. Ich war das Summen der Stimmen im Wohnheim gewöhnt, das leise Schnarchen meiner Mitbewohnerin Amber, die trippelnden Schritte in den Gängen und das Klappern von Besteck in der Gemeinschaftsküche. Hier hörte ich zum ersten Mal wieder das Zwitschern der Vögel, dicht gefolgt vom unverkennbaren Brummen eines Rasenmähers. Offenbar machte sich Mr Perkins von nebenan noch immer um Punkt neun Uhr an die Gartenarbeit – völlig egal zu welcher Jahreszeit.

  Ich drehte mich auf den Rücken und schlug die Augen auf. Einen seligen Moment lang war ich wieder das Kind, das gerade erst mit seinem Vater und seiner Schwester hier eingezogen war. Das Haus war riesig und der Garten mit seinen vielen Bäumen und Sträuchern magisch. Jeden Sommer hatten Holly und ich die bunten Blüten der Wunderblumen gezählt, die Stella rund um die Veranda angepflanzt hatte. Diejenige, die mit ihrer Schätzung am nächsten dran lag, gewann. Irgendwie hatte Holly es immer geschafft, mich darin zu schlagen, aber Mathematik war noch nie meine Stärke gewesen.

  Meine Gedanken wanderten zurück zu Nachmittagen, die mit Lachen und Sonnenschein gefüllt waren, mit Grasflecken auf meiner Hose und dem Geruch von selbst gemachter Limonade, während Dad uns mit einem Lächeln im Gesicht beim Spielen im Garten beobachtete. Dad …

  Mit einem Blinzeln war ich zurück in der Gegenwart und setzte mich auf. Etwas Warmes lief mir über das Gesicht. Überrascht wischte ich mir die Tränen von den Wangen. Es war eine Ewigkeit her, seit ich zuletzt so an meinen Vater gedacht hatte. Für einen winzigen Augenblick war die Welt in Ordnung gewesen, doch jetzt hatte mich die Realität wieder. Dad war nicht mehr bei uns. Dafür hatte die Person gesorgt, die gestern Nacht so unerwünscht wieder aufgetaucht war. Wie hatte Stella das nur zulassen können? Wie hatte sie das vor Holly und mir verheimlichen können?

  Ich schob die Bettdecke beiseite, stand auf und fuhr mir mit allen zehn Fingern durch das Haar. Keine Ahnung, wie Amber es immer schaffte, genauso geordnet und gebürstet aufzuwachen, wie sie schlafen gegangen war, während ich morgens so aussah, als hätte ich in eine Steckdose gegriffen. Noch in meinem Schlaf-T-Shirt machte ich mich auf den Weg nach unten. Der Nachteil daran, unter dem Dach zu wohnen – abgesehen von der Hitze, die sich hier oben staute –, war der, dass ich jedes Mal nach unten in den ersten Stock gehen musste, wenn ich ins Badezimmer wollte. Früher hatte mich das nicht gestört, genau genommen war Treppensteigen sogar mein tägliches Workout gewesen.

  Kaum dass ich die Badezimmertür erreicht hatte, sprang sie bereits auf und meine Schwester tänzelte heraus. Natürlich. Sie war die Einzige, mit der ich mir das Badezimmer teilen musste, da Stella im Erdgeschoss ihr eigenes Reich hatte.

  Ich verzog das Gesicht, als Holly mich anstrahlte. Sie wirkte ekelhaft ausgeschlafen und gut gelaunt, aber sie war schon immer der frühe Vogel von uns gewesen.

  »Guten Morgen!«, zwitscherte sie.

  »Morgen …«, murmelte ich und schob mich an ihr vorbei. Solange ich kaum die Augen aufbekam, konnte ich noch keine zivilisierten Konversationen führen.

  Natürlich war das Holly völlig egal. Sie lehnte sich in den Türrahmen und beobachtete mich dabei, wie ich mir das Gesicht wusch und nach meiner Zahnbürste griff.

  »Hast du gut geschlafen? Wie war die erste Nacht zu Hause?«

  »Schuper«, nuschelte ich, den Mund voller Zahnpasta. »Ischabe uscheren Schiefuder ür einen Einescher gealten.«

  »Was?«

  Ich spülte mir den Mund aus und richtete mich wieder auf. »Ich sagte, ich habe unseren Stiefbruder für einen Einbrecher gehalten und ihn mit dem Baseballschläger verprügelt.«

  Holly starrte mich mit offenem Mund an, dann brach sie in schallendes Gelächter aus. »Nicht dein Ernst! Wirklich? Wie konnte ich das verschlafen?«

  Um ehrlich zu sein, war ich froh, dass sie nichts davon mitbekommen hatte. Möglicherweise wäre sie sonst Zeugin eines Mordes geworden, und das hätte die Dinge nur unnötig verkompliziert. Stumm wedelte ich mit der Hand. Holly verstand den Wink und zog die Tür hinter sich zu, als sie das Badezimmer verließ. Mehrere Sekunden lang betrachtete ich mein Spiegelbild über dem Waschbecken. Die Ringe unter meinen Augen waren ein deutliches Symptom von zu wenig Kaffee. Nein, das war gelogen. Sie waren ein Symptom von zu wenig Schlaf, aber da das leider nicht infrage kam, gab ich mich mit der zweitbesten Möglichkeit zufrieden. Seufzend wandte ich mich ab und begann etwas dagegen zu unternehmen, dass ich wie ein Zombie aussah.

  Als ich das Bad rund zehn Minuten später wieder verließ, stand Holly noch immer neben der Tür.

  »Ich will alles wissen«, sprudelte es aus ihr hervor, während wir Seite an Seite die Treppe hinuntergingen. »Brauchst du ein Alibi? Oder lebt Keith noch?«

  »Er ist …«, begann ich, hielt dann jedoch abrupt inne. Vorhin war ich zu müde gewesen, um es zu bemerken, doch jetzt sprang mich dieses Detail förmlich an. »Moment mal. Wieso bist du nicht überrascht, dass er wieder hier ist?«

  »Ähm … also …« Hollys Blick wanderte hektisch hin und her.

  Nein … Das konnte nicht sein. Oder?

  »Du wusstest davon?«

  »Also, ich … Nein, natürlich nicht!« Sie schüttelte den Kopf so heftig, dass ihr Pferdeschwanz hin- und herschwang.

  Ich bedachte sie mit meinem besten bohrenden Blick. Es dauerte keine zwei Sekunden und sie gab nach.

  »Okay, ist ja gut. Ich wusste, dass er irgendwann die Tage hier auftaucht. Ist das so schlimm?«

  Wie bitte? Einen Moment lang konnte ich nichts anderes tun, als sie fassungslos anzustarren. Dann kam wieder Leben in mich, so schnell und unaufhaltsam wie ein peitschender Sturm.

  »Gegenfrage: Warum wusste ich nichts davon?«


  »Wenn wir es dir gesagt hätten, wärst du doch niemals nach Hause gekommen. Schon gar nicht den ganzen Sommer über.« Hollys Stimme hatte einen fast schon flehenden Ton angenommen.

  Damit hatte sie recht, aber das machte es nicht besser. Nicht nur Stella hatte mich angelogen, sondern auch Holly. Ausgerechnet Holly …

  »Also habt ihr einfach beschlossen, es vor mir geheim zu halten?«, zischte ich und stieß die Küchentür mit mehr Gewalt als nötig auf. »Newsflash! Früher oder später hätte ich bemerkt, dass er hier ist.«

  »Er hat einen Namen.«

  Ich blieb so plötzlich stehen, dass Holly gegen meinen Rücken prallte.

  »Hey, was …«, murmelte sie, dicht gefolgt von einem überraschten »Oh«, als sie an mir vorbeilugte. Zu meinem Entsetzen hellte sich ihre Miene auf und ehrliche Freude spiegelte sich darin wider. »Keith!«

  Jeder Muskel in meinem Körper verkrampfte sich, während ich Holly dabei zusah, wie sie Keith umarmte, als wäre er der verlorene Sohn, der nach Hause zurückgekehrt war. Aber das war er nicht. Das würde er nie sein.

  Er lächelte, als er sich von Holly löste und ihr durch das Haar wuschelte, wie es nur große Brüder konnten. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. »Siehst du? Sie hat mich sofort erkannt.«

  Mein erster Impuls war es, seinem Blick auszuweichen. Stattdessen bohrte ich die Fingernägel in meine Handflächen und hielt ihm stand.

  »Ist ja auch nicht schwer, wenn du am helllichten Tag in unserer Küche stehst.«

  Er zog eine Augenbraue in die Höhe. »Anders als am helllichten Tag auf einem Flughafen, meinst du?«

  Ich funkelte ihn an, erwiderte jedoch nichts darauf.

  Letzte Nacht hatte ich nur wenig von Keith erkennen können, an diesem Morgen dafür umso mehr. Im Gegensatz zu mir war er in Jeans und einem schwarzen T-Shirt, das seine breiten Schultern betonte, bereits vollständig angezogen. Hatte er gestern am Flughafen noch einen Bartschatten getragen, der wahrscheinlich von der Reise herrührte, hatte er heute ganz darauf verzichtet, sich zu rasieren. Der Zweitagebart verlieh ihm einen verwegenen Ausdruck, der zusammen mit dem Funkeln in seinen braunen Augen eine tödliche Kombination war. Mit dem Bart wirkte er so wenig wie der Junge von früher und so sehr wie der nette Kerl, der mir mit meinem Gepäck geholfen hatte, dass sich etwas in meinem Bauch zusammenzog. Gleichzeitig war es mir unbegreiflich, wie ich ihn nicht hatte wiedererkennen können. Sicher, sieben Jahre waren eine lange Zeit und er hatte sich vom schlaksigen Teenager zum Mann entwickelt. Mit langen Beinen und starken Oberarmen, die von regelmäßigem Training oder körperlicher Arbeit zeugten. Trotzdem sah ich nun so viel von dem Jungen von früher in ihm.

 

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