Book Read Free

Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us

Page 11

by Iosivoni, Bianca


  Jeder meiner Muskeln schien zu erstarren und es dauerte keine zwei Sekunden, bis sich eine Gänsehaut auf meinem gesamten Körper ausbreitete. Meine linke Seite war komplett nass. Kaltes Wasser durchdrang meine Kleidung und vereinzelte Tropfen liefen meine nackten Arme und Beine hinab.

  »Was war das?«, keuchte ich.

  »Das war Hollys Rache.« Keith klang so zufrieden, dass ich ihm dieses verdammte Grinsen am liebsten aus dem Gesicht gewischt hätte.

  Ich starrte erst ihn mit offenem Mund an, dann meine oh so unschuldig dreinblickende kleine Schwester. »Verbündet ihr zwei euch jetzt auch noch gegen mich?«

  Na wartet! Die nächste halbe Stunde verbrachten wir damit, uns gegenseitig nass zu spritzen, bis auch Keith völlig durchnässt war und Holly im Fluss landete. Danach lagen wir auf der Wiese in der Sonne. Während ich mit geschlossenen Augen döste, begann Holly wieder mit ihren Fragen. Und für eine kurze Weile schien nicht nur die Zeit stehen zu bleiben, sondern auch alles andere unwichtig zu werden. Wir waren wieder die Kinder von früher. Sorglos. Unbekümmert. Bevor das Schicksal uns auseinandergerissen hatte.

  Mit einer dampfenden Tasse Tee in den Händen trat ich nach draußen und atmete tief die abendliche Luft ein. Bis auf das Licht unserer Veranda, die paar Lampen im Garten und den hellen Mond war es dunkel. Grillen zirpten in den Büschen und aus den Bäumen drang ein leises Rascheln, wenn der Wind durch die Blätter strich. Vielleicht war es aber auch nur die Nachbarskatze, die sich wieder mal auf unser Grundstück verirrt hatte.

  Seufzend lehnte ich mich gegen den Stützpfeiler am Geländer und ließ meinen Blick in die Nacht hinauswandern. Der ganze Tag steckte mir noch immer in den Knochen und obwohl ich mich bereits zweimal mit irgendwelchen von Stellas Lotionen eingerieben hatte, brannte meine Haut auch jetzt noch. Vermutlich sah ich aus wie ein frisch gekochter Hummer und roch wie eine ganze Drogerie.

  Inzwischen war Stella zu ihrer abendlichen Schicht ins Krankenhaus aufgebrochen und Holly lag vermutlich schon im Bett. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie spät es war, aber als wir von unserem Tagesausflug zurückgekehrt waren, war es bereits dunkel gewesen.

  »Das ist wohl der Moment, in dem ich mich bemerkbar machen sollte.«

  Vor Schreck zuckte ich so heftig zusammen, dass ich beinahe meine Tasse fallen ließ. Der heiße Tee schwappte mir über die Finger und ich stieß einen Fluch aus. Autsch.

  Mit hämmerndem Herzen wirbelte ich herum. Keith saß in einem der Korbstühle. Ich konnte seine Züge nicht ausmachen, da das Licht der Lampe nicht bis zu seinem Gesicht reichte. Was ich aber sah, war der rotglühende Punkt, der in der Dunkelheit aufleuchtete. Dann drang mir der Geruch in die Nase und ich verzog das Gesicht.

  »Du rauchst?«

  »Jeder braucht ein Laster«, erwiderte er nur.

  Hm. Ich hatte mit einer sarkastischen Antwort oder einer Retourkutsche gerechnet, aber nicht damit. Stirnrunzelnd sah ich ihm dabei zu, wie er die Zigarette erneut an seine Lippen führte und den Rauch ausstieß. Zur Seite, und damit bewusst nicht in meine Richtung.

  »Hast du eine Ahnung, was das in deinem Körper anrichtet?«

  Ich konnte sein Grinsen vielleicht nicht sehen, hörte es aber überdeutlich in seiner Stimme. »Ach? Sag bloß, du machst dir Sorgen um mich.«

  Ganz sicher nicht.

  Ich stellte meine Tasse auf dem Geländer ab und verschränkte die Arme vor der Brust. »Weiß Stella Bescheid?«

  »Nein.« Er drückte den Stummel aus, rieb sich mit den Händen über seine Jeans und stand dann auf. »Und ich wäre dir dankbar, wenn das so bleibt. Sie hat genug andere Sorgen.«

  Ich hatte schon Luft geholt, um zu protestieren und ihm jedes einzelne grauenhafte Detail dessen zu beschreiben, was Nikotin im menschlichen Körper anrichtete, doch seine Worte ließen mich innehalten. Widerwillig biss ich die Zähne zusammen und lehnte mich mit der Kehrseite gegen das Geländer.

  »Es ist deine Sache«, murmelte ich nur. Sollte er sich doch zu Tode qualmen.

  Keith trat neben mich, stützte sich mit den Händen auf das Geländer und sah mich an. »Danke, Callie.«

  Ein warmer Schauer kroch meine Wirbelsäule hinab, als ich meinen Namen aus seinem Mund hörte. Sofort schob ich dieses Gefühl beiseite und funkelte ihn an. »Das tue ich nicht für dich.«

  Seine Mundwinkel hoben sich. »Ich weiß.«

  Dann blickte er wieder geradeaus in die Ferne und Stille senkte sich über uns. Eine überraschend angenehme Stille. Es erinnerte mich an letzte Nacht, als wir zusammen auf dem Dach gesessen und geschwiegen hatten. Scheinbar waren das die einzigen Momente, in denen wir es tatsächlich miteinander aushielten.

  »Himmel …«, murmelte Keith nach einer Weile. »Du strahlst so viel Wärme aus wie ein Backofen.«

  »Ich habe einen Sonnenbrand, du Idiot!«

  Er grinste. »Das sehe ich.«

  So viel zum Thema Schweigen. Oder es miteinander aushalten. Ich hätte ihn schon längst einfach stehen lassen sollen, aber meine Füße wollten sich nicht in Bewegung setzen. Irgendetwas hielt mich hier fest, genauso wie es mich vergangene Nacht auf dem Dach festgehalten hatte. Ich verstand nur nicht, was es war.

  Mehrere Minuten verstrichen, in denen keiner von uns etwas sagte. Es hätten aber genauso gut Stunden oder auch nur Sekunden sein können. Meine kreisenden Gedanken kamen zur Ruhe, meine schmerzenden Muskeln begannen sich zu entspannen.

  »Ich mag das.« Seine Stimme war so leise, dass ich mir im ersten Moment nicht sicher war, sie tatsächlich gehört zu haben. »Für ein paar Stunden hast du fast vergessen, dass du mich hasst.«

  Nicht nur fast. Ich hatte es für eine kurze Zeit ganz vergessen und den Tag mit ihm und Holly genossen, obwohl ich das nie für möglich gehalten hätte. Vor dieser Wanderung hätte ich Geld darauf verwettet, dass ich Keith im Fluss ertränken würde. Stattdessen hatten wir uns eine Wasserschlacht mit Holly geliefert.

  Nachdenklich betrachtete ich Keith von der Seite. Sein Profil verschmolz beinahe mit der Dunkelheit, was auch an seinen dunklen Haaren und dem Dreitagebart lag. Sekunden verstrichen, in denen er sich nicht bewegte, als würde er meine Musterung nicht mal bemerken. Dann drehte er den Kopf und mein Herz polterte los, als sich unsere Blicke trafen. Einen Moment lang war ich wieder die Dreizehnjährige, die ihren Stiefbruder angehimmelt hatte, auch wenn sie das nie hatte zeigen dürfen. In diesen Sekunden schien alles möglich zu sein, weil nichts anderes mehr zählte. Nicht das, was damals geschehen war. Nicht das, was heute zwischen uns stand und für immer zwischen uns stehen würde.

  Bevor ich mich versah, hatte ich mich ihm ganz zugewandt. Ohne Sicherheitsabstand. Ohne Luft zum Atmen. Keith starrte mich an, als würde er mich zum ersten Mal sehen. Seine Augen schienen mit der Finsternis zu verschmelzen, so dunkel waren sie auf einmal geworden. Er rührte sich nicht von der Stelle, als hätte er Angst, eine einzige Bewegung von ihm könnte mich aus meiner Trance reißen. Und vielleicht hatte er recht damit.

  Ich atmete tief ein und schloss die Augen, als mich sein warmer Duft umfing. Die Mischung aus seinem Duschgel, Zigarettenrauch und sonnengewärmter Haut kitzelte in meiner Nase. Aber da war noch etwas anderes, eine weitere Nuance, die mir so vertraut war, dass sich etwas in meiner Brust zusammenzog. Weil es sein Geruch war, der so sehr zu ihm gehörte wie seine tiefe Stimme und das lässige Lächeln, das er so gern zur Schau trug.

  Ich spürte, wie er näherkam. Spürte, wie er seine Hand hob und wich nicht zurück. Meine Finger vergruben sich in etwas, das ich erst verspätet als den Stoff seines T-Shirts erkannte. Es war die Berührung an meiner sonnenverbrannten Haut, die mich in die Realität zurückholte. Ich zuckte vor Schmerz zusammen und riss die Augen auf. Keiths Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt. Viel zu nah.

  Meine Kehle schnürte sich zu, als alles wieder über mir hereinbrach. Wie er mich damals im Krankenhaus angesehen hatte. Wie er gegangen war. Wie ich mein Leben ohne ihn fortgesetzt hatte – und ohne meinen Dad, weil er ihn mir genommen hatte.

  Ich stieß seine Hand beiseite
und stolperte zurück. Einen Schritt, dann noch einen, bis ich mit dem Rücken gegen einen Stützpfeiler prallte.

  »Callie …« Keith ließ seine Hand sinken, mich jedoch nicht aus den Augen. Ein Schmerz, den ich nie zuvor bei ihm gesehen hatte, verdüsterte sein Gesicht. »Tu das nicht.«

  »Tu was nicht?«, schoss ich zurück und straffte die Schultern, nachdem ich mein Rückgrat wiedergefunden hatte. »Das einzig Richtige? Das hätte ich getan, wenn ich dich geohrfeigt hätte.«

  »Du hast recht.« Zu meiner Erleichterung trat Keith keinen Schritt näher, aber seine Züge verhärteten sich und er schob die Hände in seine Hosentaschen, als müsste er sich davon abhalten, mich zu packen und durchzuschütteln. »Du könntest mich ohrfeigen. Du könntest stundenlang auf mich einprügeln, aber soll ich dir was sagen?«

  Ich hielt den Atem an. Ein Teil von mir ahnte bereits, was gleich kommen würde und betete im Stillen darum, dass er es nicht tat. Dass er nicht auch noch dieses Messer in meine Brust rammte.

  »Es wird ihn nicht zurückbringen«, sprach Keith meine schlimmsten Befürchtungen aus. »Nichts, was du oder ich je tun, wird ihn zurückbringen. Und egal wie sehr du mich hasst, es wird nicht mal ansatzweise daran heranreichen, wie sehr ich mich selbst dafür hasse.«

  Nicht seine Worte bohrten das Messer noch tiefer in meine Brust, sondern sein Gesichtsausdruck. Ich kannte diesen Schmerz in seinen Augen, kannte die Verzweiflung und diese unendliche Wut, weil ich sie jeden Tag aufs Neue im Spiegel sah. Aber er hatte nicht das Recht, irgendetwas davon zu empfinden. Er war hier nicht das Opfer, sondern der Schuldige, und nichts von dem, was er mir erzählte, würde je etwas daran ändern können.

  »Ich weiß, dass Holly und deine Mom dich hier haben wollen, aber das gilt nicht für mich«, sagte ich betont ruhig. Doch hinter meinem Rücken bohrte ich die Fingernägel so fest in meine Handflächen, dass der Schmerz mich zittern ließ. »Es ist mir egal, ob du dich selbst dafür hasst oder nicht. Ich werde dir nie verzeihen, was damals passiert ist. Nicht heute, nicht morgen und auch nicht in zehn Jahren.« Damit stieß ich mich von dem Pfeiler ab und marschierte zurück ins Haus.

  Ohne auf eine Antwort zu warten. Ohne ihm die Chance zu einer zu geben.

  Ihm konnte ich vielleicht vormachen, nichts zu empfinden, nicht auf seine Nähe zu reagieren, sie sogar zu verabscheuen, aber als ich in meinem Zimmer angekommen war und einen Blick in den Spiegel erhaschte, wusste ich, dass es eine Lüge war. Meine Wangen waren nicht nur aufgrund des Sonnenbrands gerötet und meine Pupillen nicht nur vor Wut und Abscheu geweitet. Mein Herz raste noch immer und ich zitterte am ganzen Körper, als ich mich aufs Bett warf. Gleichzeitig kreisten meine Gedanken um diese eine Frage, die ich mir nicht stellen wollte: Was war da eben fast passiert?

  7

  Mein Atem kam keuchend und begleitete jeden meiner Schritte, zusammen mit dem stechenden Schmerz in meiner Seite, aber ich blieb nicht stehen. In meinen Ohren wummerten die Bässe irgendeines Liedes ohne jeden Text. Die Kabel meiner Kopfhörer klebten inzwischen genauso auf meiner Haut wie der Stoff meines Tanktops und Strähnen meines Haars. Das war der Nachteil daran, es nur mittellang zu tragen – es hing einem ständig ins Gesicht. Insbesondere dann, wenn man eine zweistündige Joggingtour einlegte.

  Ich blieb am Straßenrand stehen und stützte mich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab. Meine Brust brannte bei jedem Atemzug und weiße Punkte tanzten vor meinen Augen. Mist. Ich hatte es eindeutig übertrieben. Aber wer rechnete auch damit, nach über einem Jahr ohne Training nicht mehr in Form zu sein?

  Ächzend richtete ich mich auf und hielt mir die schmerzende Seite. An diesem Tag hingen die Wolken tief und die geteerte Straße glänzte noch immer feucht. Es hatte bis zum Morgengrauen geregnet, und wenn der dunkle Himmel über mir auf etwas schließen ließ, dann darauf, dass es mit dem Regen noch nicht vorbei war. Gleichzeitig hing noch immer die Hitze der letzten Tage in der Luft, was für ein beinahe tropisches Klima sorgte. Ein weiterer Grund dafür, dass meine Kleidung an mir klebte und meine Haut von einer Schweißschicht bedeckt war.

  Zugegeben, heute Morgen joggen zu gehen, war nicht meine klügste Idee gewesen, nachdem Faye und ich uns gestern bei ihr getroffen und einen Serienmarathon eingelegt hatten. Mit jeder Menge Wein. Zu viel Wein. Das dumpfe Pochen in meinem Hinterkopf erinnerte mich noch immer daran, aber ich bereute keine Sekunde. Höchstens die Tatsache, dass ich ihr nichts von Keith erzählt hatte. Wir hatten über alles Mögliche geredet, und sie hatte mir stundenlang von ihrem Verlobten erzählt und jedes Detail seines Antrags beschrieben, aber ich hatte den Moment mit Keith auf der Veranda mit keinem Wort erwähnt. Weil er bedeutungslos war. Ganz einfach.

  Mittlerweile war unser Ausflug in den Talladega National Forest fast zwei Wochen her. Wenige Tage danach waren wir zu Hollys Abschlussfeier gegangen, hatten applaudiert, als sie ihre Urkunde erhalten hatte und waren zur Feier des Tages nach Birmingham gefahren, um zusammen essen zu gehen wie eine ganz normale Familie. Danach hatte ich nur wenig von meinem Stiefbruder gesehen oder gehört, auch wenn er noch immer in unserem Haus wohnte. Ausnahmsweise schien er jedoch meine Wünsche zu respektieren und sich von mir fernzuhalten – oder ich war einfach nur sehr gut darin geworden, ihm wann immer möglich aus dem Weg zu gehen.

  Ich setzte mich wieder in Bewegung, auch wenn jeder Muskel meines Körpers dagegen protestierte, aber ich wusste, wie wichtig ein Cooldown nach einer Sporteinheit war. Ganz besonders dann, wenn man sich übernommen hatte, weil man total aus der Übung war. Ich hielt mich am Straßenrand, während links und rechts von mir Bäume und Sträucher in den Himmel ragten. Rechts ein bisschen höher, weil links ein Abhang hinabführte, der …

  Ich blieb abrupt stehen. Ohne jede Vorwarnung begann mein Herz zu rasen, noch bevor mein Verstand begriffen hatte, was es so in Aufruhr versetzt hatte. Als ich losgelaufen war, hatte ich nur zu Beginn auf den Weg geachtet. Irgendwann war ich abgebogen und einfach immer weitergelaufen, ohne mir dabei etwas zu denken. Ich war der festen Überzeugung gewesen, mich zu verirren wäre das Schlimmste, was mir passieren könnte, aber ich hatte mich getäuscht. Denn das hier, dieser Ort, war schlimmer als alles andere.

  Nach und nach strömten die vertrauten, längst vergessen geglaubten Eindrücke auf mich ein. Die Straße mit den Schlaglöchern, in denen sich das Regenwasser gesammelt hatte. Die doppelte gelbe Linie in der Mitte, die an manchen Stellen so verblasst war, dass man sie kaum noch sah. Der erdige Geruch von Wald und Holz. In meiner Erinnerung mischte sich der Gestank von Benzin und Verbranntem dazu, bis ich fast würgen musste.

  Obwohl sich alles in mir dagegen sträubte, drehte ich den Kopf nach links. Es gab keine Absperrung. Nur eine weiße Linie, die niemanden davor bewahrte, den Abhang hinunterzustürzen. Und mit einem Mal war ich wieder dort. Krächzende Schreie drangen durch das Rauschen in meinen Ohren. Ich sprintete los, rannte über die Straße, ohne einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, mich umzusehen. Zweige griffen nach mir und Dornen hinterließen ihre brennende Spur auf meiner Haut, als ich den Abhang hinunterlief. Meine Sportschuhe versanken fast im weichen Waldboden, aber ich blieb nicht stehen. Ich konnte nicht stehen bleiben, bis ich mein Ziel erreicht hatte.

  Einundzwanzig Meter. So weit war das Auto gerollt, nachdem es von der Straße abgekommen war. Einundzwanzig Meter, vorbei an wilden Sträuchern und Steinen, bis ein Baumstamm der Fahrt ein jähes Ende gesetzt hatte. Hektisch wanderte mein Blick umher, maß jeden Baum um mich herum prüfend, bis ich ihn fand. Meine Beine stellten ihre Funktion ein, hielten einfach an, und ich fiel vornüber auf Hände und Knie. Egal. Weiter. Immer weiter. Ich musste dorthin. Musste mit eigenen Augen sehen, was ich nur aus dem Bericht der Polizei und den Bildern der Lokalzeitung kannte.

  Sieben Jahre. Sieben Jahre lang war ich nicht hierher zurückgekehrt, sondern hatte diese Strecke gemieden, als würde sie nicht existieren. Jetzt war ich wieder hier, unbewusst, ungewollt, aber ich konnte nicht einfach umkehren. Obwohl ein Teil in mir darauf drängte, ach was, darum bettelte, dass ich auf dem Absatz kehrtmachte und von hier verschwand, rappelte ich mich auf un
d ging weiter. Erst als ich den Stamm erreichte, der so breit war, dass nicht einmal zwei Menschen ihn mit den Armen umfassen konnten, blieb ich stehen.

  Meine Hand zitterte, trotzdem streckte ich sie aus und fuhr mit den Fingerkuppen über die tiefe Delle in der Rinde. Sie fühlte sich so rau und trocken an wie eine Narbe. Alles andere mochte mittlerweile nachgewachsen und überwuchert sein, aber nicht diese Stelle. Der Baum würde nie vergessen, welche Tragödie hier stattgefunden hatte. Genauso wenig wie ich.

  »Hey!« Eine fremde Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Alles in Ordnung da unten?«

  Ich blinzelte in dem Versuch, das Brennen in meinen Augen loszuwerden, und atmete tief ein, damit sich die Enge in meiner Brust löste. Erfolglos. Langsam drehte ich mich um und schirmte meine Hand gegen das Licht ab, als ich den Abhang hinaufsah. Am Rande der Straße stand ein Mann in einem khakifarbenen Hemd und einer dunklen Hose. An seinem Gürtel hing etwas, das wie ein Funkgerät aussah, außerdem ein Pistolenholster samt Inhalt.

  Abwehrend hob ich die Hände. »Alles okay!«, rief ich. Nach einem letzten Blick auf den Baum machte ich mich an den Aufstieg. Seltsamerweise erwies sich dieser als schwieriger als gedacht. Ich war so schnell hinuntergeeilt, dass ich nicht einmal gemerkt hatte, wie meine Haut zerkratzt und meine Knie aufgeschrammt wurden. Jetzt spürte ich alles davon mit jeder Bewegung, während ich langsam den Abhang hinaufkletterte.

  Ich war fast oben angekommen, als eine Hand in meinem Sichtfeld auftauchte. Sie war groß und kräftig und von der Sonne gebräunt. Ich ergriff sie, ohne nachzudenken, und ließ mich von ihr auf die Straße ziehen.

  »Danke.« Als ich mich aufrichtete und den Kopf in den Nacken legte, um dem Mann ins Gesicht zu blicken, überkam mich ein seltsames Gefühl von Déjà-vu.

  Er war etwa einen Kopf größer als ich, wenn auch nicht so groß wie Keith. Und auch sonst wich er völlig von meinem Stiefbruder ab. Sein Haar hatte einen warmen, sonnengebleichten Blondton, wie man ihn von Surfern kannte, nur die Länge passte nicht zu diesem Bild, da sie dafür eindeutig zu kurz waren. Ein paar Sommersprossen zierten seinen Nasenrücken und seine Wangen, was ihn deutlich jünger wirken ließ, als ich ihn zuerst eingeschätzt hatte. Er musste in meinem Alter sein, höchstens ein, zwei Jahre älter.

 

‹ Prev