Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us

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Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us Page 8

by Iosivoni, Bianca


  Und so einfach brach mein Herz erneut in tausend Splitter. Ein einziges Wort, ein einziger Satz genügte, um mich sieben Jahre zurück zu katapultieren. Meine Augen brannten genau wie damals, als ich das erste und einzige Mal an seinem Grab gestanden hatte, mit stoischem Blick und meiner kleinen Schwester an der Hand, die sich schluchzend an mich klammerte.

  »Wie konntest du zulassen, dass er zurückkommt?« Die Worte verließen meinen Mund, bevor ich sie aufhalten konnte. Es war eine Sache, die Wünsche meiner kleinen Schwester zu respektieren – aber Stella? Sie hätte mich wenigstens vorwarnen können.

  Sie zuckte zusammen, als hätte ich sie geohrfeigt. Obwohl es dunkel im Zimmer war, glaubte ich die Abfolge von Emotionen erkennen zu können, die über ihr Gesicht wanderten. Verletztheit. Schuldgefühle. Trauer. Entschlossenheit.

  »Ich habe deinen Vater geliebt, Callie.« Sie griff nach meinen Händen und drückte sie so fest, dass der Schmerz bis in meine Handgelenke kroch. »Du glaubst gar nicht, wie sehr. Aber Keith ist mein Sohn. Was damals geschehen ist, war ein Unfall.«

  Warum ließ mich dann dieses Gefühl nicht los, dass mehr an der Sache dran war, als mir alle glauben machen wollten? Lag es nur an diesem brennenden Zorn in mir, den ich einfach nicht loslassen konnte? Die Psychologin, mit der ich nach dem Unfall ein paar Mal gesprochen hatte, hatte diese Empfindung auf meine Amnesie aufgrund der Gehirnerschütterung zurückgeführt. Natürlich spürte ich eine Leere in mir, nachdem ich einen Teil meiner Erinnerungen verloren hatte. Aber war diese Frau je auf die Idee gekommen, dieses Gefühl könnte daher stammen, dass ich innerhalb von Sekunden nicht nur mein Gedächtnis, sondern auch meinen Vater und meinen Stiefbruder verloren hatte?

  Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte jetzt nicht darüber reden. Ich wollte ja nicht einmal darüber nachdenken. Sieben Jahre. Sieben Jahre lang hatte ich jeden Gedanken daran verbannt, und das hatte mir mehr geholfen als die endlos langen Therapiegespräche, zu denen ich irgendwann einfach nicht mehr gegangen war. Ich hatte weitergemacht mit meinem Leben, hatte mich ins Lernen und später in mein Studium gestürzt. Ich hatte nie zurückgeblickt. Und jetzt tauchte Keith auf und all das, was ich erfolgreich verdrängt hatte, war auf einmal wieder präsent. Und so frisch, als wäre es erst gestern gewesen.

  Ich sprang so abrupt auf, dass Stella neben mir zusammenzuckte. Aber ein Wort mehr, ein einziger weiterer Satz über Dad, und ich würde wie ein kleines Kind in Tränen ausbrechen. Das konnte ich ihr nicht antun. Und mir selbst auch nicht.

  »Ich …« Gedankensplitter rasten durch meinen Kopf, ohne dass ich einen davon zu fassen bekam und in Worte packen konnte. Ich schluckte hart und nickte Stella zu. »Schlaf gut.«

  Sie hielt mich nicht auf, aber ich spürte ihren nachdenklichen Blick auf mir, bis ich den Flur erreicht hatte und die Treppenstufen hinaufrannte, als wäre der Teufel persönlich hinter mir her. Erst als ich im Dachgeschoss angekommen war, kam ich schwer atmend zum Stehen. Auch hier oben erinnerte mich jeder Zentimeter an Dad. Daran, wie wir auf dem Boden gekniet und die Dielen gemeinsam abgeschliffen hatten. Wie wir das Holz lackiert, den Einbauschrank eingebaut und die Fenster so lange geputzt hatten, bis wieder Licht hereindrang. Bis zu diesem Moment war mir nicht einmal bewusst gewesen, dass ich vor all diesen Erinnerungen davongelaufen war. Jetzt drohten sie über mir hereinzubrechen und mich zu ersticken.

  Ich griff nach meinem Handy, warf es jedoch wütend aufs Bett, bevor ich meine Kontakte durchgehen konnte. Wen sollte ich um diese Uhrzeit schon anrufen? Faye, um sie mitten in der Nacht zu wecken und in Panik zu versetzen? Nein, danke. Parker? Der hatte genug eigene Probleme, auch wenn er sie mir nicht erzählte. Meine Mitbewohnerin Amber? Sie hatte die perfekte Bilderbuchfamilie samt Bilderbuchfreund. Natürlich würde sie mir zuhören und mitfühlende Kommentare von sich geben, aber mehr auch nicht. Weil sie sich nicht einmal vorstellen konnte, wie es war, ohne ein Elternteil aufzuwachsen. Oder ohne beide. Blieb nur noch Holly, aber ich würde einen Teufel tun und meine kleine Schwester damit belasten. Nicht, wenn wir die gleichen Erinnerungen und den gleichen Schmerz teilten.

  Frustriert tastete ich in meinem Nacken nach dem Verschluss meines Kleides und öffnete ihn schließlich nach mehreren vergeblichen Versuchen. Lautlos landete der fließende Stoff auf dem Boden. Der BH folgte, dann griff ich nach Shorts und meinem Schlaf-T-Shirt und zog mir beides an. Irgendwie würde ich schon einschlafen. Ich musste einfach. Ich war erschöpft und mein Kopf sollte gefälligst Ruhe geben. Aber je länger ich im Bett lag, desto unerträglicher wurde die Stille um mich herum, denn dadurch wurden die Gedanken nur lauter und der Schmerz in meiner Brust wuchs.

  Irgendwo knarrte eine Diele. Zwei Sekunden später noch mal. Ich schnaubte genervt, weil mich diese simplen Geräusche an das unfreiwillige Zusammentreffen mit Keith vor ein paar Nächten erinnerten. War er es auch jetzt, der durch das Haus schlich? Am liebsten hätte ich mir wieder den Baseballschläger aus dem Schrank geholt, meinen Stiefbruder gesucht und auf ihn eingeprügelt. Nicht, weil ich ihn so sehr hasste, sondern weil es so wehtat, ihn zu sehen und zu wissen, dass er lebte, während mein Vater tot war.

  Ich wusste nicht, ob ich Stunden auf dem Rücken gelegen und an die Zimmerdecke gestarrt hatte oder nur Minuten. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und warf die Bettdecke beiseite. Im Dunkeln stand ich auf und steckte mir das Haar mit einer Klammer hoch. In den Tiefen meines Schreibtisches fand ich das ledergebundene Notizbuch, das ich seit Jahren nicht mehr geöffnet hatte. Ich hatte es sicher ein Dutzend Mal herausgeholt und war die Prägung mit meinen Fingerkuppen nachgefahren, aber ich hatte es nie aufgeschlagen. Seit dem Unfall nicht mehr.

  Ich drückte mir das Buch an die Brust, nahm mir einen Stift aus einer Schublade und durchquerte mein Zimmer mit großen Schritten. Früher war die Nische am Fenster mein Rückzugsort gewesen, heute brauchte ich frische Luft, da ich das Gefühl hatte, hier drinnen zu ersticken. Nicht nur in meinem Zimmer, sondern in diesem ganzen Haus. Als würden die Erinnerungen, die sich in den letzten Stunden auf meine Brust gelegt hatten, mir qualvoll langsam die Luft abdrücken.

  Lautlos schlich ich die Treppe in den ersten Stock hinunter, vorbei an Hollys Zimmer und bis zum Ende des Flurs. Das Fenster dort war geschlossen und da ich wusste, wie viel Kraftaufwand es benötigte, es zu öffnen, legte ich Notizbuch und Stift auf dem Boden ab, bevor ich das Fenster hochschob. Klare Nachtluft strömte mir entgegen, so warm und weich wie eine Decke, in die ich mich einwickelte. Ich hob meine Sachen auf und kletterte auf das Dach. Es war flach und zog sich über die gesamte Veranda hinter dem Haus. Holly und ich hatten früher unzählige Stunden hier oben verbracht, ganz besonders nach Dads Tod. Heute war ich jedoch allein hier draußen.

  Vorsichtig schloss ich das Fenster wieder hinter mir, dann überquerte ich das Dach, setzte mich an den Rand und zog die Beine an. Die frische Luft füllte meine Lunge und vertrieb zumindest ein bisschen die Enge aus meiner Brust. Die Mondsichel über mir und ein paar kleine Lichter in der Ferne waren die einzige Beleuchtung, abgesehen von den strategisch platzierten kleinen Lampen unter mir im Garten. Die Dunkelheit hatte etwas Tröstendes, als würde sie all meine Gedanken und Gefühle in sich einsaugen und für immer bewahren, ganz egal, wie viel ich davon preisgab. Ich wechselte meine Position, schwang die Beine über den Rand des Daches und ließ sie hinabbaumeln. Das Notizbuch lag schwer in meinem Schoß. Wieder fuhr ich die eingekerbten Initialen nach. C. R. Calliope Robertson. Dad hatte es mir zu meinem dreizehnten Geburtstag geschenkt. Vielleicht war es deshalb so bedeutsam für mich, weil es das letzte Geschenk war, das ich von ihm bekommen hatte.

  Meine Finger zitterten, als ich das um das Buch gewickelte Lederband löste. Ich atmete tief durch, dann schlug ich es auf. Das Erste, was mir ins Auge fiel, waren die Noten einer Melodie, die mir damals nicht aus dem Kopf gegangen war. Stundenlang hatte ich am Klavier gesessen und daran gearbeitet, bis ein halbwegs gutes Stück daraus geworden war. Erst als ich zufrieden gewesen war, hatte ich die Noten in mein Notizbuch übertragen. Ich blätterte weiter und fuhr über die schnörkelige Schrift des Mädchens, das ich vor siebe
n Jahren gewesen war. Ich konnte nicht alles davon in der Dunkelheit lesen, aber was ich erkannte, weckte lang vergessene Erinnerungen in mir. Heute klangen die dahingeworfenen Worte unbedeutend, doch damals hatte mir der Text ebenso viel bedeutet wie die dazugehörige Melodie. Je weiter ich blätterte, desto mehr solcher Schnipsel fand ich. Angefangene Strophen, ausgearbeitete Refrains mitsamt der Musik, die ich mir dazu vorgestellt hatte.

  Dieses Buch war wie eine Reise in die Vergangenheit, zurück in eine Zeit, in der ich jung und unwissend gewesen war. Unwissend deshalb, weil ich bis zu jenem Zeitpunkt nur einen Bruchteil des Schmerzes kennengelernt hatte, den jemand in seinem Leben ertragen konnte. Moms Tod hatte wehgetan, aber ich war zu klein gewesen, um das volle Ausmaß des Verlustes zu begreifen. Dads Tod hingegen? Dieser Moment hatte mich zerstört. Ich wusste noch genau, wie Stella an meinem Bett im Krankenhaus gesessen und nach meiner Hand gegriffen hatte. Ihre Augen waren vom vielen Weinen geschwollen gewesen, ihr hübsches Gesicht fahl und verquollen.

  Dein Vater ist tot, Callie. Es tut mir so leid …

  Wieder und wieder hatte ich diese Worte gehört, doch sie hatten einfach keinen Sinn ergeben, waren abstrakt geblieben, bis ich vor dem offenen Sarg gestanden hatte. Und selbst dann hatte ich es nicht glauben wollen.

  Ich legte den Kopf in den Nacken und blinzelte heftig. Ich wollte nicht weinen. Es führte doch sowieso zu nichts, außer dass man hinterher so aufgedunsen aussah wie eine Wasserleiche und mörderische Kopfschmerzen hatte. Aber ich brauchte etwas, um das Chaos in mir loszuwerden, um den Schmerz rauszulassen. Ich schlug eine neue Seite auf, schloss die Augen … und schrieb. Ohne hinzusehen, ohne nachzudenken, ohne auf Takt oder Reim zu achten. Ich schrieb meine Gefühle aus mir heraus, brüllte sie aufs Papier, atmete sie aus und verbannte sie in diese Textzeilen.

  Erst als ich vier Seiten vollgekritzelt, immer wieder durchgestrichen und neu formuliert hatte, ließ ich den Stift sinken und richtete mich auf. Mein Rücken knackste und ein heißer Schmerz zog bis hinauf in meinen Nacken, aber ich fühlte mich … leichter. Nicht viel besser, aber so, als hätte jemand wenigstens das Gewicht von meiner Brust genommen.

  Ich legte das Notizbuch beiseite und atmete tief durch. Die Nacht schien auf einmal so viel klarer zu sein. Erst jetzt nahm ich das leise Zirpen der Grillen und das Brummen eines Autos in der Ferne wahr. Und das Knarren von Holz, als das Fenster hinter mir geöffnet wurde.

  Überrascht drehte ich mich um. Keith erstarrte mitten in der Bewegung, ein Bein bereits aus dem Fenster geschwungen, das andere noch im Haus. Wie ich hatte er sich umgezogen und trug jetzt nur noch ein altes T-Shirt und eine Shorts, die ihm bis zu den Kniekehlen reichte.

  Sekunden tickten vorbei, in denen sich keiner von uns rührte, bis er schließlich einen Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln verzog und hinter sich deutete. »Ich kann wieder gehen.«

  Nicht nur zu seiner, sondern auch zu meiner eigenen Überraschung schüttelte ich den Kopf. »Schon gut. Das ist auch dein Dach«, fügte ich leise hinzu. Nicht, um einen Seitenhieb auszuteilen, sondern weil es die Wahrheit war.

  Keith zögerte, doch dann hörte ich seine Schritte auf dem Dach. Er ließ sich mit rund zwei Metern Sicherheitsabstand neben mir nieder. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie er die Beine ebenfalls baumeln ließ und sich auf die Unterarme zurücklehnte. Ich rechnete fest mit irgendeinem Kommentar, vielleicht auch damit, dass er mich aufzog, mitten in der Nacht Zuflucht auf dem Dach gesucht zu haben. Obwohl er gerade genau das Gleiche tat. Aber Keith sagte nichts.

  Sekunden wurden zu Minuten und mit jeder, die verging, wurde ich ruhiger. Irgendwann legte sich Keith auf den Rücken, verschränkte einen Arm unter seinen Kopf und sah in den Himmel hinauf. Ich folgte seinem Blick nach oben. Über uns ergossen sich so viele Sterne, als hätte jemand sie anderswo eingefangen und hier ausgeschüttet. Lauwarme Luft strich wie eine sanfte Berührung über meine nackten Arme und Beine und kühlte mein erhitztes Gesicht. Obwohl ausgerechnet Keith neben mir lag, hatte ich zum ersten Mal seit Langem das Gefühl, mich entspannen zu können.

  Ich zog meine Beine wieder an die Brust und starrte in die Ferne. Für einen Moment tauchten die Scheinwerfer eines Autos auf, bevor sie wieder in der Dunkelheit verschwanden. Einen Atemzug lang war es völlig still, dann starteten die Grillen ihr nächtliches Konzert aufs Neue. In den Bäumen raschelte es, vermutlich eine Eule oder ein Eichhörnchen auf der Suche nach etwas Essbarem. Nicht nur dieses Haus, auch dieser Garten barg so viele Erinnerungen.

  In Gedanken versunken strich ich über die Narbe an meinem rechten Knie. Sie war etwa so groß wie mein Daumen und hob sich von meiner ohnehin schon hellen Haut ab. Es musste etwa ein Jahr nach unserem Einzug gewesen sein. Dad und Stella waren mit Holly ins Krankenhaus gefahren, weil sie von einer Biene gestochen worden war und wie am Spieß gebrüllt hatte. Erst sehr viel später sollte ich begreifen, dass ihre Besorgnis nicht dem Stich an sich galt, sondern der allergischen Reaktion, die Holly darauf gezeigt hatte. Ich war allein zu Hause geblieben und hatte hoch und heilig versprochen, keine Dummheiten anzustellen. Schließlich wollte ich nicht, dass sich die beiden noch mehr Sorgen machen mussten.

  Obwohl ich drinnen bleiben sollte, war ich in den Garten gerannt. Holly hatte ihr Lieblingsarmband beim Klettern verloren, also stieg ich auf den Baum, um es zu holen und ihr zu geben, sobald sie mit Dad und Stella zurückkehrte. Rückblickend betrachtet war es eine dämliche Aktion gewesen, bei der ich mir auch den Hals hätte brechen können.

  Ich konnte das Armband von dem Ast abziehen, an dem es hängen geblieben war, musste mich dafür jedoch so weit nach vorne lehnen, dass ich den Halt verlor. Alles war so schnell und gleichzeitig wie in Zeitlupe gegangen. Plötzlich lag ich auf dem Boden, Hollys Armband fest in meiner Hand, aber mit einem aufgeschlagenen Knie, das so stark blutete, als würde ich gleich sterben. Zumindest dachte ich das damals. Irgendwie schleppte ich mich ins Haus zurück und wühlte nach dem Verbandszeug. Panisch, nicht wegen der Wunde, sondern weil ich so große Angst davor hatte, dass meine Familie gleich zurückkommen und Dad von mir enttäuscht sein würde. Als die Haustür aufging, blieb mir fast das Herz stehen. Ich packte so viel Verband und Pflaster wie möglich, presste sie an mich und versuchte mich davonzuschleichen – ohne Erfolg. Aber es waren nicht Dad und Stella, die mich erwischten. Es war Keith.

  Er war gerade erst von der Schule nach Hause gekommen, hatte keine Ahnung, was mit Holly passiert war, und entdeckte mich blutig, zerkratzt und mit Tränen in den Augen auf dem Küchenboden. Ohne ein Wort zu sagen kniete er sich vor mich, nahm mir das Verbandszeug ab und führte mich zur Treppe im Flur. Ich saß auf der untersten Stufe, während er die Platzwunde an meinem Knie behutsam säuberte, desinfizierte und eine Mullbinde darum wickelte. Währenddessen plapperte ich die ganze Zeit und erzählte ihm, warum alle anderen weg waren, und dass ich nicht wollte, dass Dad oder Stella davon erfuhren. Ich hatte eine so große Angst, die beiden zu enttäuschen, dass ich kurz davor war, in Schnappatmung zu verfallen. Keith beendete den Verband, legte seine Hände auf meine Schultern, sah mir fest in die Augen und versprach, dass es unser Geheimnis bleiben würde. Später half er mir beim Aufräumen, und als der Rest unserer Familie zurückkehrte, trug ich eine lange Hose, um die Wunde zu verstecken. In der Aufregung bemerkte niemand den fehlenden Verband oder die leichten Kratzer an meinen Armen. Holly freute sich über ihr Armband und soweit ich wusste, hatten weder sie noch Dad oder Stella je von der ganzen Sache erfahren.

  Ich atmete tief ein, doch die warme Nachtluft kratzte in meiner Kehle, als würde sie den Weg in meine Lunge nicht finden können. Es war eine Ewigkeit her, seit ich das letzte Mal daran zurückgedacht hatte. Jahrelang hatte ich der Narbe an meinem Knie keine Beachtung geschenkt, hatte weder an diese Geschichte noch an Keith gedacht. Vor allem nicht daran, wie er für mich da gewesen war, obwohl er sicher Besseres zu tun gehabt hatte, als sich um seine zwölfjährige Stiefschwester zu kümmern.

  Es war seltsam, so mit ihm auf dem Dach zu sitzen. Mitten in der Nacht, in einvernehmlichem Schweigen, in dem ich außer den Geräuschen der Nacht nu
r seine ruhigen Atemzüge hören konnte. Aber wenn jedes Wort aus seinem oder meinem Mund nur ein neues Wortgefecht oder einen Streit heraufbeschwören würde, war es besser, zu schweigen. Auf diese Weise breitete sich eine nie gekannte Ruhe zwischen uns aus. Ein Frieden, der nur so lange Bestand hatte, wie ihn keiner von uns brach.

  Letzten Endes war es Keith, der sich zuerst bewegte. Als ich das Gefühl hatte, kaum noch sitzen zu können, richtete er sich auf und ging zum Fenster zurück. Ich sagte kein Wort, sah nicht zu ihm, sondern fixierte einen imaginären Punkt in der Ferne.

  Ich hörte, wie er wieder ins Haus kletterte, und rechnete damit, dass er stillschweigend verschwand. Doch dann trug der Wind seine Stimme und ein einziges, rau geflüstertes Wort an meine Ohren.

  »Danke.«

  Die Kälte kroch in meine nackten Füße und ließ mich schaudern. Ich hätte wirklich daran denken sollen, mir Socken anzuziehen. Jetzt war es dafür zu spät. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um allzu viel Kontakt mit den Fliesen zu vermeiden, und lehnte mich gegen den Küchentresen. Eineinhalb Tassen Mehl, dreieinhalb Teelöffel Backpulver, ein Teelöffel Salz dem Kochbuch zufolge. Wer bitte dachte sich diese Maßeinheiten aus?

  Nacheinander schüttete ich die Zutaten zusammen mit einem Esslöffel Zucker in die eine Schüssel und die Milch in die andere. Dazu ein Ei, das vorsichtig mit der Milch verrührt werden sollte. Sekundenlang starrte ich es in der Hoffnung an, mein mörderischer Blick allein würde reichen, um die Schale zum Brechen zu bringen. Leider passierte nichts dergleichen. Seufzend griff ich nach dem Ei und stellte mich innerlich bereits auf eine Sauerei ein. Kochen war noch nie meine Stärke gewesen, das wusste ich spätestens, seit Mrs Carter mir verboten hatte, weiter an ihrem Hauswirtschaftskurs teilzunehmen. Dabei war es wirklich nur ein kleiner Brand gewesen, außerdem war ich damals dreizehn Jahre alt gewesen. In dem Alter brannte jedem etwas an. Allerdings rückten nicht bei jedem Feuerwehr und Polizei an.

 

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