Book Read Free

Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us

Page 15

by Iosivoni, Bianca


  Sie winkte uns zum Abschied, doch selbst nachdem die Haustür hinter ihr ins Schloss gefallen war, hingen ihre Worte noch immer in der Luft wie eine Erinnerung, die ich nicht greifen konnte. Oder wie eine Warnung. Es ist immer die erste große Liebe, die man nie vergisst. Ich schüttelte den Kopf und schob den Gedanken beiseite.

  »Von wegen Dean«, brummte Holly neben mir. »Er ist ein Idiot.«

  »Und was ist dann Logan bitte?«, nahm ich die Diskussion wieder auf und tauchte meine Hand in die Schale voll Popcorn. »Jess ist wenigstens klug und weiß, was er will. Er ist ein Rebell und Bad Boy, der auf Bücher steht. Er schreibt sogar Bücher!«

  »Ein Buch. Ein einziges.«

  »Wow, er hat nur ein Buch geschrieben. Du hast recht, er ist ein Arsch.«

  Ein Stück Popcorn traf mich am Kopf.

  »Hey! Mit Essen wird nicht geworfen«, rief ich entrüstet.

  »Doch, wenn das die einzige Art ist, damit du zur Vernunft kommst«, konterte Holly schulterzuckend.

  »Ach so? Also wirst du, wenn du während deiner Weltreise mit irgendetwas unzufrieden bist, den Leuten einfach Essen an den Kopf werfen?« Ich schnaubte extralaut, da in diesem Moment auch noch Logan auf dem Bildschirm auftauchte. Schon wieder. »Ich komme dich dann im Knast besuchen.«

  Holly verdrehte die Augen, gab aber Ruhe. Offenbar war die Szene, mit der sie mich gerade folterte, eine ihrer Lieblingsstellen. Mal ehrlich, Team Logan? Nein. Einfach nur nein. Ich stand auf die in sich gekehrten, düsteren Rebellen mit dunklen Haaren. Nicht auf die reichen Schnösel, die so viel Charme versprühten, dass man darin ausrutschen und sich das Genick brechen konnte.

  Die Haustür ging auf und ich warf einen beiläufigen Blick auf mein Handy. Ob Stella etwas vergessen hatte? Falls nicht, wäre das ein ganz schön kurzes Date gewesen, schließlich war sie erst vor rund fünf Minuten losgefahren. An die einzig andere logische Möglichkeit wagte ich nicht zu denken, weil ich es mir schon seit diesem unglückseligen Zusammenstoß im Badezimmer vor ein paar Tagen strikt verbot, an ihn zu denken. An jeden Teil von ihm. Daran, wie er mich angesehen und was er gesagt hatte. Wie besorgt er aus irgendeinem Grund gewesen war … Lieber rechnete ich damit, dass gleich unser Nachbar Mr Perkins auf der Suche nach seiner Katze im Flur erschien. Oder die Aliens, um ihre leibliche Tochter zurückzuholen.

  »Hey …« Keiths tiefe Stimme strich wie eine warme Sommerbrise über meine Haut. Ich reagierte sofort, indem sich jeder Muskel in meinem Körper anspannte.

  »Wie war die Arbeit?«, rief Holly, ohne sich umzudrehen.

  Arbeit? Ich runzelte die Stirn. Bis zu diesem Moment hatte ich nichts davon gewusst, dass Keith einen Job gefunden hatte. Aber es ergab Sinn. So selten, wie wir uns tagsüber sahen, musste er seine Zeit irgendwo anders verbringen. Und hatte er nicht auch gesagt, er würde sich eine eigene Wohnung suchen wollen? Je schneller, desto besser.

  Obwohl ich genau wusste, dass es ein Fehler war, drehte ich den Kopf in seine Richtung.

  »Anstrengend.« Er warf uns ein müdes Lächeln zu, wobei sein Blick eine Sekunde zu lang an mir hängen blieb. Doch das genügte, damit sich etwas in meinem Bauch zusammenzog.

  Trotzdem bemerkte ich die tiefen Schatten unter seinen Augen ebenso wie die Erschöpfung darin. Keith schien nicht einfach nur kaputt zu sein, weil er einen harten Tag hinter sich hatte. Er war total fertig.

  »Ich hole mir etwas zu essen – falls ihr was übrig gelassen habt, versteht sich – und gehe ins Bett. Gute Nacht.« Bei seinen letzten zwei Worten sah er wieder zu mir – und ging.

  Ich starrte auf die Stelle zwischen Flur und Wohnzimmer, an der Keith bis eben noch gestanden hatte, und versuchte das seltsame Gefühl von Enttäuschung zu verdrängen. Es gab absolut keinen Grund, enttäuscht darüber zu sein, dass er weg war. Wenn überhaupt, sollte ich erleichtert sein. Dankbar. Überglücklich. Irgendetwas, nur nicht enttäuscht.

  Kopfschüttelnd wandte ich mich von dem leeren Durchgang zum Flur ab und wieder der Serie zu. Die letzten Minuten waren völlig an mir vorbeigegangen und auch jetzt kam ich nur schwer wieder rein, weil meine Gedanken um alles Mögliche, nur nicht um Rory und Lorelai kreisten. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Als Logan ein weiteres Mal auf dem Bildschirm erschien, nutzte ich die Szene, um aufzustehen und in die Küche zu gehen. Holly schien es nicht mal zu bemerken, so sehr klebte ihr Blick am Fernseher.

  Mit hämmerndem Herzen näherte ich mich der Küche. Keith hatte Licht gemacht und stand etwas schwankend neben der Kücheninsel. Vor ihm ein Teller, ein Messer und eine Packung Toast, aber keine Zutaten. Ich konnte mir das Trauerspiel nicht länger ansehen.

  »Setz dich«, sagte ich und öffnete den Kühlschrank. Tomaten, saure Gurken, Käse und irgendwo mussten auch noch die Reste der Burger sein, die wir gestern Abend nicht mehr geschafft hatten. Ich fand das gebratene Fleisch in einem abgedeckten Teller und holte es heraus. Erst jetzt bemerkte ich, dass Keith sich nicht von der Stelle gerührt hatte, sondern mich mit einem verwunderten Ausdruck betrachtete.

  Aus der Nähe sahen die Schatten unter seinen Augen sogar noch dunkler aus und der warme Geruch von Holz schien an ihm zu haften. War das neu? Oder war es mir bisher einfach noch nicht aufgefallen? Mein Blick fiel auf einige helle Punkte auf seiner Kleidung und ich erkannte die feinen Sägespäne am Saum seines schwarzen T-Shirts.

  »Setz dich«, wiederholte ich, diesmal eine Spur energischer, und schob ihn zur Seite, um an die frischen Kräuter zu kommen, die Stella so dekorativ nebeneinander auf der Arbeitsfläche aufgestellt hatte.

  »Aber …«

  »Setz dich, bevor du umfällst, dir den Kopf anschlägst und ich gezwungen bin, Erste Hilfe zu leisten.«

  Ein Schnauben ertönte neben mir, aber Keith bewegte sich tatsächlich. Ächzend ließ er sich auf einen der Stühle am Esstisch fallen. »Das würde dir gefallen, was?«

  »Dass du dir den Kopf anschlägst? Und wie.«

  Seine Mundwinkel zuckten. »Ich dachte da eher an die Mund-zu-Mund-Beatmung.«

  Nun war es an mir, verächtlich zu schnauben. »Das hättest du wohl gern«, murmelte ich, während ich die Mayonnaise mit mehr Gewalt als nötig öffnete. Erst als ich sie über die beiden Toastscheiben hielt, wurde mir bewusst, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie Keith sein Sandwich mochte. Für Holly und Stella hätte ich problemlos etwas zusammenstellen können. Aber für Keith? »Wie isst du dein Sandwich?«

  Mit einem Nicken deutete er auf die Plastikflasche in meiner Hand. »Genau damit. Und mit jeder Menge Fleisch.«

  Natürlich. Wieso hatte ich überhaupt gefragt?

  »Was ist mit Gemüse?«

  Keith verzog das Gesicht. »Nur, wenn es unbedingt sein muss.«

  Statt zwei packte ich ihm vier Salatblätter aufs Brot. Ha. Die ganze Zubereitung dauerte nur wenige Minuten, dennoch spürte ich Keiths Blick die ganze Zeit über auf mir. Egal, ob ich konzentriert die Tomate in Scheiben schnitt, mich auf der Suche nach Zwiebeln durch die Schränke wühlte oder den Kopf in den Kühlschrank steckte. Keith rührte sich nicht vom Fleck, aber sein Blick folgte mir bei jeder Bewegung. Als ich endlich fertig war, glühten meine Wangen und meine Haut prickelte, als würde eine Armada Ameisen darüber krabbeln.

  »Hier.« Ich stellte den Teller vor ihm auf den Tisch.

  Obwohl er nicht nur total erledigt, sondern auch ausgehungert wirkte, stürzte sich Keith nicht sofort auf das Sandwich, sondern studierte mein Gesicht mit einer Intensität, die mich wahnsinnig machte. Wahnsinnig deshalb, weil ich das amüsierte Funkeln in seinen Augen durchaus wahrnahm – und es ärgerte mich.

  »Es ist nicht vergiftet«, knurrte ich und setzte mich auf den Stuhl schräg gegenüber. »Muss ich erst selbst abbeißen, damit du mir glaubst?«

  Er hob die Mundwinkel zu einem müden Lächeln. »Gift wäre zu unkreativ für dich. Ich dachte eher an Glasscherben, Nadeln oder andere kleine scharfe Gegenstände.«

  »Du hast mich keine Sekunde aus den Augen gelassen«, gab ich zurück. »Wann hätte ich irgendetwas davon reinschütten sollen?«


  Keith zuckte mit den Schultern und griff nach seinem Sandwich. »Keine Ahnung. Du hast sicher noch ein Ass im Ärmel.«

  »Ich bin ärmellos, du Schlaumeier.« Wie zur Bestätigung hob ich meine Arme. Ich trug nur ein schlichtes schwarzes Tanktop und meine Leggings hatten keinerlei Taschen, um irgendetwas darin zu verstecken. Keith war also sicher. Fürs Erste zumindest.

  Statt sich ein weiteres Wortduell mit mir zu liefern, biss Keith von seinem Sandwich ab. Ich hatte so viel draufgepackt, dass er es mit beiden Händen festhalten musste, damit die ganzen Zutaten nicht herausfielen. Gespannt wartete ich auf seine Meinung … und wurde mit einem genießerischen Stöhnen belohnt. Der tiefe Laut fuhr mir geradewegs bis in den Unterleib. Ich presste meine Oberschenkel zusammen und verfluchte meine dummen Hormone. Anscheinend wollten sie mich auf den Stand der pubertierenden Dreizehnjährigen zurückkatapultieren.

  »Oh mein Gott!« Hollys überraschte Stimme ließ mich zusammenzucken. Ich drehte mich auf dem Stuhl um, gerade rechtzeitig, um zu bemerken, wie sie uns mit offenem Mund anstarrte. »Ich habe euch reden gehört, aber dann war plötzlich Stille und ich musste nachsehen, ob ihr noch am Leben seid oder ich euch beide in einer Blutlache vorfinde. Aber das hier?« Sie deutete zwischen Keith und mir hin und her.

  »Was willst du?«, brummte Keith mit vollem Mund und schluckte den Bissen hinunter.

  »Ein Foto. Ich muss für die Nachwelt festhalten, dass es tatsächlich einen Moment in der Geschichte der Menschheit gab, in dem ihr euch nicht gegenseitig umbringen wolltet. Oder eher Callie dich«, fügte sie mit einem Nicken in Keiths Richtung hinzu. »Bin gleich zurück. Wehe, ihr bewegt euch!«

  Und damit machte sie auch schon auf dem Absatz kehrt. Kurz darauf hörte ich ihre polternden Schritte auf der Treppe.

  Keith und ich sahen uns an, aber er hob nur eine Schulter, als würde ihn das alles nichts angehen. »Schau mich nicht so an. Sie ist deine Schwester.«

  »Da bin ich mir nicht so sicher …«, murmelte ich.

  Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, kehrte Holly auch schon zurück. Sie hielt sich ihre digitale Spiegelreflexkamera vors Gesicht.

  »Sagt Cheese!«, rief sie, nur um sich im selben Atemzug selbst zu widersprechen. »Nein, sagt das nicht, dabei seht ihr gruselig aus.«

  Klick. Das Blitzlicht ließ mich kurzzeitig erblinden, dann war der Spuk vorbei.

  Während ich noch gegen die Sternchen vor meinen Augen anblinzelte, schüttelte Keith bereits den Kopf. »Wie willst du uns eigentlich Fotos von deiner Weltreise schicken, wenn du immer noch nicht gelernt hast, wann du den Blitz einsetzen musst und wann nicht?«

  Holly ließ die Kamera sinken und streckte ihm die Zunge raus. »Darum besuche ich einen Fotografie-Kurs. Außerdem werden meine Fotos fantastisch sein und du kannst dich glücklich schätzen, wenn du überhaupt welche von mir bekommst, Brüderchen.«

  Ich wusste nicht wieso, aber beim Wort Brüderchen zuckte ich zusammen. Keith war alles Mögliche, aber sicher nicht unser Bruder. Völlig egal, was er selbst, Holly oder auch das Gesetz behaupteten. Keith war nicht mit uns verwandt. Ich würde niemals so auf jemanden reagieren, der wie ein Bruder für mich war.

  »Alles in Ordnung?« Er musterte mich aus zusammengekniffenen Augen und ich spürte auch Hollys fragenden Blick auf mir.

  »Klar.« Hastig stand ich auf. »Ich musste nur gerade daran denken, dass ich mich noch ein paar Stunden länger mit Logan Huntzberger herumschlagen muss.«

  »Ha!«, machte Holly. »Deshalb bin ich hier. Die nächste Folge hat angefangen. Kommst du?«

  »Schon unterwegs.« Ich schob den Stuhl zurecht. Obwohl ich es zu vermeiden versuchte, konnte ich nicht verhindern, dass sich Keiths und mein Blick noch einmal trafen. Die Skepsis in seinem Gesicht war nicht zu übersehen – genauso wenig wie eine widerliche Zufriedenheit, die sich jetzt daruntermischte.

  »Viel Spaß …«, wünschte er mir mit einem so verschmitzten Lächeln, als wüsste er mehr als ich. »Schwesterchen.«

  Ein Lachen drang an meine Ohren und ich brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass es meines war.

  »Komm schon, Dad!«, rief ich und zupfte ungeduldig an seinem Sakko.

  »Ist ja gut, Kleines.« Sein Lächeln war warm, als er mir über den Kopf strich. »Ich bin gleich so weit. Geh doch schon mal runter und sag deiner Schwester und Stella Bescheid, was wir vorhaben.«

  Ich schob die Unterlippe vor. Am liebsten wäre ich sofort losgefahren. Das hier war so aufregend, dass ich unbedingt Faye davon erzählen musste. Sie würde ausflippen! Ich sah mich schon am Montag in der Schule, wie ich ihr jedes Detail erzählte. Fahrunterricht. Mit Keith! Und ich durfte dabei sein. Allein beim Gedanken daran wummerte mein Herz los, so wie es das immer tat, wenn mein Stiefbruder in der Nähe war. Oder ich an ihn dachte. Oder über ihn redete. Also fast ständig.

  Stellas Stimme kam aus dem Garten. Ich sprang die letzte Treppenstufe hinunter, flitzte durch die Küche und die offene Terrassentür nach draußen. Die Sonne schien warm an diesem Junitag und am Himmel war kaum eine Wolke zu sehen. Ich entdecke Holly, die in ihrem Reifen saß und schaukelte. Das Seil war am größten Baum befestigt. Dad hatte uns verboten, hochzuklettern, aber vor ein paar Wochen hatten Holly und ich es trotzdem getan. Und es war nichts passiert! Aber meine Wangen begannen zu glühen, als ich daran dachte, wie ich letztes Jahr von einem anderen Baum runtergefallen war und wie lieb Keith sich um mich gekümmert hatte.

  »Callie!«

  Ich zuckte ertappt zusammen und wirbelte herum. Stella saß im Schatten des Verandadachs in einem gepolsterten Sessel und betrachtete mich amüsiert.

  »Wo warst du denn mit deinen Gedanken, Liebes?«

  Oh. Nirgendwo. Hastig schüttelte ich meinen hochroten Kopf und erzählte ihr, was wir unternehmen wollten. Irgendwie wirkte Stella nicht begeistert, denn ihr Gesicht sah auf einmal so düster aus.

  »Mach dir keine Sorgen«, sagte ich leichthin und hörte ihre Antwort schon nicht mehr, weil Dad nach mir rief. »Wir sind bald zurück.«

  Aber einer von uns kehrte niemals zurück.

  Ich schlug die Augen auf und starrte in die Dunkelheit. Meine Brust hob und senkte sich so schnell, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Schlimmer war nur der heiße Schmerz, der sich wie ein Schnitt durch meinen Oberkörper zog. Um ehrlich zu sein wäre mir eine echte Schnittwunde lieber gewesen. Haut und Knochen, Muskeln und Gewebe verheilten. Sie hinterließen Narben, aber sie heilten. Für Gefühle galt das nicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es eines Tages weniger wehtun würde als jetzt. Dass der Schmerz mir nicht die Kehle zuschnüren würde, bis ich das Gefühl hatte, ersticken zu müssen.

  Ich setzte mich in meinem zerwühlten Bett auf und rieb mir mit beiden Händen über das Gesicht. Minutenlang verharrte ich so, mit angezogenen Knien, das Gesicht in den Händen vergraben, während ich die Erinnerung wieder dorthin zu schicken versuchte, wo sie hergekommen war. Ich wollte mich nicht an früher erinnern. Nicht an die guten Momente, weil sie mir das Herz brachen, und nicht an die schlechten, weil sie mich schlichtweg umbrachten.

  Doch es half alles nichts. Wütend warf ich die Decke beiseite und stand auf. Meine Kehle war noch immer krampfhaft zugeschnürt und so trocken, dass ich husten musste. Mit zwei Schritten war ich bei dem großen Fenster in meiner Nische und riss es auf. Die Nachtluft strich mit kühlen Fingern über mein Gesicht. Ein paar Mal atmete ich tief ein und aus, bis ich das Gefühl hatte, dass sich mein rasender Puls wieder beruhigt hatte. Zumindest halbwegs. Nur mein Hals war noch immer so verflucht trocken, als würde ich an meinem eigenen Traum ersticken.

  Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was mich geweckt hatte. Ob ich mich unbewusst selbst aus dem Schlaf gerissen hatte, um nicht auch noch den Moment von Neuem erleben zu müssen, der mein Leben für immer verändert hatte? Nicht, dass ich das könnte. Der Unfall hatte keinen von uns ohne Narben zurückgelassen. Die über meiner Augenbraue war ein Überbleibsel davon, dass ich mit dem Kopf gegen das Fenster geknallt war. Jener Tag hatte mir nicht nur meinen Vater genomm
en, sondern auch einen Teil meiner Erinnerungen. Gehirnerschütterung, hatte die Diagnose gelautet, zusammen mit einer retrograden Amnesie. Nicht unüblich bei traumatischen Erlebnissen wie einem Autounfall. Ich hatte alles über das Thema gelesen, noch bevor wir es in meinen Kursen behandelt hatten.

  Ich schloss das Fenster wieder und richtete mich auf. Hatte ich noch irgendwo etwas zu trinken, um dieses ekelhafte Gefühl von Sandpapier in meinem Hals loszuwerden? Ein Rundumblick durch mein dunkles Zimmer brachte leider keine Erlösung. Auf dem Schreibtisch stand zwar eine Flasche Dr Pepper, aber sie war leer. Na toll.

  Auf Zehenspitzen schlich ich zur Tür – und blieb überrascht stehen, als eine leise Melodie an mein Ohr drang. Weiche Klänge, hohe und tiefe Noten, die sich zu einem Lied zusammenfügten. Irgendjemand musste unten Klavier spielen. Mitten in der Nacht?

  So leise wie möglich öffnete ich die Tür und verzog beim üblichen Quietschen das Gesicht. Irgendwann musste ich diese verdammte Tür wirklich mal ölen. Ich quetschte mich durch den Spalt, um nicht noch mehr Lärm zu verursachen und tappte barfuß die Treppe ins erste Stockwerk hinunter. Bei jedem Schritt begleitete mich die Musik, die mir seltsam bekannt vorkam, obwohl ich sie definitiv nicht benennen konnte. Es war kein klassisches Stück, denn nach meinen unzähligen Klavierstunden hätte ich das sofort erkannt. Aber es schien auch nichts Modernes zu sein.

  Am Fuß der Treppe angekommen sah ich zunächst zu Hollys Zimmer. Ihre Tür war verschlossen, und wieder einmal beneidete ich sie um ihre Fähigkeit, einfach immer tief und fest zu schlafen.

  Mit klopfendem Herzen ging ich weiter und blieb am Rande der Galerie stehen, um über das Geländer nach unten zu schauen. Im Erdgeschoss war alles dunkel. Auch aus der Küche und dem Flur drang kein Licht. Ich hielt den Atem an, während mein Blick überallhin huschte, nur nicht zum Klavier und der Person, die dort saß. Ich wollte es nicht sehen, wollte ihn nicht sehen und wünschte mir für einen Moment, gar nicht erst aufgestanden zu sein. Doch dann verspielte er sich an einer Stelle und hörte abrupt auf, und mein Blick zuckte ganz von selbst in seine Richtung.

 

‹ Prev