Gegen ein Uhr morgens gehen einige Leute nach Hause – darunter auch Alexandra. Ich begleite sie zur Tür und wünsche ihr einen guten Heimweg. Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange und bleibt an meinem Ohr.
»Gute Nacht, Loan.«
Ich spüre, wie sie mir ein Stück Papier in die Hand schiebt. Reglos sehe ich zu, wie sie geht. Ich bin nur wenig überrascht. Sie macht mich an, seit wir uns das erste Mal begegnet sind. Nachdem ich die Tür hinter ihr und ihren Freunden geschlossen habe, werfe ich den Zettel in den Müll, ohne ihn auch nur anzuschauen.
Gegen fünf ist Violette dermaßen ausgeflippt (um nicht zu sagen: betrunken), dass sie mitten auf der improvisierten Tanzfläche auf den Rücken fällt. Es sind nur noch wenige Leute anwesend, aber wir lachen alle. Violette legt sich vergnügt und außer Atem die Hand aufs Herz. Ihr rotes Kleid hat sich hochgeschoben, sodass man die Innenseiten ihrer Oberschenkel sehen kann.
Clément geht zu ihr und hilft ihr aufzustehen, wofür ich ihm dankbar bin.
»Ich denke, es ist Zeit, dass sie schlafen geht, oder?«, meint er amüsiert grinsend.
»Absolut!«
Vielleicht ist er ja doch kein Arschloch. Er fragt mich, wo ihr Zimmer ist, aber ich sage ihm, dass ihre Geschenke dort versteckt sind.
»Wir bringen sie in meines und ich schlafe auf der Couch«, lüge ich, damit Violette keinen Ärger bekommt.
Clément nickt, nimmt das Gesicht meiner besten Freundin in die Hände und küsst sie. Unwillkürlich senke ich den Blick.
»Ich bin nicht müde«, quengelt sie.
»Glaub mir, du bist es. Gute Nacht, meine Schöne.«
Als er fertig ist, hebe ich sie hoch und lege sie mir über die Schulter.
»Na los, Aschenputtel, es ist Zeit«, verkünde ich. »Sag schön Auf Wiedersehen.«
Ich drehe mich um, damit sie den letzten Gästen zum Abschied winken kann. Violette richtet den Oberkörper auf und grüßt wie eine Prinzessin, was alle zum Lachen bringt. Wenn ich ihr das morgen erzähle, lacht sie sich sicher halb tot.
»Ich liebe euch«, ruft sie den Leuten zu.
Ich bringe sie in mein Zimmer, lasse die Tür offen und lege sie auf mein Bett. Sie lacht leise; nur sie selbst weiß, worüber. Vorsichtig ziehe ich ihr die Schuhe aus. Violette schließt die Augen. Ein zufriedenes Lächeln liegt auf ihren Lippen. Mit einem ihrer Schuhe in der Hand halte ich für den Bruchteil einer Sekunde inne. Sie auf meinem Bett liegen zu sehen hat zum ersten Mal eine andere Bedeutung. Es stört mich. Es nervt mich. Es gefällt mir.
Scheiße.
Ich dachte, sie wäre eingeschlafen, aber als ich den Rock über die weißen Schenkel streifen will, spricht sie mich an.
»Loan?«
Ich halte auf halbem Weg inne.
»Ja?«
»Ich will nicht, dass du mein Höschen siehst«, sagt sie mit kindlicher Stimme, ohne die Augen zu öffnen.
Ich lächle.
»Ich habe es nicht gesehen, Ehrenwort.«
Es ist aus malvenfarbener Spitze und sehr aufregend.
»Das ist gut.«
»Und jetzt«, sage ich und decke sie zu, »schläfst du.«
Und sie schläft. Zumindest eine gute halbe Stunde.
Aber als alle weg sind und ich das Wohnzimmer aufräume, höre ich Violette ins Bad laufen.
Ich folge ihr und finde sie zerzaust und halbnackt vor der Kloschüssel, wo sie sich die Seele aus dem Leib kotzt. Ich halte mir die Nase zu und hocke mich hinter sie, um ihre Haare zu halten. Sanft streichle ich ihr den Rücken, bis es vorbei ist. Schließlich hebt sie den Kopf und wischt sich den Mund mit Klopapier ab.
»Das ist widerlich«, stöhnt sie.
»Wirklich widerlich«, bestätige ich.
Zu meinem Erstaunen lacht sie leise. Sie richtet sich auf und ich drücke die Spülung. Ehe ich mich’s versehe, lehne ich mit ausgestreckten Beinen an der Badewanne. Violette kuschelt sich an mich, ihre nackten Beine umschlingen meine. Sie ist immer noch ein wenig betrunken.
»Loan, weißt du noch, wie du aufgehört hast, mit mir zu reden und ich so traurig war?«
Klar erinnere ich mich … Ich erinnere mich noch so gut an ihre Tränen, dass ich den Kopf schüttle, um das Bild loszuwerden. Es ist überraschend, dass sie mit mir darüber redet, denn es handelt sich um eine Zeit, die wir zu vergessen versuchen.
»Ja, ich erinnere mich.«
»Das war gemein«, murmelt sie.
Ich streichle ihr Haar und nicke. Es ist mir unangenehm, dass sie immer noch daran denkt.
»Ja, es war gemein. Es tut mir leid.«
»Weißt du, ich habe nachgedacht, und mir ist eingefallen, wie du es wieder gutmachen könntest.«
Ich lächle schwach. Nachdem ich vor sechs Monaten versucht hatte, alle Brücken hinter mir abzubrechen, aber zu ihr zurückkehrte, weil mir klar geworden war, dass ich einen Fehler gemacht hatte, wollte Violette nie darüber sprechen. Die Phase wurde zu einem Tabuthema.
»Na toll. Schieß los.«
»Ich habe …«, beginnt sie mit schwerer Zunge, wird aber von einem Schluckauf unterbrochen. »Du musst mir einen super-wichtigen Gefallen tun.«
»Kann das nicht bis morgen warten? Zum Beispiel nachdem du dir die Zähne geputzt hast.«
»Nein«, erklärt sie unerschütterlich. »Dann habe ich vielleicht nicht mehr den Mut dazu. Versprich mir, dass du Ja sagst.«
Ich lächele. Ich weiß nicht, was die betrunkene Violette mir so Wichtiges zu sagen hat, aber ich bin sicher, es bringt mich zum Lachen. Und wenn ich dabei meinen Fehler wieder gutmachen kann, warum nicht?
»Ich sage bestimmt Ja.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Sie nickt und lehnt sich mit dem den Kopf an mich. Ich spüre, wie ihre Brust sich hebt und senkt.
»Weißt du, es ist … wirklich … wichtig …«
»Ich verspreche, mein Möglichstes zu tun.«
Ich streiche ihr ein paar störende Strähnen aus dem Gesicht und warte, dass sie weiterspricht.
»Violette?«
Ich höre nur noch ein leichtes Schnarchen. Sie ist eingeschlafen.
9
Sechs Monate zuvor
Violette
Ich mache mir große Sorgen. So große, dass mich nicht mal mehr Schokolade tröstet – und ich habe es weiß Gott versucht. Ich spüre es. Ich weiß es. Irgendwas ist im Busch. Etwas, worüber niemand mit mir redet.
Seit zehn Tagen habe ich nichts von Loan gehört. Ist das vielleicht eine schreckliche Art, den Kontakt zu mir abzubrechen?
Normalerweise sehen wir uns fast jeden Tag. Entweder hat er noch Zeit, ehe er zur Feuerwache fährt, und bietet mir an, mich mit dem Auto in die Uni zu bringen, oder er holt mich mit einem Croissant in der Hand ab. Es ist unser Ritual. Aber dieses Mal habe ich ein schlechtes Gefühl. Er hat mir nicht mal geschrieben. Kann sein, dass ich es mit der Anzahl meiner Nachrichten etwas übertrieben habe. Ich glaube, in zehn Tagen habe ich ihm zweiunddreißig Stück geschickt – ich habe sie gestern beim Anschauen der neuen Folge von Outlander gezählt.
Alle blieben unbeantwortet.
»Stell dir bloß vor, er wäre tot. Ich würde es nicht einmal erfahren.«
Zoé setzt sich zu mir auf die Couch. Sie stibitzt eine der Pralinen, die ich nicht runterkriege und schüttelt den Kopf. Im Gegensatz zu mir wirkt sie nicht allzu gestresst. Allerdings gibt es ohnehin wenig im Leben, das sie beunruhigt.
»Aber nein.«
»Wieso ›aber nein‹? Wir wissen es doch nicht!«
Nachdenklich ziehe ich die Knie unters Kinn. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich habe keine Ahnung, warum Loan von einem Tag auf den anderen den Kontakt abbrechen sollte, daher stelle ich mir das Schlimmste vor. Wer weiß, vielleicht wurde er von einem Psychopathen entführt und sitzt allein in einem Keller fest.
Natürlich ergibt das keinen Sinn. Wenn er verschwunden wäre, hätte Lucie es mir bestimmt gesagt. Ganz sicher. Obwo
hl ich sie nicht gerade oft sehe. Das letzte Mal war am Tag meines letzten Gesprächs mit Loan. Ernsthaft, selbst Navarro fände bei einer solchen Ermittlung keine Anhaltspunkte.
»Wann hast du das letzte Mal mit ihm gesprochen?«, fragt Zoé.
»Vor zehn Tagen, wenn ich mich recht erinnere … Ich glaube, es war, als er mich letzten Montag von der Uni abgeholt und nach Hause gebracht hat. Aber wir sind nicht sofort hochgegangen. Er hat den Motor abgestellt und wir haben uns eine Stunde lang im Auto unterhalten.«
Meine beste Freundin kneift misstrauisch die Augen zusammen. In der Wohnung ist es ganz still, bis auf das Tippeln von Mistinguette, die irgendwo herumläuft. Auch ihr fehlt Loan. Zuerst mochte sie ihn nicht, aber inzwischen ist sie ihm total verfallen.
»Worüber habt ihr gesprochen?«
»Über alles Mögliche. Wir haben gelacht, Musik gehört, Süßigkeiten aus seinem Handschuhfach gegessen … Wie immer.«
Zoé schweigt lange, ehe sie schließlich aufseufzt.
»Na gut, dann ruf ihn halt an. Man kann nie wissen.«
Ich habe ihm schon zigmal auf die Mailbox gesprochen, angefangen mit einem einfachen »Hallo Loan, es ist schon eine Weile her, dass wir uns gesehen haben … Ich hoffe, alles ist in Ordnung. Ruf mich doch mal an« bis hin zu einem wütenden »Willst du mich verarschen oder was?! Ich versuche seit über einer Woche, dich zu erreichen, aber du antwortest nicht. Weißt du, was das mit mir macht, Loan? Ich stelle mir vor, irgendein Kerl in einem blauen T-Shirt hat dich betäubt und entführt, um dich in einem Keller zu vergewaltigen. Oh ja, das passiert auch Männern in deinem Alter. Vor allem Typen, die schön sind wie ein Gott. Glaub ja nicht, dass du vor so was sicher bist. Pass lieber auf dich auf! Er könnte auch ein rotes T-Shirt tragen, aber ich weiß, dass du Blau hasst, also hoffe ich, dass er Blau trägt und dass du traurig bist, weil du nicht aufgepasst hast! Na ja, ruf mich zurück, okay? Küsschen.«
Ja, ich weiß …
Wieder einmal erreiche ich nur seine Mailbox. Ich schwöre, wenn das alles bloß ein armseliger Witz sein soll, räche ich mich.
»Weißt du was, dein Kumpel geht mir ganz schön auf den Sack.«
Ich verziehe das Gesicht und weiß nicht, was ich noch tun soll. Für diese plötzliche Distanz gibt es keine plausible Erklärung.
»Hast du mal bei ihm geklingelt?«
Ich werfe meiner besten Freundin einen sarkastischen Blick zu, doch sie scheint es ernst zu meinen.
»Aber nein, wie dumm von mir, er ist mein Nachbar und ich habe nicht einmal daran gedacht, bei ihm zu klingeln!«, spotte ich. »Also wirklich, Zoé!«
»Mannomann, du hättest auch schlicht mit Ja antworten können.«
»Ja. Und zwar schon mehrmals. Eigentlich jeden Tag … Wenn er hier wäre, hätte er bestimmt aufgemacht.«
»Bist du sicher? Hast du ihn vielleicht mit irgendwas verärgert?«
Gestresst denke ich einen Moment nach. Die Unsicherheit ist schlimmer als alles andere. Ich zweifle an mir selbst, ohne zu wissen, ob ich etwas falsch gemacht habe, und das ist schrecklich. Vielleicht hat er mich einfach satt? Unser Kuss vor zwei Wochen kommt mir in den Sinn. Unwillkürlich fahre ich mir mit der Zunge über die Lippen und ärgere mich fast sofort darüber. Am Tag nach diesem »Reflex« war ich angespannt. Aber trotz meiner Befürchtungen hat Loan mich weiter angelächelt und zur Uni gefahren. Eigentlich genau wie vorher.
»Selbst wenn ich ihm irgendwie auf den Schlips getreten wäre, hätte er aufgemacht, denn mein Dauerklingeln hätte ihn verrückt gemacht«, erkläre ich schließlich selbstbewusst.
»Vielleicht hat er familiäre Probleme«, rätselt Zoé, selbst nicht ganz überzeugt. »Und Lucie? Hast du versucht, sie zu erreichen?«
Ich grummle frustriert.
»Verdammt, ich zerbreche mir den Kopf! Er hat mir nie von seinen Eltern erzählt, ich weiß nicht mal, ob er welche hat. Und Lucies Nummer habe ich leider nicht …«
Langsam wird mir einiges bewusst. Es stimmt, Loan und ich haben über alles Mögliche geredet. Ich weiß zum Beispiel, dass er nie seinen Teller leer isst und sich immer verpflichtet fühlt, etwas übrig zu lassen, dass seine Lieblingsfarbe Schwarz ist und dass er das Wort »Schlüpfer« hasst. Er weiß, dass ich mir einen Trailer immer erst anschaue, nachdem ich den Film gesehen habe, dass ich bei Krimiserien automatisch einschlafe und dass ich immer wieder Panikattacken habe.
Was die Familie angeht, so habe ich ihm nur wenig darüber anvertraut. Ich habe ihm erzählt, dass es seit einigen Jahren nur noch meinen Vater und mich gibt; den Grund dafür kennt er aber nicht. Er hingegen … nichts. Was weiß ich eigentlich über ihn?
»Es ist schon irgendwie komisch, dass auch Lucie nicht an die Tür geht … Geh noch mal hin.«
»Meinst du?«
Um ehrlich zu sein: Ich glaube, ich habe Angst. Angst, dass jemand öffnet und die Sache schiefläuft. Was, wenn ich wirklich etwas falsch gemacht habe?
»Klar. Und wenn niemand aufmacht, gehen wir zur Feuerwache. Bestimmt können seine Kollegen uns helfen.«
Ich nicke und schlüpfe in ein Paar Ballerinas. Ich laufe herum wie eine Vogelscheuche und sehe aus wie ein Geist, aber das ist mir egal. Wie auch immer – ich bin sicher, niemand macht sich die Mühe, mir zu öffnen. Ich verlasse die Wohnung und folge dem Flur bis zu seiner Tür. Plötzlich kommt mir etwas in den Sinn. Vor einem Monat hatte ich meine Schlüssel vergessen, mich in den Flur gesetzt und auf den Schlüsseldienst gewartet. Irgendwann kam Lucie telefonierend aus dem Aufzug. Als sie mich sah, erstarrte sie für einen Sekundenbruchteil. Ich lächelte sie freundlich an.
»Hi!«
Mit einem gezwungenen Lächeln nickte sie mir zu und ging dann weiter zu ihrer Tür, während sie ihr Gespräch fortsetzte:
»Ja, ich bin jetzt zu Hause … Komm bald heim … Haha, du weißt genau, was ich meine … Ich liebe dich … Bis dann, Schatz.«
Ich erinnere mich, dass ich die Stirn runzelte, als mir klar wurde, dass sie mit Loan telefonierte. Vielleicht bin ich paranoid, aber ich hätte schwören können, dass sie absichtlich lauter gesprochen hat, damit ich sie hörte.
Ich atme tief durch und klopfe entschlossen an die Tür. Ich klopfe, klingle, klopfe, klingle, klopfe und klingle immer wieder. Langsam fange ich an zu verzweifeln. Eine erschreckende Leere hat sich in meiner Brust gebildet und scheint sich mit jedem Tag zu vertiefen. Émilien zu verlieren war eine Sache, Loan zu verlieren ist eine ganz andere. Gerade als ich verlegen wieder kehrtmachen will, geht die Tür auf. Ich bin so überrascht, dass mir für ein paar Sekunden der Mund offen bleibt. Und doch, ja. Loan steht direkt vor mir.
Nur erkenne ich ihn kaum wieder.
Das ist nicht Loan. Jedenfalls nicht der, den ich kenne.
Das erste, was mir auffällt und in meinem verwirrten Herzen nachhallt, ist, dass er so sexy aussieht wie nie zuvor. Zu einer grauen Jogginghose trägt er ein T-Shirt von Diesel, das alle seine Muskeln betont, und er hat einen Drei-Tage-Bart, den ich noch nicht an ihm kenne. Er verbirgt seinen Unterkiefer, betont aber seinen sinnlichen Mund. Die zweite Sache ist, dass er sehr deprimiert wirkt. Seine blauen Augen sind völlig ausdruckslos, was bei ihm selten vorkommt. Ich bin daran gewöhnt, dass er kaum lächelt, aber seine Augen hören normalerweise nie auf zu sprechen – so, als hätte er viele Dinge zu sagen, die jedoch zu kostbar sind, um sie laut auszusprechen.
Er begnügt sich damit, mich mit hängenden Schultern anzuschauen, ohne etwas zu sagen. Ich schaudere. Loan ist zum Zombie geworden. Das Mitgefühl, das ich eigentlich für ihn aufbringen müsste, verwandelt sich allerdings zunächst in Unverständnis und dann sehr schnell in Wut. Ich mache mir Sorgen, während es ihm gut geht!
»Was willst du?«
Sein Ton lässt mich fast zusammenzucken. Er scheint sich nicht zu freuen, mich zu sehen. Sofort verraucht mein Zorn und weicht Traurigkeit.
»Ich habe wer weiß wie oft geklingelt. Warum hast du nicht aufgemacht?«
Ich weiß, dass meine Stimme vorwurfsvoll klingt, aber das ist meine kleinste Sorge. Mir ist l�
�ngst klar, dass er alle meine Nachrichten abgehört und beschlossen hat, mir nicht zu antworten. Und das kann ich nur schlecht wegstecken.
Er antwortet nicht sofort und scheint seine Worte sorgfältig zu wählen. Schließlich hebt er eine Schulter, ohne meinem Blick auszuweichen. Dass ich in seinen Augen nichts als eine unendliche Leere erkenne, tut mir weh. Sehr weh.
»Vielleicht, weil ich keine Lust dazu hatte.«
Das ist der erste Hieb, den er mir versetzt; der erträglichste von allen. Ich öffne die Lippen und nehme ihn hin. Seine Antwort ist so schmerzhaft, dass es mir den Atem raubt.
Wenigstens lebt er noch. Er ist in einem erbärmlichen Zustand, aber er lebt. Ich rümpfe die Nase und versuche, diskret über seine Schulter zu schauen, um eventuelle Schäden zu entdecken. Ist Lucie da? Kümmert sie sich um ihn, egal was passiert ist? Ich habe kaum Zeit, mehr als ein paar verstreute Kleider auf dem Wohnzimmerboden zu sehen, denn Loan bemerkt meinen Blick und schiebt die Tür ein Stück weiter zu.
»Ich habe mir Sorgen gemacht«, flüstere ich und schaue ihn an.
Ich versuche ihm klarzumachen, wie viel Angst ich um ihn hatte, wie sehr ich ihn vermisse und wie sehr ich mir wünsche, dass er sich mir anvertraut. Aber sein Gesicht bleibt leer. Er wirkt wie aus Eis.
Ich scheine einer Antwort nicht würdig zu sein, denn er gibt mir keine. Er seufzt nur müde und hebt die Augenbrauen mit einem verächtlichen Blick, der gar nicht zu ihm passt.
»Bist du fertig?«
Dieser zweite Schlag trifft mich grausam mitten in den Magen, und ich habe Angst, dass der dritte mein Herz berührt. Dieses Mal gibt es keine Scherze zwischen uns, kein Lächeln und keinen Kontakt. Nichts als Unverständnis und Gleichgültigkeit. Ich zermartere mir das Hirn, weil ich begreifen will, warum er mich ablehnt. Vergeblich. Ich hasse mich selbst – ich hasse mich, weil ich vielleicht etwas getan habe, das ihn verletzt hat und woran ich mich nicht erinnere.
Never Too Close Page 12