[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen

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[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen Page 2

by Kiefer, Lena


  »Du meinst den Dunkelhaarigen? Das war doch der Sohn von den Odells. Nicholas, glaube ich.«

  Zwei Meter über ihnen krampften sich meine Hände zusammen. Mein Herz tat es ihnen gleich. Ich kannte Nicholas Odell, nur hatte ich ihn nie so genannt. Jeder, der ihn mochte, benutzte seinen Spitznamen – Knox.

  »Genau der.« Der Dicke nickte. »Arme Familie. Mit einem ganzen Schwung Steuereinheiten haben wir ihn aufgegriffen. Da war nichts mehr zu machen. Längstes Clearing, das wir je in der Gegend hatten.« Er spuckte auf den Boden. »Widerstand, dass ich nicht lache. Fehlgeleitete Irre allesamt, wenn du mich fragst.«

  Der Dünne murmelte etwas, aber ich hörte es nicht. Ich spürte nur einen bekannten Schmerz aufsteigen, der sonst tief, aber beständig unter der Oberfläche pochte. Knox war kein kranker Irrer gewesen, sondern einer von denen, die diese verfluchte Welt besser gemacht hatten. Der Beste von allen. Am liebsten hätte ich mich auf die Turncoats gestürzt und ihnen das in ihre Schädel gehämmert.

  Aber das ging nicht. Denn hätte ich es getan, wäre ich Knox direkt ins Nichts gefolgt. Manchmal vermisste ich ihn so sehr, dass es mir wie eine verlockende Idee vorkam. Nur würde ich dann verraten, wofür er gekämpft hatte. Das hätte er nicht gewollt.

  »Ich glaube, wir können gehen.« Der Dicke wischte sich die Hände an der Hose ab. »Die sollen jemanden schicken, der das Fenster repariert. Kein Wunder, dass ständig Alarm ausgelöst wird, wenn sich keiner um die Instandhaltung kümmert.«

  Ich war erleichtert – und spürte gleichzeitig etwas an meinem Arm. Die Spinne hatte beschlossen, nicht länger tatenlos herumzusitzen. Jetzt krabbelte sie eilig über den Ärmel, direkt auf mein Gesicht zu. Ich wimmerte, ohne es verhindern zu können.

  »Hast du das gehört?« Owen war wieder auf der Pirsch. Verdammte Spinne.

  »Jetzt hör aber auf! Wenn du so weitermachst, werden sie dich noch rauswerfen.« Der Dicke hatte genug. Aber ich hörte nur ein Paar Stiefel, das sich entfernte, und dazu etwas anderes: das Knarzen von Metall. Owen ist auf die Leiter gestiegen.

  »Hier oben!«, rief er.

  Jetzt musste ich schnell sein.

  Mit einem kräftigen Schlag beförderte ich die Spinne von meiner Schulter, rollte mich zur Seite und ließ mich von der TransUnit fallen. Der Aufprall war hart, aber ich landete auf den Füßen.

  »Halt, bleib sofort stehen!«

  Der Dicke kam auf mich zu, der Dünne sprang hinter mir von der Leiter. Ich rannte in die einzige Richtung, die nicht versperrt war: zur Wand. Die Fensterreihe war in vier Meter Höhe, aber meine einzige Chance. Es wurde Zeit, Spider-Mans Urenkelin zu werden.

  Aus vollem Lauf sprang ich auf einen Stapel Paletten, stieg dann auf ein rostzerfressenes Regal. Schlechte Idee. Es hielt eine Sekunde, bis es nachgab. Ich suchte Halt, aber da war nichts – außer einem dünnen Rohr an der Wand. Ich reagierte blitzschnell und stieß mich ab. Meine Finger knallten auf Metall. Das Regal brach polternd unter mir zusammen.

  »Hol sie da runter!«, rief der Dicke seinem Kollegen zu.

  Versuch es doch. Ich biss die Zähne zusammen und stemmte mich hoch. Stöhnend schaffte ich es in den Stütz, dann zog ich meine Beine hinauf. Das Rohr knackte, aber es hielt. Ein Sirren ertönte. Die Turncoats luden ihre Taser.

  Ich richtete mich auf, meine Beine waren wie Gummi. Mit letzter Anstrengung hangelte ich mich auf das Sims und war am Fenster, als sie die Taser abfeuerten. Die Hochvolt-Projektile kamen nicht so weit und verfehlten alle ihr Ziel. Schnell trat ich die Scheibe ein und schlängelte mich durch das Loch. Eine der vorstehenden Scherben erwischte meine Kapuze und zog sie mir vom Kopf. Ungeduldig zerrte ich sie zurück an ihren Platz.

  »Nach draußen!« Die beiden rannten los. Zeit zum Hinunterklettern hatte ich nicht. Hastig schwang ich herum und ließ mich vom Rand der Fensteröffnung hängen. Die Reste der Scheibe schnitten mir in die Handschuhe. Schnell ließ ich mich fallen.

  Ich landete direkt auf den Scherben des zerstörten Fensters. Eine schlitzte meine Hose am Knie auf, verfehlte aber mein Bein. Gehetzt sah ich in Richtung des Tors. Die Halle war groß, draußen alles verwuchert und voller Gestrüpp. Der Dünne schaffte es vielleicht in dreißig Sekunden bis zu mir, der Dicke brauchte das Doppelte. Zwischen ihnen und mir hing mein verwaistes Seil vom Dach. Ich konnte es dort lassen, aber es provozierte Fragen, wenn wir ständig neues Equipment brauchten.

  Mein Kopf rechnete.

  Weg bis zum Seil – zehn Sekunden.

  Seil lösen – drei Sekunden.

  Aufwickeln – fünf Sekunden.

  Darüber nachdenken, ob ich es tun soll – zweieinhalb Sekunden. Jetzt drei. Dreieinhalb.

  Ich rannte los.

  Während ich das Seil mit einem Ruck aus der Verankerung riss, war ich noch allein. Aber als ich es aufwickelte, schoss der Dünne um die Ecke und rannte auf mich zu. Meine Fluchtmöglichkeiten waren begrenzt: Zur Straße konnte ich nicht, in den Wald im Norden wollte ich nicht. Der einzige Weg führte mitten durch das Gestrüpp.

  Ich sprintete los. Wildes Gras, Disteln und Fingerkraut zerrten an meinen Schuhen, an den Schnürsenkeln und dem Saum meiner Hose.

  Der Dünne kam mir nach und schrie aus Leibeskräften, ich solle stehen bleiben. Glaubte der wirklich, ich sei so dämlich, mich freiwillig zu stellen? Einfache Turncoats hatten keine Aufspürgeräte, um jemanden auf Distanz zu tracken – oder Equipment, um DNA zu scannen. Das bedeutete, sie konnten mich nur dann identifizieren, wenn sie mich erwischten. Und ich hatte nicht vor, ihnen diesen Gefallen zu tun.

  Ich rannte, so schnell ich konnte. Es würde nicht lange dauern, bis Verstärkung kam. Das alte Industriegebiet, heute beherrscht von runtergekommenen Lagerhallen und leer stehenden Gebäuden, war weitläufig und einsam. Ich musste es bis zum alten Golfplatz schaffen, wo ein Wohngebiet anfing. Dort konnte ich untertauchen.

  Der Dünne war zäh – egal, wie schnell ich lief, es gelang mir nicht, ihn abzuschütteln. Meine Beine wurden schwer, ich war nass geschwitzt, und mein Kopf schmerzte tierisch. Die Tasche mit dem Operator schlug bei jedem Schritt gegen meine Hüfte, das Seil auf meiner Schulter wog eine Tonne. Alles in mir schrie nach einer Pause, aber ich brüllte innerlich dagegen an. Sie durften mich nicht kriegen. Wenn sie mich schnappten, war ich so gut wie tot.

  Ein Stück lief ich an der verlassenen Straße entlang, um Kraft zu sparen. In der Ferne kam mir eine TransUnit entgegen. Verstärkung? Ich konnte die Passagiere nicht erkennen, aber das Risiko war zu groß. Rasselnd holte ich Luft und beschleunigte wieder. In einem günstigen Moment schlug ich mich seitwärts in die Büsche.

  Keinen Augenblick zu früh.

  Ich hörte das Rascheln zurückschlagender Äste, dann laute Rufe und Befehle, schließlich Schritte vieler Stiefel, deren Träger den Wald absuchten. Die Verstärkung war eingetroffen und hatte noch keinen Fünf-Kilometer-Lauf in den Knochen. Chancengleichheit sah anders aus.

  Zu meinem Glück konnte ich bereits die Mauern der Siedlung sehen. Ich legte einen letzten Spurt ein, schlug Haken um zwei kleine Bäume und sprang über einen vermoderten Gartenzaun. Meine Sohlen streiften das Holz, ich strauchelte, fiel aber nicht. Schnell rannte ich um die nächste Ecke, verlangsamte dann meine Schritte und zog mir die Kapuze vom Kopf.

  Vor mir lag eine Gruppe mehrgeschossiger Häuser mit schäbigen Fassaden und verwilderten Gärten. Hier wohnten die Idles, jene Menschen, die von der Grundversorgung lebten und zum Arbeiten zu alt, faul oder krank waren. Sie bekamen nicht viel, nicht einmal einen Namen für ihre Siedlung, die einfach nur das Viertel genannt wurde.

  Es war ein trostloser Ort. Die Zäune verfielen langsam und die Eingangstüren hatten schon lange keine frische Farbe mehr gesehen. Viele Mauern waren grün vom Moosbefall, an manchen wucherte dunkler Efeu ungehindert zum Dach.

  Auf einem kleinen Platz in der Mitte fand ein Markt statt, auf dem die Idles Kleidung tauschten oder sich mit selbst angebauten Lebensmitteln versorgten. Ich steuerte einen alten Schuppen an und verschwand hinter den grünlichen Brettern. Es roch nach Erde und feuchtem Holz.

  Schnell warf ich das Seil in die Ecke und zog meine schwarze Jacke aus. Ich knüll
te sie zusammen, steckte sie in eine Tonne mit Kompost und häufte halb verfaulte Kartoffelschalen darüber. Ein Zipfel der Jacke war jedoch widerspenstig und ragte heraus. Es war die Ecke mit dem Zeichen des Königs, einer stilisierten Lilie mit zwei gekreuzten Pfeilen, die ein X bildeten und deren Spitzen nach oben zeigten. Wütend griff ich danach und stopfte sie besonders tief in die Tonne. Ich stellte mir vor, dass es sein Rachen war.

  »Was machst du da?«

  Ich schreckte hoch und stieß mir an der niedrigen Decke des Schuppens den Kopf.

  Au.

  3

  Als die Sterne vor meinen Augen zu tanzen aufhörten, erkannte ich zwei Augen auf halber Höhe. Erleichtert atmete ich aus. Es war nur ein Kind.

  »Ah, hey, ich wollte nur eben meine Jacke entsorgen«, antwortete ich beiläufig. »Ich habe sie aus Versehen zerrissen.« Hoffentlich wusste das Kind nicht, dass man Kleidung aus künstlichem Material nicht in den Kompost stopfte.

  Ein zerzaustes blondes Mädchen tauchte hinter der Tonne auf. »Oh je, das passiert mir auch manchmal. Dann schimpft meine Mama immer.«

  Die Kleine sah zwar etwas schmuddelig aus, wirkte allerdings wohlgenährt und gesund. Das war’s dann aber auch schon, dachte ich bitter. Früher hätte diesem Mädchen die ganze Welt offengestanden, sie hätte alles tun und alles sein können. Und jetzt? Jetzt waren ausreichend Essen, medizinische Versorgung und ein Leben nach den Regeln des Königs alles, was die Zukunft ihr bot. Wir alle waren zu einem Leben in Unfreiheit verdammt. Es war zum Kotzen.

  Das Mädchen sah mich ängstlich an. »Du verrätst den anderen doch nicht, dass ich mich hier versteckt habe, oder?«

  »Nur, wenn du mich auch nicht verrätst.« Ich lächelte, löste meinen Zopf und schüttelte die langen Haare aus. Sie fielen mir glatt über die Schultern, noch feucht, aber nicht mehr schweißnass.

  »Ich verspreche es.« Die Kleine nickte eifrig.

  »Gut.« Ich griff nach meiner Tasche. Das Seil würde ich später holen müssen. »Wenn ich deine Freunde treffe, sage ich ihnen einfach, du wärst in den Wald gelaufen.« Die Kleine strahlte. Ich zeigte ihr den hochgereckten Daumen, dann spähte ich um die Ecke und trat ins Freie.

  Ich brauchte dringend etwas anderes zum Anziehen. Die Jacke war ich zwar losgeworden, aber meine dunkle Hose und das schwarze Shirt waren trotzdem zu auffällig. In der Nähe sah ich einen Stand von zwei älteren Frauen, die Kleidung anboten. Sie stritten gerade mit einer jungen Mutter, ob drei Paar Socken ein angemessener Tauschpreis für einen Schal waren. Ich ging zur Rückseite des Standes und griff heimlich nach einem roten Pullover. Da drehte sich eine der Frauen um.

  »Kann ich dir helfen?«, fragte sie misstrauisch.

  »Ja, ich suche …« Ich griff nach etwas, das ganz oben auf dem Stapel lag. »So was hier. Die ist wirklich hübsch.« Ich hielt die bunte Jacke hoch. Sie war so hässlich, dass ich mir eher die Pulsadern aufgeschnitten hätte, als sie freiwillig zu tragen. Aber ich konnte nicht wählerisch sein.

  »Ja, nicht wahr?« Der skeptische Ausdruck der Idle-Frau verschwand. »Die hat meine Schwester selbst gestrickt. Sie passt toll zu deinen Augen.« Sie deutete mit ihren stummeligen Fingern auf einen moosfarbenen Streifen, der keinerlei Ähnlichkeit mit meinen blattgrünen Augen hatte. Trotzdem nickte ich eifrig.

  »Ja, das ist wirklich verblüffend. Als wäre sie für mich gemacht.« Ich strich sehnsüchtig über die kratzige Wolle.

  »Du solltest sie anprobieren.« Sie lächelte, aber dann traf mich ein prüfender Blick. »Ich habe dich hier noch nie gesehen, oder?«

  »Doch, sicher. Ich gehöre zu Frank.« Ich sagte es, als wäre ich verwundert, dass sie mich nicht erkannte. Es war eine sichere Wette. Irgendjemand hieß immer Frank.

  »Ah, Frank Fortier, oder?« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Man sieht die Ähnlichkeit. Bist du seine Tochter?«

  Etwas in ihrer Stimme warnte mich davor, die Frage zu bejahen. »Nein«, antwortete ich. »Ich bin seine Nichte. Meine Mum hat mich vor einem Jahr aus Coventry hierhergeschickt. Wegen der Seeluft.«

  »Seine Nichte, ah. Das ergibt Sinn, nach allem, was passiert ist.« Sie nickte und gab mir die Jacke. »Los, zieh sie an.«

  Ich schlüpfte hinein und drehte mich einmal. Es war ein Stoff gewordener Albtraum. Die Jacke war unförmig, hatte zu lange Ärmel und die Farben passten nicht zusammen. Wenn die Schafe gewusst hätten, dass ihre Wolle für so eine Scheußlichkeit geopfert werden würde, hätten sie zu den Waffen gerufen. »Sie ist toll«, seufzte ich traurig. »Leider habe ich nichts zum Tauschen.«

  »Ach, das ist in Ordnung.« Die Frau winkte ab. »Ich schenke sie dir. Mariette wird sich freuen, wenn jemand sie nimmt.«

  Ich strahlte sie an.

  »Super, danke! Das ist wahnsinnig nett.« Ich schloss die Knöpfe und zog meine Haare aus dem Kragen. Hoffentlich konnte ich das Ungetüm auf dem Heimweg entsorgen.

  Ich wechselte noch ein paar Worte mit der Frau, dann verabschiedete ich mich und ging weiter. Von einem anderen Stand klaute ich ein Geschirrtuch und hängte es über meine Tasche, ein herrenloser Schal machte die Verwandlung zur harmlosen Bürgerin komplett. Gerade noch rechtzeitig: In dem Moment, als ich auf einen Stand mit Gemüse zuging, stürmten zehn Turncoats auf den Platz.

  Niemand antwortete, als der Dünne lautstark nach jemandem in dunkler Kleidung und mit schwarzer Tasche fragte. Die Idles fürchteten die Wachleute und hätten sie nie angelogen. Aber da sie niemanden gesehen hatten, auf den die Beschreibung passte, blieben sie stumm. Ich setzte mich auf die Umrandung des alten Brunnens und hängte meine Tasche hinter mir in das leere Becken. Vielleicht hätte ich verschwinden können, aber es war nichts auffälliger als unauffälliges Verhalten. Also blieb ich und tat so, als wäre ich schon immer hier gewesen.

  Die Turncoats begannen damit, Leute zu befragen, und kamen irgendwann zu mir. Ausgerechnet Owen wurde auf mich aufmerksam.

  »Hey, du! Hast du etwas gesehen?« Er klang müde, hatte schweißnasse Haare und ein feuchtes Gesicht. Bei der Verfolgungsjagd musste er sich völlig verausgabt haben.

  »Nein, Sir, nichts«, sagte ich verschüchtert. »Ich bin nur hier, weil ich etwas zum Anziehen gebraucht habe.« Ich zupfte am Ärmel meiner neuen Jacke.

  »Und was ist in der Tasche?«, schnauzte er mich an.

  »Nur Gemüse, Sir.« Schützend legte ich die Hände auf die Klappe.

  »Mach sie auf.«

  Ich zögerte.

  »Nun mach schon!«, drängte er.

  Ich gehorchte und öffnete die Tasche. Aber alles, was der Turncoat zu sehen bekam, waren ein paar Kartoffeln. Ich hatte sie in letzter Sekunde hineingeworfen, um den Operator zu verdecken.

  »Räum sie aus«, befahl der Dünne.

  »Jetzt hört aber auf!« Jemand schubste sich bis zu mir durch. Ich erkannte das Gesicht der Idle-Frau, die mir die Jacke gegeben hatte. Sie schien keine Angst vor den Turncoats zu haben. »Das ist Frank Fortiers Nichte, ihr Idioten. Glaubt ihr wirklich, dass sie verdächtig sein könnte?«

  Ich hatte keinen blassen Schimmer, was sie meinte, aber ich atmete auf. Das Tragen der scheußlichen Jacke war ein fairer Preis für die Hilfe der Frau.

  Der Dünne druckste herum, plötzlich ganz kleinlaut.

  »Nein, natürlich nicht, ich hatte ja keine Ahnung …«

  »Ja, das ist das Problem bei euch. Ihr habt nie irgendeine Ahnung!« Sie stellte sich vor mich. »Und jetzt hört auf, harmlose junge Mädchen zu belästigen.«

  Normalerweise hätte ich mich gegen diese Bezeichnung gewehrt: Ich war vor zwei Monaten achtzehn geworden und zudem alles andere als harmlos. Trotzdem gab ich mir Mühe, nach beidem auszusehen.

  Getuschel breitete sich aus und Wortfetzen flogen mir zu.

  »Fortier? Der mit der toten Tochter?«

  »Schlimme Sache war das.«

  »Ist vom Pier gesprungen, mitten in der Nacht …«

  Schnell reimte ich mir zusammen, dass die Tochter meines angeblichen Onkels Frank sich vor einigen Jahren umgebracht hatte, weil sie das Leben ohne Technologie nicht mehr ertragen hatte. Sie war kein Einzelfall, das wusste ich. Es hatte damals unzählige TechHeads wie sie gegeben – un
d es gab immer noch viele, die sich in der neuen Welt nicht zurechtfanden. Ich verstand nur nicht, wieso man den Tod wählte, wenn man auch für das kämpfen konnte, was man verloren hatte. Ich tat es. Alle hätten es tun sollen.

  Im allgemeinen Wirrwarr schloss ich meine Tasche wieder und stand auf. Unter den Beileidsbekundungen der Leute nickte und lächelte ich, machte ein betroffenes Gesicht und konnte mich schließlich durch eine Lücke davonstehlen. Ich machte mir keine Sorgen, dass man mich doch noch verraten würde. Die Stadt war groß und Menschen sind katastrophal vergesslich. Selbst wenn ich in einer Woche erneut bei ihnen auftauchte, würde mich niemand mehr erkennen.

  Der Weg nach Hause kam mir endlos vor, trotzdem blieb ich nicht stehen, um eine TransUnit zu ordern. Jede Fahrt wurde registriert. Ich wollte nicht mit dem Viertel in Verbindung gebracht werden.

  Während ich lief, fuhr eine Unit nach der anderen an mir vorbei. Die Waggons sahen alle gleich aus, es gab keine Farb- oder Ausstattungsvarianten. Früher hatte es ein öffentliches System gegeben und zusätzlich eigene Wagen für Leute, die reich waren und luxusversessen. Heute existierten solche Begriffe wie »reich« oder »Luxus« nicht mehr.

  Es gab eine Grundversorgung mit Wohnraum, Nahrungsmitteln, Kleidung und Medizin. Zusätzliche Entlohnung winkte allen, die ihre Arbeitsleistung zur Verfügung stellten. Niemand musste mehr hungern, frieren, unter Brücken schlafen, betteln oder stehlen. Wirklich alle Menschen waren versorgt, das erste Mal in unserer Geschichte. Es klang wie das Paradies. Aber das war eine Lüge.

  Über das schon seit fünfzig Jahren zentral regierte Europa herrschte jetzt ein einzelner Mann, der sich vor sechs Jahren selbst zum König ernannt hatte: Leopold de Marais. Innerhalb von Tagen war Europa mit allen Konsequenzen zu einer Monarchie mutiert, der alle Möglichkeiten eines modernen Überwachungsstaates zur Verfügung standen. Nicht, dass vorher tatsächlich ein demokratisches System geherrscht hätte, denn schon seit Jahren hatten die Big Ten, die zehn größten Unternehmen der Welt, über vieles bestimmt: Energie, Nahrung, Medizin, künstliche Intelligenz, Kommunikation. Wenn man ein Monopol hatte, konnte man eben vor allem eines: bestimmen. Aber obwohl die Regierungsmitglieder der Welt nur Marionetten in einem Theater gewesen waren, dessen Programm von den Konzernen vorgegeben wurde, hatten wir über unseren persönlichen Zugang zu all diesen Dingen selbst entscheiden können. Gegen Bezahlung natürlich, aber genau die hatte uns zu einem gewissen Grad mächtig gemacht. Denn wenn die Menschen nicht in eine neue Energietechnik, in ein neues Kommunikationssystem oder ein neues Virtual-Reality-Spiel investieren wollten, dann hatten auch die Konzerne sie nicht dazu zwingen können.

 

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