Never Too Close

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Never Too Close Page 9

by Moncomble, Morgane

»Warum sagst du nichts? Normalerweise geht es zu wie im vierten Weltkrieg, wenn wir uns streiten.«

  Ich runzle die Stirn.

  »Im vierten?«

  Sie wischt meine blöde Frage mit einer müden Handbewegung beiseite, als wolle sie sagen: »Na klar.«

  »Ja, der dritte ist der Tod von Jon Snow, das weißt du doch.«

  Ich nicke. Wie konnte ich das vergessen?

  »Oh ja, richtig. Und nein, ich streite heute nicht.«

  »Aber warum?«

  Ich zögere mit der Antwort. Jason würde sicher nicht lang fackeln und es ihr sofort ins Gesicht sagen. Aber ich bin nicht Jason, und ich kenne sie gut genug, um zu wissen, wie sie reagiert. Sie könnte es mir übelnehmen … Oh Scheiße! Wenn mir in den nächsten drei Sekunden keine Antwort einfällt, weiß sie, dass ich lüge. Dann kann genauso gut ehrlich sein.

  »Na ja, weil du … ach, du weißt schon. Dich nicht wohlfühlst.«

  Der letzte Rest Wut verschwindet aus ihrem Gesicht. Ich warte darauf, dass sie es kapiert, was ein paar Sekunden zu dauern scheint. Als sie schließlich begriffen hat, reißt sie errötend die Augen auf. Beinahe muss ich lächeln. Sie ist so süß! Aber ich halte mich zurück, weil ich es mir nicht ganz mit ihr verderben will.

  »Oh mein …«, murmelt sie verdutzt. »Du weißt, wann ich meine Periode habe?«

  »Ja.«

  »Wie kommt das?«

  »Violette, wir wohnen seit sechs Monaten zusammen.«

  Betroffen schaut sie mich an.

  »Oh mein Gott!«, stöhnt sie und verbirgt das Gesicht zwischen den Händen.

  Ich lächle sanft, ehe ich um den Tresen herumgehe, um sie in den Arm zu nehmen. Ihre feuchte Haut durchnässt meine Klamotten, aber ich lasse sie nicht los. Ich mag ihr Haar. Es riecht nach Äpfeln. Das ist mir noch nie aufgefallen.

  »Ach was, ist doch egal.«

  Ehrlich gesagt ist es mir egal, wann sie ihre Periode hat. Es ist ja nicht so, als würde ich Kreuze im Kalender machen, um die Tage zu zählen.

  Violette weicht ein Stück zurück und starrt mich ernst an.

  »Loan, es gibt eine Menge Dinge, die ich gern mit dir teile. Wie das letzte Ben & Jerry’s, das Geständnis, wie ich den ersten Korb bekommen habe, oder sogar meine Schoko-Bons! Aber sicher nicht den Countdown zu meiner Periode.«

  Ich beiße mir auf die Lippen, um nicht über die skurrile Situation zu lachen. Die gute Nachricht ist, dass sie wegen der Schokolade nicht mehr sauer auf mich ist.

  »Ich weiß. Ich habe es auch schon vergessen.«

  Sie schenkt mir ein engelsgleiches Lächeln, das alle düsteren Gedanken dieses Tages verblassen lässt. Dann tritt sie einen Schritt zurück und schlägt mir heftig gegen die Brust.

  »Autsch!«

  »Und glaub bloß nicht, dass es an meiner Regel liegt, dass ich sauer auf dich bin, du Macho-Idiot!«

  Ich sehe zu, wie sie auf dem Absatz kehrtmacht und wie eine Furie ins Badezimmer stürmt. Kein Zweifel, wir sind mitten in der gefürchteten Zeit …

  Ich beschließe, mich auf die Couch zu legen und mir hirnlose Videos reinzuziehen. Schon bald gesellt sich Zoé zu mir und wir diskutieren über die halbnackten Frauen im Fernsehen.

  Plötzlich kommt Violette fertig gestylt aus dem Bad. Ich drehe mich um und begutachte sie diskret von Kopf bis Fuß. Mein Magen krampft sich zusammen. Ihre dichten goldenen Locken fallen schwer über ihre Schultern und reichen ihr bis zur Brust. Sie trägt eine weiße Bluse mit leicht aufgekrempelten Ärmeln zu einer Hose aus Kunstleder, die ihre Oberschenkel und den Hintern eng umschließt. Eine echte Femme fatale.

  Ich muss schlucken und beobachte, wie sie sich bückt, um ihre Schuhe anzuziehen. Sie kann unmöglich so rausgehen! Tja, nur leider habe ich kein Mitspracherecht. Verwirrt hefte ich den Blick auf den Fernseher. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Violette zur Gegensprechanlage eilt. »Ich komme runter«, sagt sie. Er hätte wirklich raufkommen können. Keine Ahnung, aber wäre das nicht galanter gewesen?

  »Wo gehst du hin?«, frage ich sie.

  Natürlich weiß ich genau, wo sie hingeht. Violette dreht sich zu mir um und schenkt mir ein kleines Lächeln, das ihre Augen nicht erreicht. Sie ist unsicher, das merke ich. Und ich weiß sehr gut, was passiert, wenn sie Angst hat. Es ist MAGISCH!

  »Ich gehe mit Clément aus.«

  Mir gefällt nicht, wie sie seinen Namen ausspricht.

  »Okay.«

  Sie schweigt eine Weile und scheint auf etwas zu warten. Schließlich stehe ich auf und umfasse ihr Gesicht mit den Händen. Ich küsse sie auf die Schläfe. Ihr Haar kitzelt meine Finger.

  »Magst du ihn?«

  Sie scheint überrascht. Meine Frage mag seltsam wirken, aber ich muss es wissen. Sie soll mir sagen, dass er ein guter Kerl ist und dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche.

  »Ja … doch, ich mag ihn.«

  Ich nicke und schließe einen Knopf an ihrer etwas zu offenherzigen Bluse. Lächelnd verdreht sie die Augen.

  »Na prima. Ich freue mich.«

  Sie gibt mir ein Wangenküsschen und rümpft die Nase.

  »Du piekst!«

  Ich lächele und reibe mir den mehrere Tage alten Bart. Violette schnappt sich ihren Mantel von einem der Küchenhocker, zieht ihn an und wickelt sich einen lila Kaschmirschal um den Hals und die wilden Haare. Den Schal habe ich ihr geschenkt.

  »Bleib anständig.«

  Meine beste Freundin öffnet die Tür und zwinkert mir ein letztes Mal über die Schulter zu.

  »Ich kann nichts versprechen.«

  Sie schließt die Tür hinter sich, ehe ich reagieren kann. Wenn ich an den Blick denke, mit dem dieser Typ ihr knappes Outfit mustern wird, balle ich schon die Fäuste. Weil ich ein Mann bin. Ich weiß genau, was ein anderer Mann denkt, wenn er ein Mädchen wie Violette zu Gesicht bekommt. Was ziemlich Unrühmliches, so viel ist sicher. Ich schäme mich selbst dafür.

  »Wo liegt dein Problem?«, fragt Zoé plötzlich. Sie hat mein bleiernes Schweigen sehr richtig interpretiert.

  »Ich mache mir Sorgen um sie.«

  »Warum?«, will sie wissen. »Sie ist glücklich!«

  »Sie war auch mit Émilien glücklich. Wir alle wissen, wo das hingeführt hat.«

  Zoé verdreht übertrieben die Augen und seufzt ironisch.

  »Okay, Papa Loan! Und was willst du unternehmen?«

  Ich werfe ihr einen düsteren Blick zu, auf den sie nicht weiter eingeht. Mir gefällt ihr blöder Vergleich überhaupt nicht, aber ich ziehe es vor, nicht darauf zu antworten.

  »Nichts.«

  Das ist natürlich eine Lüge. Zunächst einmal werde ich ihn zu Violettes Geburtstagsparty einladen. Ich werde ihn kennenlernen und beobachten – nur beobachten und meine Schlüsse ziehen. Und dann handele ich auf der Basis dessen, was ich in ihm erkenne. Ich habe diesen Schmerz in der Brust schon einmal gespürt, als ob jemand mein Herz in seinen Händen zerquetscht, und zwar das erste und letzte Mal, als Violette eine Trennung erlebt hat.

  Wenn ich daran denke, sorge ich mich nur noch mehr …

  6

  Acht Monate zuvor

  Violette

  Es ist meine erste richtige Trennung.

  Vor Émilien hatte ich nur einmal in der zehnten Klasse einen Freund, aber ich glaube, diese Erfahrung zählt nicht. Ansonsten habe ich noch nie zu den Mädchen gehört, die einen Freund nach dem anderen haben, sei es zum Vergnügen oder weil sie Liebe finden wollen.

  Und daher war Émilien mein erster richtiger Freund, und damit auch meine erste Trennung. Es ist erst vor zwei Stunden bei ihm zu Hause passiert. Danach bin ich zurück in die Wohnung gerannt, wo ich in den Armen meiner besten Freundin in Tränen ausbrach. Aber obwohl ich momentan deprimiert auf der Couch herumhänge – und nebenher dabei bin, mir fünf Kilo Übergewicht anzufuttern –, würde ich nicht von Liebeskummer reden.

  Ich glaube, es tut vor allem deshalb so weh, weil ich mich schäme. Ich schäme mich, mir einen Mann ausgesucht zu haben
, der es gewagt hat mir vorzuwerfen, dass ich noch Jungfrau bin, einen Mann, der mich nicht genug geliebt oder ausreichend respektiert hat, um mit dem Sex noch zu warten. Aber ich schäme mich auch, weil ich mich insgeheim frage, ob er nicht vielleicht recht hat … ob ich am Ende zu lange auf nichts warte.

  »Wenn du nicht bald deinen Hintern von der Couch bewegst, nimmt sie noch deine Form an«, sagt Zoé aus der Küche.

  Ich antworte nicht und ziehe mir die Decke über den Kopf. Ich habe es satt, ich habe es satt, ich habe es satt. In solchen Situationen finde ich es schade, keine Mama mehr zu haben. Ich würde sie gern anrufen und ihr hemmungslos was vorheulen. Ich würde mir wünschen, dass sie mir gute Ratschläge gibt und mich an die Hand nimmt, wie das gute Mütter so tun. Sicher, im Prinzip könnte ich sie anrufen. Aber wozu, wo sie sich doch entschieden hat, sämtlichen Kontakt abzubrechen?

  Ich werde ihrer Liebe sicher nicht nachlaufen. Ich werde nie jemandes Liebe nachlaufen.

  Niemals.

  »Amen«, murmle ich vor mich hin.

  Ich weiß, dass meine Verzweiflung nicht normal ist, aber das ist mir egal. Émiliens giftige Worte kommen mir unerbittlich wieder in den Sinn: »Du bist neunzehn und kein Kind mehr, verdammt. Warum bist du so verklemmt, Vio? Es wird dir gefallen, versprochen.«

  Ich habe nicht lange gefackelt und ihm den ersten Gegenstand an den Kopf geworfen, den ich in die Hände bekam. Einen Wecker, um genau zu sein. Und nach dem Geräusch zu urteilen, als ich ihn traf, tut es ziemlich weh, einen Wecker ins Gesicht zu bekommen.

  »Okay, hör zu«, beginnt Zoé, »ich schlage vor, dass wir …«

  Plötzlich klingelt es an der Tür. Ich richte mich so hastig auf, dass mir schwindelig wird, und schaue meine beste Freundin vorwurfsvoll an.

  »Zoé? Sag bloß nicht, du hast …«

  »Tut mir leid«, meint sie grinsend.

  Sie öffnet die Tür. Davor steht mit besorgter Miene Loan. Loan, den ich heute Abend auf keinen Fall sehen wollte – es kam nicht infrage, dass mein bester Freund mich in diesem erbärmlichen Zustand erlebt. Sein Blick ist über Zoés Schulter hinweg direkt auf mich gerichtet.

  Misstrauisch zögert er, die Wohnung zu betreten.

  »Darf ich reinkommen? Oder plant ihr seit der Trennung alle Männer auf diesem Planeten zu vernichten?«

  Ich lächle traurig und klopfe auf den freien Platz neben mir auf dem Sofa. Bei meinem Heulanfall vor ein paar Minuten wollte ich Mistinguette in den Arm nehmen und mit ihr kuscheln, um etwas Trost zu finden. Aber sie hat sich freigekämpft und war offenbar nicht interessiert. Sie musste mich beißen, ehe ich sie laufen ließ und noch mehr weinte.

  Undankbares Tier!

  »Du bist einer von den Guten, du kannst reinkommen.«

  »Uff.«

  Er tritt ein und kommt mit einer Plastiktüte in der Hand auf mich zu. Schweren Herzens blicke ich ihm entgegen und weiß, dass er es spürt. Als ob wir eine unsichtbare Verbindung hätten. Eine Verbindung, die den Klang eines schmerzenden Herzens an das andere weiterleitet.

  »Gut. Bist du sicher, dass es okay ist?« fragt Zoé etwas besorgt.

  Ich habe keine Zeit, zuzustimmen, denn Loan antwortet bereits, während er mir tief in die Augen schaut:

  »Ab jetzt übernehme ich.«

  Zoé drückt mir einen Kuss auf die Haare und geht. Ich sehe zu, wie mein bester Freund seine Tüte neben mir ablegt, seine Jacke auszieht und sein Handy ausschaltet. Seine Militärmarke baumelt über seiner Brust, während er sich bückt, um seine Schuhe auszuziehen. Ich frage ihn, warum er hier ist und nicht bei der Arbeit.

  »Meine Schicht war schon vorbei, als Zoé mich angerufen hat.«

  »Das hätte sie nicht tun sollen.«

  Er schenkt mir einen beredten Blick, als wolle er sagen: »Ich lasse mich nicht täuschen.« Allerdings habe ich nicht den Mut, ihm zu erzählen, was mit Émilien passiert ist.

  »Also, wie sieht das Programm aus?«

  Er antwortet nicht sofort, sondern deutet mit dem Kinn auf die Tüte, ehe er sich mir gegenüber niederlässt und die Ellenbogen auf die gespreizten Knie stützt. Stirnrunzelnd öffne ich die Tüte. Meine Tränen trocknen und ich lache nervös auf, als ich entdecke, was sie enthält. Dieser Mann … Dieser Mann, meine Damen und Herren, ist ein seltenes Exemplar.

  Ich leere die Tüte auf die Couch. Ein Glas Nutella, mehrere Tafeln Milka-Schokolade und eine Schachtel Ferrero Rocher fallen heraus, gefolgt von drei neuen DVDs. Ich lese Bridget Jones, Nur mit dir und Tatsächlich … Liebe, was mich noch mehr zum Lächeln bringt.

  Obwohl ich grinse, zeigt Loan keine Regung. Wie immer. Ich merke, dass er mich anstarrt, möglicherweise auf der Suche nach der Wahrheit. Er fragt sich, was mit Émilien vorgefallen ist. Aber er stellt keine Fragen, und das mag ich an ihm.

  Immer noch ungerührt verschränkt er die Arme und beginnt:

  »Also … Was ist dir lieber? Nadeln in die Eier einer Puppe stechen, die ihm ähnlich sieht, oder uns mit Schokolade vollstopfen und seichte Liebesfilme anschauen, über die wir die ganze Nacht quatschen können?«

  Loan mag nur mein bester Freund sein, aber in diesem Moment spüre ich einen Anflug von Eifersucht. Ich bin eifersüchtig auf Lucie, der es gelungen ist, einen Mann wie ihn zu finden. Nein, nicht einen Mann wie ihn.

  Ihn. Sie hat ihn gefunden.

  Ich betrachte ihn noch ein paar Sekunden, bis ich breit grinsen muss – zum ersten Mal heute Abend.

  »Hast du denn eine Puppe?«

  Ich weiß nicht, was Émilien gerade macht, aber ich glaube, er hat große Schmerzen. Denn wenn es etwas noch Schmerzhafteres als einen Wecker ins Gesicht gibt, dann sind es sicher Nadeln in den Hoden. Zumindest nach allem, was ich gehört habe.

  Loan und ich liegen auf meiner Couch und sehen uns schweigend Bridget Jones an. Ich genieße seine langen Finger, die mit meinen spielen. Ich liege ausgestreckt zwischen seinen Beinen und lehne mit dem Rücken an seiner Brust. Eine Puppe, die Loan und ich aus einem Paar Socken gebastelt haben, liegt kläglich auf dem Couchtisch. Auf ihrem Gesicht klebt ein Bild von Émilien und ihr Körper ist mit Nadeln gespickt: eine in jedem Auge, zwei in der Herzgegend und drei im Schritt.

  Und tatsächlich – es ist eine Befreiung.

  »Ach, dieser Mark Darcy! Weißt du, dass ich total in den verliebt bin? Schau mal, wie süß er in seinem Weihnachtspullover aussieht.«

  »Also wirklich … Ein modisches Highlight.«

  Ich lächle, lege den Kopf an Loans Brust und recke das Kinn hoch genug, um ihn anzusehen. Nach ein paar Sekunden gibt er nach und schaut auf mich hinunter. Seine Pupillen versenken sich in meine.

  »Wie hast du die Filme ausgesucht? Du willst doch nicht etwa behaupten, du wärst ein heimlicher Fan von Nicholas Sparks.«

  »Als ich auf dem Heimweg angehalten habe, um dir Schokolade mitzubringen, habe ich eine Frau, die dort arbeitet, gefragt, ob sie mir alberne Filme für depressive Mädchen empfehlen könnte …«

  »Hey«, rufe ich und richte mich halb auf.

  Zum zweiten Mal an diesem Abend erwische ich ihn bei einem amüsierten Grinsen. Oder nein, das war eine Grimasse – falscher Alarm!

  »Sie muss dich für einen ziemlichen Macho gehalten haben.«

  »Wenn ich so darüber nachdenke, ist das gut möglich.«

  Ich lache und will mich mit einem Kuss auf die Wange bedanken. Einem einfachen Kuss, wie ich ihn ihm schon hundertmal gegeben habe.

  Im letzten Moment jedoch dreht Loan den Kopf und streift sanft meine Lippen. Der Kontakt dauert nur eine halbe Sekunde, aber das genügt, um mich völlig zu elektrisieren. Ich erstarre und bemühe mich, die Funken zu kontrollieren, die in meinen Fingerspitzen knistern. Es sind die gleichen, die ich in seinen Augen gesehen habe, als er an jenem Abend sagte: »Frohes neues Jahr, Violette-Veilchenduft.«

  Verdutzt zieht Loan sich sofort zurück. Sprachlos, mit geröteten Wangen und offenem Mund schaue ich ihn an. Ich spüre, wie sich seine Hand an meinem Rücken verkrampft, und sehe, wie sein Blick abweis
end wird. Ich schäme mich. Ich fühle mich sogar schuldig. Ich will das, was gerade passiert ist, mit möglichst vielen Worten kaschieren; ich will lächeln und so tun, als wäre nichts, aber es geht nicht. Innerlich schreie ich.

  Ich schreie, weil mein Mund nach mehr verlangt, weil die Härchen auf meinem Arm die Nähe seiner Haut spüren wie nie zuvor, aber auch, weil ich weiß, dass das alles nicht richtig ist. Loan öffnet die Lippen, um etwas zu sagen – die gleichen Lippen, die meine gerade versehentlich berührt haben –, und spricht die vier Wörter aus, die ich keinesfalls hören wollte:

  »Es tut mir leid.«

  Ich nicke unbehaglich. Fünf Buchstaben kommen mir in den Sinn – und ein Gesicht: Lucie. Und ich vermute, dass Loan sich noch tausendmal schuldiger fühlt.

  »Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist«, murmelt er und sucht ratlos nach Worten. »Du kamst näher und … es war ein Reflex …«

  »Nein, ich … ich verstehe«, stammle ich und räuspere mich. Kein Unbehagen.

  Kein Unbehagen? Ernsthaft? Loan hat es vielleicht nicht absichtlich getan und es war nur ein Reflex … aber es war ein Kuss. Ein unerwarteter, spontaner, unlogischer Kuss. Natürlich verursacht das Unbehagen. Himmel, ich bin ein furchtbarer Mensch.

  Loan nimmt die Hand von meinem Rücken als Zeichen, dass ich mich entfernen soll. Ich stehe auf und setze mich ans andere Ende der Couch. Meine Hände zittern. Was zum Teufel ist mit mir los? Offenbar der Klassiker: Kaum hat Émilien mich verlassen, da werfe ich mich dem Erstbesten an den Hals.

  Na toll!

  Die Stille zwischen uns wiegt so schwer, dass sie mir Angst macht. Um unsere Beziehung zu erhalten, bin ich gern bereit, diesen Kuss zu vergessen. Ich hoffe, er auch.

  »Ich sollte jetzt gehen«, erklärt Loan ein paar Minuten später. »Ich muss morgen früh raus …«

  Ich nicke mit einem gezwungenen Lächeln. Ich fühle mich schrecklich wegen Lucie, auch wenn dieser Kuss nichts zu bedeuten hatte. Sie hasst mich wahrscheinlich ohnehin schon, weil ich so viel Zeit mit ihrem Freund verbringe.

  Loan schlägt die Decke zurück und steht geschmeidig auf, um sich die Jacke und die Schuhe anzuziehen. Ängstlich beobachte ich ihn. Ich weiß, dass er Lucie liebt, und ich will nicht, dass er denkt, er müsse jetzt Abstand zwischen uns bringen, denn das könnte ich nicht ertragen.

 

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