Never Too Close

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Never Too Close Page 26

by Moncomble, Morgane


  Er betritt das Wohnzimmer und tut, als hätte er uns nicht gesehen. Ich ziehe mich sofort zurück, während Loan sich mit frustrierter Miene gleich einige Meter entfernt.

  »Gut geschlafen, Loan?«

  Verlegen reibe ich mir den Arm. Ich weiß, dass mein Vater uns gesehen hat. Was um alles in der Welt denkt er jetzt?

  »Sehr gut, danke.«

  Ich meide Loans Blick, aber er erscheint mir vollkommen ruhig. Mein Vater schenkt sich Kaffee in eine Tasse und fährt fort:

  »Natürlich auf dem Sofa.«

  Das klingt eher nach einer Frage. Ich verstehe sofort und erröte bis zum Haaransatz.

  »Natürlich, Monsieur.«

  Mein Vater nickt und greift nach einem Kaffeelöffel von der Spüle. Loan nutzt die Gelegenheit, um sich zu mir umzudrehen und mir komplizenhaft zuzuzwinkern.

  Ich frühstücke allein mit meinem Vater, während Loan duscht und sich fertig macht. Wir reden ein wenig über gestern, über Bryan, und ich erkläre ihm die Hintergründe. Mein Vater ist zwar verständnisvoll, aber auch ein ziemlicher Helikoptervater, deshalb bin ich nicht überrascht, als er mir sagt, dass ich immer mein Pfefferspray in der Tasche haben sollte.

  Wir sitzen noch am Tisch, als jemand an die Tür klopft. Ich stehe auf und öffne, während mein Vater seine Sachen packen geht.

  »Hallo, Süße.«

  »Jason«, sage ich und lächle ironisch. »Und Ethan. Hey, Leute.«

  Tatsächlich steht Ethan hinter Jason, aber von Zoé entdecke ich keine Spur. Ich frage die Jungs, wo sie steckt, woraufhin Jason eine lässige Geste heuchelt:

  »Auf der anderen Straßenseite. Wir brauchen Geld und ich habe gehört, dass man hier welches bekommt.«

  Ich versetze ihm einen Knuff gegen die Schulter und sage:

  »Spinner.«

  »Was denn?«, begehrt er auf. »Es ist ein Notfall!«

  Ich hake so lang nach, bis er mir ernst antwortet, dass Zoé allein sein wollte und er ihr daher angeboten hat, in seiner Wohnung zu bleiben. Ich lächle boshaft.

  »Du magst sie, richtig?«

  Ethan beobachtet ihn, denn auch er ist neugierig auf Jasons Antwort. Dieser weicht unseren Blicken aus und lässt uns ein paar Sekunden warten, bevor er die Schultern zuckt. Wie ein kleines Kind.

  »Schon möglich.«

  »Aber?«

  »Aber sie will nur Sex«, fügt er augenrollend hinzu.

  Ethan und ich lachen gleichzeitig auf, was unserem Freund nicht zu gefallen scheint. Er wirft uns einen vernichtenden Blick zu. Ich werde sofort ernst, was Ethan nicht gleich gelingt.

  »Und seit wann missfällt dir das, Chlamydien?«, spotte ich.

  »Chlamydien?«, wiederholt Ethan verwirrt.

  »Halt die Klappe«, mault Jason, während ich Ethan die Erklärung liefere:

  »Das ist sein Spitzname.«

  »Sehr treffend«, gratuliert er mir und klatscht mich ab.

  Erst jetzt kümmern wir uns wieder um Jason, der das längst nicht so witzig findet wie wir. Mir fällt ein, dass er dabei war, uns ein Geständnis zu liefern, und ich reagiere nachsichtig.

  »Entschuldige. Was hast du gesagt?«

  »Ich sagte: Es missfällt mir durchaus nicht, und wenn es das ist, was sie will, gebe ich es ihr. Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich anfange … mehr zu wollen. Aber sie ist und bleibt eben Zoé, weißt du. Es gefällt mir, wenn sie mich zum Teufel schickt.«

  Ich weiß, ich sollte mich für die beiden freuen. Aber das Erste, was mich in diesem Moment überkommt, ist Eifersucht. Ich beneide sie um ihre einfache Beziehung.

  »Wow«, kommentiert Ethan. »Du bist wirklich ein Masochist.«

  »Kann schon sein. Hier«, sagt Jason zu mir, »hau mir auf den Arsch, um es auszuprobieren. Ich bin sicher, es wird mir gefallen.«

  Er dreht sich um und präsentiert mir sein Hinterteil. Ich nutze die Gelegenheit, um ihm einen ordentlichen Klaps zu versetzen. Er schüttelt mit ernster Miene den Kopf.

  »Dachte ich’s mir doch.«

  Ethan und ich müssen lachen. In diesem Moment taucht Loan in einer schwarzen Jogginghose und einem khakifarbenen T-Shirt auf. Er begrüßt die Jungs, legt mir eine Hand ins Kreuz und flüstert mir zu:

  »Ist mit uns beiden alles in Ordnung? Bitte sag mir, dass es zwischen uns okay ist.«

  Ich seufze und nicke, bevor mir klar wird, dass Ethan mich anstarrt. Ich werfe ihm einen unbehaglichen Blick zu, aber er lächelt. Man könnte fast meinen, er sähe mich zum ersten Mal. Seltsam. Ich lächle ihm ebenfalls zu, bis Jason uns unterbricht.

  »Komm schon, lass uns gehen! Bis später, Schätzchen.«

  »Bis später.«

  Loan runzelt die Stirn und sagt ihm, er solle immer schön nach vorn schauen. Als ich die Tür schließe, bemerke ich meinen Vater im Flur. Ich lächle, und er fragt mich leise, wie es mir geht.

  »So weit ganz gut.«

  »Clément ist ein sehr netter Junge«, stellt er unvermittelt fest.

  Ich schließe die Augen. Das riecht nach einem »Aber«.

  »Aber?«

  »Aber ich bin ein wenig überrascht.«

  Neugierig frage ich, wieso. Mein Vater hebt langsam eine Schulter, als müsse er nach den richtigen Worten suchen. Er entschließt sich zu einem halb verlegenen, halb amüsierten Grinsen.

  »Ehrlich gesagt dachte ich immer, du wärst heimlich mit Loan zusammen.«

  Verblüfft reiße ich die Augen auf. Das kann doch nicht wahr sein.

  »Ernsthaft?«

  »Ja. Immerhin wohnt ihr zusammen.«

  »Das schon, aber … Weißt du, Loan ist mein bester Freund!«

  Hör bloß mit diesem Mist auf, spottet mein Gewissen. Innerlich knalle ich ihm eine, aber er zeigt sich unbeeindruckt und schaut mich trotzig an. Schweinerei.

  »Loan ist ein prima Kerl.«

  Ich senke den Blick und denke über das nach, was Loan ausmacht. Er ist der Mann, der mir morgens ein Schokocroissant besorgt, der Mann, der mich bei Regen zu ESMOD bringt, der Mann, der meinen Vater vom Bahnhof abholt, der Mann, der mir eine Paracetamol auf den Nachttisch legt, wenn ich am Abend davor feiern war …

  Der Mann, der mich so akzeptiert, wie ich bin.

  Der Mann, in den ich mich an einem Silvesterabend verliebt habe.

  »Ich weiß.«

  23

  Heute

  Loan

  Nach dem katastrophalen Wochenende verläuft das Leben seltsamerweise wieder ganz normal. Da sie Ferien haben, schlafen Zoé und Violette jeden Morgen aus, während ich Tag für Tag mit Ethan auf der Feuerwache Dienst schiebe. Meine Beziehung zu Violette ist nicht mehr wie vorher; zwar beantwortet sie meine Fragen, aber ich habe das Gefühl, dass sie nach der Sache am Samstag noch immer sauer auf mich ist. Ich kann es ihr nicht verübeln.

  Zunächst versuche ich mich davon zu überzeugen, dass es mir die Chance gibt, etwas Abstand zwischen uns zu bringen. Nach zwei Tagen merke ich jedoch, dass es nicht das ist, was ich will, und dass ich es auch nicht fertigbringe. Warum also sollte ich damit weitermachen?

  Heute besuche ich meine Eltern. Violettes Frage, ob sie mitkommen könnte, hat mich überrascht. Aber ich finde es nur fair: Sie hat mir von ihrer Mutter erzählt, jetzt ist es an mir, ihr meine vorzustellen, oder? Ich hoffe, dass sie mir danach nicht mehr so böse ist.

  Ich beschließe, es ihr zu sagen, während sie am Küchentisch frühstückt und Zoé fernsieht. Mit Violette zu sprechen, wenn sie gerade Nutella-Toast isst, hat sich bewährt: Sie ist dann immer gut gelaunt.

  »Ich habe einen Vorschlag.«

  »Hat dir nie jemand beigebracht, dass man einen Hund nicht stören soll, wenn er seine Nase im Napf hat?«, unterbricht Zoé.

  Vio wirft ihr einen ärgerlichen Blick zu. Regel Nummer 1: Niemals den Schokoladenkonsum einer Frau kommentieren, sonst setzt man sich ernsthaften Konsequenzen aus, besonders als Mann. Dann denken sie nämlich alle, dass man sie fett findet. Wirklich.


  »Klappe, Zo. Was willst du, Loan?«

  Das fängt ja gut an …

  »Ich besuche heute meine Eltern und wollte dich fragen, ob du mitkommen magst.«

  Ihr Gesicht leuchtet plötzlich auf. Ich habe ins Schwarze getroffen. Ich widerstehe dem Drang zu lächeln, als sie mit einem Nutella-Klecks am Kinn überrascht die Augen aufreißt.

  »Du willst mich zu deiner Mutter mitnehmen?«, wiederholt sie.

  Ich verziehe das Gesicht.

  »Nicht in diesem Zustand.«

  Sie springt von ihrem Hocker und drückt mir mit entschlossenem Blick das Nutella-Glas in die Hand.

  »Gib mir fünf Minuten.«

  Sie hüpft bereits in ihr Zimmer. Kritisch schaue ich ihr nach.

  »Violette …«

  »Okay, vielleicht dreißig!«, ruft sie und verschwindet aus meinem Blickfeld.

  Ich wende mich an Zoé, die mit den Schultern zuckt und das Nutella wegräumt, ehe sie ihr folgt. Ich wusste, dass mein Vorschlag sie freuen würde, obwohl sich mir bei der Aussicht auf ein Zusammentreffen zwischen ihr und meinen Eltern die Kehle zuschnürt. Ich betrete ihr Zimmer, schließe die Tür hinter mir und lehne mich dagegen. Sie durchwühlt den Klamottenberg auf ihrem Bett, und ich erkenne glücklich, dass sie wieder ganz sie selbst geworden ist. Überdreht textet sie mich zu, ohne auch nur daran zu denken, zwischen den Sätzen Luft zu holen.

  Lächelnd beobachte ich sie. Plötzlich bittet sie mich, ihr mit dem Reißverschluss ihres Kleides zu helfen, ohne ihr Geplapper zu unterbrechen. Innerlich lachend gehorche ich und spiele voll und ganz mit, weil ich so erleichtert bin, die Komplizenschaft wiederzufinden, die uns immer verbunden hat.

  »Deine Monologe machen mich echt an, Violette. Weiter so.«

  Sie lacht und wechselt ihr Unterhemd. Ich erhasche einen Blick auf einen lachsfarbenen BH mit einer grauen Tüllschleife zwischen den Körbchen.

  »Wirklich? Gefallen sie dir?«

  »Oh ja …«, sage ich theatralisch nickend. »Jetzt fehlt nur noch ›das Wort‹ und ich tue alles, was du willst.«

  Violette lacht laut auf. Es ist so ansteckend, dass ich ebenfalls lächeln muss. Verspielt hebt sie eine Augenbraue und schaut mich an.

  »Du willst wirklich, dass ich ›das Wort‹ sage?«

  Sie testet mich. Wild entschlossen halte ich ihrem Blick stand und bereite mich psychisch vor.

  »Gut, probieren wir es.«

  Ich starre auf ihre Lippen, die das Wort »Schlüpfer« aussprechen. Ich unterdrücke die Schauder, die mich überlaufen, und scherze:

  »Ganz wie ich dachte. Wenn du es sagst, bin ich zu allen Schandtaten bereit.«

  Meine beste Freundin hebt den Blick zum Himmel, setzt eine freche und charmante Miene auf und kommt übertrieben katzenhaft auf mich zu.

  »Oh … Schlüpfer … Schlüpfer …«

  Ich lache so sehr, dass ich mir den Bauch halten muss, und stelle überrascht fest, dass ich schon lange nicht mehr so herzlich gelacht habe. Die Tür geht in dem Moment auf, als Violette das Wort »Schlüpfer« mit einem lustigen russischen Akzent schnurrt. Zoé bleibt stehen, scheint aber nicht im Geringsten überrascht. Sie ist es wohl gewohnt.

  »Geht es hier um das Drehbuch für einen schlechten Porno oder muss ich mir Sorgen machen?«

  Violette errötet, fällt dann aber in meinen Lachanfall ein. Schließlich schüttelt Zoé den Kopf, nennt uns »geistig zurückgeblieben«, nimmt sich das auf dem Bett liegende Ladekabel und lässt uns wieder allein. Ich werde als Erster wieder ernst und wische mir die Augen.

  »Violette, wenn ich mich recht erinnere, haben wir von dreißig Minuten gesprochen.«

  »Ich bin fertig!«

  Ich mustere sie von Kopf bis Fuß und versuche nicht zu zeigen, welche Wirkung ihr kleines Schwarzes auf mich hat.

  »Los geht’s.«

  Als ob der Tag nicht schon schlimm genug angefangen hätte, ruft mich mein Vater an, während wir im Auto sitzen. Ich fahre rechts ran, um dranzugehen, während Violette schweigend die Passanten betrachtet.

  Unter dem Vorwand, meine Mutter sei eingeschlafen, bittet mein Vater mich, ein anderes Mal vorbeizukommen. Ich seufze, denn ich bin seine ständigen Ausreden leid.

  »Sie hat in letzter Zeit viel Energie gebraucht … Es gibt mehr schlechte als gute Tage.«

  Ich beiße die Zähne zusammen. Violette achtet nicht auf mich, ich weiß, dass sie mir meine Privatsphäre lassen will.

  »Dann warte ich eben, bis sie wieder wach ist«, beharre ich.

  Am liebsten würde ich ihn anschreien, ihm sagen, dass es seine Schuld ist, dass er endlich auf mich hören und darüber nachdenken soll, die Hilfe von Spezialisten in Anspruch zu nehmen. Aber das lehnt er immer wieder ab. Angeblich, »weil er nur noch sie hat«.

  »Vergiss es, Loan. Komm einfach an einem anderen Tag.«

  Er legt auf, bevor ich mich verabschieden kann. Einen Moment lang sitze ich mit dem Handy am Ohr sprachlos da. Dann werfe ich es auf das Armaturenbrett und packe das Lenkrad so fest, dass meine Knöchel weiß werden. Beruhig dich, beruhig dich, beruhig dich.

  Zwischen meinem Vater und mir war es schon immer so, und ich verstehe nicht, warum ich überrascht bin. Ich atme tief aus, als ob ich so meinen ganzen Stress loswerden könnte, und sage Violette, dass wir heute nicht hinfahren können.

  »Das tut mir leid«, antwortet sie leise und drückt sanft meinen Arm.

  »Hm … Worauf hättest du denn stattdessen Lust?«, frage ich, um das Thema zu wechseln. »Damit wir nicht ganz umsonst losgefahren sind.«

  Lange Sekunden bleibt meine beste Freundin mir die Antwort schuldig. Plötzlich fordert sie mich auf weiterzufahren. Misstrauisch gehorche ich und folge ihren Anweisungen. Ihr Gesichtsausdruck ist so neutral, dass ich nicht erraten kann, was sie vorhat.

  »Wo fahren wir hin?«

  »Vielleicht ist es ja eine ganz schlechte Idee …«

  Das beantwortet meine Frage zwar nicht, aber ich halte den Mund. Ich fahre, wohin sie mich lotst, bis wir die Hauptstraße eines schicken Vorortes erreichen. Sie bittet mich, vor einem Spielplatz zu parken, wo viele Leute auf ihre Kinder aufpassen. Meine beste Freundin wirkt abgelenkt. Eine stumme Minute später ertrage ich es nicht mehr.

  »Violette?«

  Ich wende ihr den Kopf zu, bin mir aber nicht sicher, ob sie mich überhaupt gehört hat. Ihre Augen starren leer auf einen Punkt jenseits der Windschutzscheibe und sie sitzt steif wie ein Pfosten. Ich erkenne, dass sie ein Haus anschaut, ein gelbes Gebäude am Ende der Straße. Neugierig betrachte ich es ebenfalls einen Moment lang. Der Rasen davor ist grün, und die Garage steht offen.

  »Es war keine gute Idee, wir sollten lieber wieder fahren.«

  Gerade will ich ohne weitere Fragen gehorchen, als ich durch das geöffnete Fenster plötzlich Gelächter höre. Violette neben mir erstarrt. Aus der Garage tritt eine Frau, die aus voller Kehle lacht. Sie öffnet den Kofferraum ihres in der Einfahrt geparkten Autos und wirft dann einen Blick auf ihr Handy. Abwesend lässt Violette sie keine Sekunde aus den Augen.

  »Wer ist das?«, flüstere ich.

  Im Grund weiß ich es bereits, aber ich will es hören. Mit blassem Gesicht antwortet sie sehr leise:

  »Meine Mutter.«

  Es fühlt sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Ich widme der Frau meine ganze Aufmerksamkeit und beobachte sie ein paar Sekunden; sie hat die gleichen blonden Haare wie Violette, allerdings etwas dunkler.

  Ich frage Violette, ob wir umdrehen sollen. Sie nickt zunächst langsam, ehe sie plötzlich ihre Meinung ändert. Scheiße …

  Bevor ich etwas sagen kann, ist Violette bereits ausgestiegen. Ich fluche leise vor mich hin, schnalle mich ab und steige ebenfalls aus, um sie auf den Gehsteig zu begleiten. Ein kleines Mädchen, das der Frau sehr ähnlich sieht, läuft auf Violettes Mutter zu. Es trägt ein hübsches blaues Kleidchen und weiße Strumpfhosen. Ein bezauberndes Kind, und mit Sicherheit ihre Tochter. Ich wünschte, ich könnte Violette über das hinwegtröst
en, was sie sieht. Ihre kleine Halbschwester.

  »Vio …«

  »Ich möchte sie fragen, warum«, flüstert sie mit versagender Stimme. »Ich will nur wissen, was an diesem Kind besser ist als an mir …«

  Oh, meine Violette. Ich lege ihr den Arm um die Schultern und streichle zärtlich ihre Wange. Alle Anspannung, die noch vor zehn Minuten zwischen uns geherrscht hat, ist verschwunden.

  »Sie ist nicht besser als du, Violette-Veilchenduft. Deine Mutter hat diese Entscheidung zwar getroffen, aber das bedeutet doch nicht, dass sie gut ist. Du hast dir nichts vorzuwerfen.«

  Unentschlossen versenkt Violette ihren Blick in meinen. Ich glaube, es ist ihr sehr wichtig und sie will wirklich hingehen, aber sie hat schreckliche Angst. Also nehme ich ihre Hand und halte sie fest in meiner, um ihr so all das mitzuteilen, was ich nicht laut aussprechen kann. Dass ich bei ihr bin. Immer. Und zwar was auch immer sie vorhat. Sie scheint zu verstehen, denn sie atmet tief durch, überquert die Straße und geht auf Mutter und Tochter zu. Mit einem dicken Kloß in der Kehle lasse ich zu, dass sie mir fast die Hand zerquetscht.

  Schon ehe wir den gegenüberliegenden Bürgersteig erreichen, blickt ihre Mutter in unsere Richtung. Als sie Violette erkennt, wird sie sehr blass. Die Kleine mustert mich schüchtern. Sie ist süß, viel zu süß, um ihr irgendetwas übel zu nehmen; sie ist nur ein Kind. Sie dürfte etwa fünf Jahre alt sein und ihr strahlendes Gesicht ist noch ganz arglos.

  Sowohl Violette als auch ich verstehen sofort. Ihre Mutter war also schwanger, als sie ihren Vater verließ. Plötzlich tritt sie einen Schritt vor und nimmt ihre kleine Tochter bei der Hand.

  »Komm, Léna. Wir müssen einkaufen gehen.«

  Violette und ich sind verblüfft. Ich weiß nicht, was meine beste Freundin denkt, aber ich kann ihren Schmerz fast spüren. Er trifft mich hart. Meiner Ansicht nach ist das Schlimmste nicht einmal das schreckliche und beschämende Geheimnis, das Mutter und Tochter all die Jahre geteilt haben. Viel schlimmer ist es, zu sehen, dass die Mutter ihre Tochter erkannt hat … und so tut, als wäre sie eine Fremde. Eine Fremde, obwohl sie sie geboren hat. Eine Fremde, der sie abends Geschichten vorgelesen und Pflaster aufs aufgeschlagene Knie geklebt hat.

 

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