Book Read Free

[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen

Page 6

by Kiefer, Lena


  Julius setzte eine väterliche Miene auf und legte Jye einen Arm um die Schultern. »Eines Tages könnte das alles dir gehören, Sohn.«

  Jyes Ausdruck wurde schwärmerisch. »Auch die Weichbodenmatten und die Springseile?«

  »Ich möchte nicht, dass du so über deine Kollegen sprichst.«

  »Würde ich nie tun.« Jye lächelte mir zu, dann marschierte er zu Delta. »Also, Madame«, hörte ich ihn sagen, »was willst du sein, Frau oder Weichbodenmatte?«

  »Dafür fängt er sich eine«, murmelte Julius und schien mich erst jetzt wieder zu bemerken. Früher hatte es solche witzigen Schlagabtausche auch zwischen ihm und Knox gegeben. Aber das schien Julius längst vergessen zu haben.

  »Gab es heute Probleme?«, fragte er mich.

  »Die Wachmannschaft war früher da als erwartet«, antwortete ich wie schon bei Jye. Dann hieb ich wieder auf den Sack ein. »Aber ich habe sie im Viertel abgehängt.«

  »Okay, das ist gut.« Er packte den Sack fester. »Sag mal, Phee … wirst du dich für die Vorauswahl der Garde melden?«

  »Natürlich.« Ich hob das Kinn. »Hast du etwas dagegen?«

  »Das kommt darauf an.« Julius ließ den Boxsack los. »Rache ist keine gute Motivation für so etwas.«

  Ich stöhnte genervt auf. »Oh bitte, spar dir deine Kalenderweisheiten, okay? Ich bin nicht in Stimmung.«

  Julius griff um den Sack herum und hielt meine Hände fest.

  »Das ist mir egal. Wenn du seinetwegen dort hinwillst, dann ist das eine echt miese Idee.«

  Ich funkelte ihn an.

  »Ach ja, und warum? Weil man vergessen sollte, dass wir Menschen verloren haben? Dass wir ihn verloren haben? Wenn du das kannst, herzlichen Glückwunsch. Ich bin weniger abgebrüht als du.« Ich machte meine Hände los und verpasste dem Boxsack einen harten Schlag.

  »Ophelia, bitte.« Julius benutzte meinen vollen Namen nur selten. »Ich weiß, dass du wütend bist. Aber das geht jetzt schon seit Monaten so und du kannst nicht –«

  »Ich kann nicht was?«, unterbrach ich ihn. »Wütend sein? Ich habe Neuigkeiten für dich: Ich kann und ich werde für den Rest meines Lebens wütend sein! Und du wirst mich nicht daran hindern!« Einige drehten sich zu uns um.

  »Glaubst du, mir ist das egal?«, fragte Julius mich. »Er war auch mein Freund!«

  »Ja, aber ich habe ihn geliebt!«, rief ich. »Offensichtlich ist das ein Unterschied!«

  Ich riss mir die Handschuhe herunter, warf sie ihm vor die Füße und stürmte zum Ausgang. Eilig lief ich durch den Gang, fand die Tür zum Pier und stieß sie auf. Kalte Luft schlug mir entgegen, aber ich spürte es kaum. Wut und Schmerz kämpften in mir einen Kampf ohne Verlierer. Schwer atmend stützte ich mich auf die Brüstung.

  Knox war der beste Dieb von uns allen gewesen und deswegen immer erste Wahl, wenn es um die Beschaffung von Gegenständen oder Daten gegangen war. Im Dezember, zwei Wochen vor Weihnachten, hatte er einen Auftrag bekommen – das Abfangen von Steuereinheiten für das Wasserwerk an der Stadtgrenze. Kurz davor hatte er sich mit einem langen Kuss und einem Lächeln von mir verabschiedet. Er hatte versprochen, in ein paar Stunden zurück zu sein.

  Dieses Versprechen hatte er gebrochen. Als ich von seiner Festnahme erfahren hatte, war er längst dem Clearing-Team übergeben worden.

  Das war also alles, was ich noch hatte: sein Lächeln an diesem Tag und die Erinnerungen an die zwei Jahre davor. An unseren ersten Kuss, unsere erste Nacht, unsere Streits und Versöhnungen, die Diskussionen und unzähligen glücklichen Momente. Knox hatte alles einfacher gemacht, klarer und richtiger. Mit ihm an meiner Seite war die Welt und sogar die Abkehr besser zu ertragen gewesen. Wir hatten uns auf eine Weise verstanden, die man nicht beschreiben konnte. Und jetzt war er fort.

  Nach einer Weile hörte ich Schritte, vermutlich die von Jye. Nur er traute sich, in so einem Moment in meine Nähe zu kommen.

  »Kann man hier nie seine Ruhe haben?«, fragte ich und starrte auf das dunkle Meer hinaus. Unter dem Pier schlugen die Wellen gegen die Stützen.

  »Nope.« Jye kam näher und lehnte sich neben mir an das Geländer. »Ich hatte schon lange damit gerechnet, dass du das tun würdest.«

  »Was, Julius anschreien?«

  »Ihm sagen, was du denkst. Dass du dabei schreien würdest, war nicht sicher. Aber die Chancen standen fifty-fifty.«

  Ich lachte leise und zitterte dabei vor Kälte. Plötzlich spürte ich Wärme auf meinen Schultern. Jye hatte mir seine Kapuzenjacke umgelegt.

  »Du elendiger Ritter«, murrte ich.

  »Ich nehme das als Kompliment.« Er schwieg einen Moment. Ich hörte der Stille an, dass er über die richtigen Worte nachdachte. »Wir haben Knox nicht vergessen, weißt du. Auch Julius nicht.«

  »Bist du sicher?«, fragte ich. »Niemand spricht über ihn, niemand erwähnt seinen Namen oder sagt ›Es tut mir leid, dass er weg ist‹. Alle sind einfach zur Tagesordnung übergegangen. Das macht mich krank.«

  »Er war nicht der Erste von uns, der zum Clearing geschickt wurde«, sagte Jye. »Wir leben alle mit diesem Risiko, du genauso wie ich. Knox wusste, worauf er sich einlässt.«

  »Ich vermisse ihn, Jye.« Mein Herz tat so weh, als wäre es tatsächlich zerbrochen. Für einen Moment drohte ich, den Kampf gegen den Schmerz zu verlieren. »Ich vermisse ihn so sehr.«

  »Ich auch, Phee, glaub mir.« Jye legte den Arm um mich und ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter. »Aber wir können ihn nicht zurückholen. Wir können nur dafür sorgen, dass es nicht umsonst war, was er getan hat.«

  »Dann sollten wir wohl bei dieser Auswahl mitmachen, oder?« Nur langsam zog sich der Schmerz wieder zurück. Schweigend standen wir eine Weile an der Brüstung, dann gab ich mir einen Ruck. »Lass uns reingehen. Da wartet noch ein Geschicklichkeitsparcours auf dich. Glaub nicht, dass du dich drücken kannst.« Mit dem Ellenbogen knuffte ich ihn in die Seite und hielt die Tür auf.

  Jye folgte mir. Als wir in dem dunklen Gang waren, murmelte ich leise ein »Danke«.

  Er antwortete nicht. Aber ich wusste, dass er mich gehört hatte.

  Das Training zog an mir vorbei und Julius hielt sich von mir fern. Einige standen bereits in der Schlange, um sich für die Vorauswahl der Garde einzutragen, als ich vom Umziehen zurückkam. Liora war auch dabei.

  »Code ist schon weg«, sagte sie.

  »Warum, hatte er Angst, es würde ihn jemand zwangsverpflichten?« Ich zog Knox’ Jacke über.

  »Vielleicht.« Sie grinste.

  Die Schlange wurde schnell kürzer. Julius ließ Jye unterschreiben und schickte zwei Mädchen weg, ohne ihnen die Liste zu geben. Die eine sah verärgert aus, die andere erleichtert.

  »Zu jung«, raunte Liora.

  »Zu schwach«, sagte ich. Wir lachten leise.

  Dann waren wir an der Reihe. Liora setzte zuerst ihren Namen und ihre Kennung in die entsprechenden Felder, bevor sie Stift und Papier zurückgab. Julius zögerte, es an mich weiterzugeben.

  »Ich könnte mich weigern, dich auf die Liste zu setzen«, sagte er.

  »Du könntest.« Ich nickte. »Aber das wirst du nicht.«

  »Warum nicht?«

  »Weil du dir das nicht leisten kannst. Du weißt, dass ich gute Chancen habe, genommen zu werden.«

  »Das ist richtig«, gab Julius zu. »Aber nur, wenn du deine Gefühle raushalten kannst. Die werden dich mehrfach überprüfen. Wahrscheinlich werden sie dich sogar zu Knox befragen, während du an einem CerebralAnalyzer hängst. Das sind fiese Dinger, die direkt auf deine Hirnströme zugreifen und dich bei jeder Lüge ertappen.«.

  Ich presste die Zähne aufeinander.

  »Und? Offiziell ist er ein Radical. Ich muss nicht lügen, wenn ich ihnen sage, dass ich die Typen hasse.«

  »Du weißt, dass ich keine Wahl hatte, was das angeht.« Julius sah sich um, aber alle anderen waren längst verschwunden. »Ich musste denen sagen, dass Knox ein Radical ist. Sonst hätten sie jeden hier durchleuchtet.« Der König wusste, dass es Widerstand gegen die Abkehr gab – aber nichts von ReVerse. Damit das so blieb, hängten wir es immer den Radicals an, wenn einer von uns erwischt wurde.

&nb
sp; »Ja, ich weiß.« Meine Wut war längst verraucht. »Ich will nur nicht, dass er vergessen wird.«

  »Das wird er nicht. Du hast mein Wort.«

  Wir wechselten einen Blick, und ich wusste, dass er es ehrlich meinte. Dann streckte ich die Hand nach der Liste aus.

  »Nun gib schon her.«

  Er reichte mir den Stift, und ich drückte besonders stark auf, als ich meinen Namen schrieb. Dann gab ich Julius die Liste zurück. Er nickte, ich nickte, damit war ich entlassen.

  Draußen vor dem Pier nahm Liora eine Beförderungseinheit in den Außenbezirk und ich schlug die andere Richtung ein. An der Straße wartete Jye auf mich.

  »Du willst laufen?«, fragte er.

  »Zumindest ein Stück.« Es war mittlerweile zehn Uhr und stockdunkel. Aber je länger ich mich bewegte, desto später würde mein Muskelkater mich umbringen.

  »Was dagegen, wenn ich mitkomme?«

  »Du musst doch nach Fields.« Das Wohnviertel lag im Norden von Brighton, während ich im Westen wohnte.

  »Ja, aber ich nehme dann eine TransUnit vom Engineerium.«

  Ich nickte, obwohl ich müde war und keine Lust auf eine Unterhaltung hatte. Jye tat so etwas für Knox, also wollte ich es ihm nicht abschlagen.

  Wir gingen schweigend an der Promenade entlang. Die Straßenbeleuchtung hüllte uns in sanftes Licht, das Meer war ein tiefschwarzer Teppich, der leise an die Mauer gurgelte. Eine Gruppe von Leuten kam uns entgegen, fünf Jungs in unserem Alter. Als wir an ihnen vorbeigingen, rempelte einer von ihnen Jye hart an. Mein Freund wollte es ignorieren und weitergehen, aber dann hielt ihn ein anderer auf. Ein dritter stellte sich mir in den Weg. Ich wechselte einen schnellen Blick mit Jye. Meine Sinne schärften sich augenblicklich.

  »Hey, sieh an, die Spinner aus der Theatergruppe.« Der Tonfall des Typen war aggressiv. An seiner Jacke sah ich das königliche Symbol, bei dem die Pfeile rot nachgemalt worden waren und somit ein X bildeten, das die Lilie durchkreuzte. Radicals. Sie gingen mit ihrer Abneigung gegen den König idiotisch offen um, trugen sogar Schmuck und Tattoos mit der durchgestrichenen Lilie. Manchmal gab es Verhaftungen und die Turncoats zogen einige aus dem Verkehr. Aber Radicals wuchsen nach wie Unkraut.

  »Ich will keinen Ärger, okay?« Jye hob abwehrend die Hände.

  »Nicht? Aber vielleicht will deine hübsche Freundin ja welchen.« Der Radical grinste mich an. »Du bist doch aus dem Phobe-Lager im Droveway, oder?«

  »Warum, willst du dort unterkommen?« Mein Tonfall war spöttisch. »Vielleicht kann ich das für dich arrangieren. Mit unseren Rindern würdest du dich prächtig verstehen.«

  Der Typ pfiff durch die Zähne. »Oh, du bist frech, was? Mal sehen, ob du das immer noch bist, wenn wir mit dir fertig sind.« Er zog ein Messer aus dem Hosenbund.

  »Ein Wunder, dass du dir damit noch keine wichtigen Kleinteile abgetrennt hast«, kommentierte ich trocken. Normalerweise ging ich Ärger aus dem Weg, weil ReVerse es verlangte. Aber heute hatte ich große Lust, meine Wut an ein paar Radicals auszulassen. »Oder hast du?«

  Der Radical starrte mich hasserfüllt an. »Schmeißt den Kerl ins Wasser«, ordnete er an. »Die Kleine nehmen wir mit. Ich wette, mit der kann man eine Menge Spaß haben.«

  Ich warf meinen Rucksack zu Boden, Jye tat das Gleiche. Mein Gehirn analysierte die Situation in einem Wimpernschlag. Gut, dass ich vorhin nur eine halbe Dosis meines Medikaments genommen hatte.

  Typ Nummer 1 – hängende rechte Schulter, also Linkshänder. Dünne Beine.

  Typ Nummer 2 – klein, leicht, drahtig, zappelt herum. Ein guter Schlag genügt.

  Typ Nummer 3 – schont rechten Arm, wurde wahrscheinlich gerade erst tätowiert.

  Typ Nummer 4 – groß und bullig. Den soll Jye nehmen.

  Typ Nummer 5 – oh, bitte. Das soll wohl ein Witz sein.

  Der Typ mit dem Messer griff mich an, den Arm erhoben, auf dem Gesicht einen manischen Ausdruck. Ich duckte mich, ging in die Hocke und trat ihm mit voller Wucht die Beine weg. Er stürzte, fiel zu Boden, ließ das Messer fallen. Schnell kickte ich danach. Es rutschte klirrend über die Steine und fiel ins Wasser.

  Während Eins noch am Boden lag und ächzte, kamen Zwei und Drei auf mich zu.

  »Jetzt bist du fällig, Phobe-Schlampe!«

  Der hatte tatsächlich die Frechheit, mich als Phobe zu bezeichnen? Dafür war er fällig.

  Mein Schlag traf Drei dort, wo ich sein frisches Tattoo vermutete. Er heulte auf und griff sich an den Arm. Ich nutzte den Moment und rammte ihm meinen Ellenbogen ins Gesicht, um ihn loszuwerden. Zwei, der kleine leichte Kerl, hatte ein bisschen mehr auf Lager. Er wieselte flink um mich herum, probierte ein paar Kombinationen aus, erwischte mich an der Hüfte, direkt an meinem Bluterguss. Verflucht, tat das weh. Das kriegst du zurück.

  Wutentbrannt verpasste ich Zwei einen linken Haken und wollte ihn mit einem Tritt von den Füßen hauen. Er war schneller. Hastig hielt er meinen Fuß fest und drehte ihn mit einem Ruck, um mich zu Boden zu werfen. In dem Moment griff ich nach Jyes Schulter, zog meinen freien Fuß hoch und traf Zwei mitten im Gesicht. Blut spritzte aus seinem Mund, er brüllte vor Schmerzen, taumelte rückwärts. Ein Schritt, ein zweiter, dann stürzte er ins Meer.

  An der Kante lag Fünf mit nach oben verdrehten Augen und einem unnatürlich abgespreizten Arm. Drei war vor Schmerzen zusammengesackt, außer einem kläglichen Wimmern gab er nichts mehr von sich. Ich hörte den Kiefer von Vier unter einem Schlag von Jye knacken. Ugh. Da war etwas richtig böse zertrümmert worden.

  Eins hatte die Strategie geändert. Da sein Messer weg war, nahm er nun die Faust, um die er seine massive Halskette gewickelt hatte. Die Lilie mit dem X flog nur Zentimeter an meinem Gesicht vorbei. Unter dem nächsten Schlag tauchte ich weg und erwischte mit meinem Stiefel seine Kniescheibe. Es knirschte übel und Eins brach mit einem lauten Schrei zusammen. Ein Schlag ins Gesicht setzte ihn endgültig außer Gefecht. In der gleichen Sekunde knallte Vier zu Boden.

  »Die ›Kleine‹ nehmt ihr wohl doch nicht mit, Arschloch«, sagte ich und trat auf den Anhänger der Kette. Knirschend verbog er sich.

  Jye hielt mir die Hand hin und ich schlug ein.

  »Gute Arbeit, Miss Scale.« Er keuchte.

  »Du warst aber auch nicht schlecht, Mister Eadon.« Ich keuchte mit. »Es geht doch nichts über Training in der freien Wildbahn.«

  Wir waren nicht so abgebrüht, wie wir taten. Aber es half über den Schreck hinweg. Streitereien mit den Radicals hatte es schon früher gegeben. Dass sie jedoch wahllos Leute angriffen, war neu. Der Wind im Land drehte und wurde rauer. Irgendwann würde die Lage eskalieren.

  »Glaubst du, sie werden verraten, wer sie fertiggemacht hat?«, fragte ich und wühlte in meiner Tasche.

  »Ein Phobe-Mädchen und ein Typ aus der Theatergruppe? Niemals.« Jye lachte. »Was machst du da?«

  »Ich suche etwas … ah, hier.« Ganz unten in meinen Sachen hatte ich von meinem vorletzten Auftrag noch ein paar Taserprojektile. Eilig schob ich sie einem der Typen in die Jackentasche. Dafür wurde man normalerweise nicht zum Clearing geschickt, aber zusammen mit den Radicals-Zeichen würde es reichen.

  »Komm, wir hauen ab. Ich hab keine Lust, den Turncoats das hilflose Mädchen vorzuspielen.« In einiger Entfernung sah ich einige dunkel gekleidete Wachleute am Pier. Es würde nicht lange dauern, bis sie die fünf Typen entdeckten.

  Jye grinste. »Hilfloses Mädchen? Du musst mich nicht zum Helden machen. Ich bin Manns genug, um mich von dir retten zu lassen.«

  »Das ehrt dich sehr. Aber ich denke nicht, dass sie es glauben würden.«

  Die Lust auf einen Spaziergang war uns beiden vergangen, also verließen wir die Promenade über eine Seitenstraße. An der Ecke stand ein Terminal. Jye gab unsere Kennungen und Zielorte ein.

  »Das war großes Kino, Phee«, sagte er, während wir warteten.

  »Ich habe nichts anderes gemacht als du«, widersprach ich.

  »Oh doch, hast du. Ich habe zugeschlagen und gehofft, etwas zu treffen. Du dagegen wusstest genau, worauf du zielen musst.«

  »Na, ich bin einfach eine gute Beobachterin.« Ich hob die Schulte
rn. Es war nicht die ganze Wahrheit, aber auch nicht gelogen. Ich besaß keine Superkräfte. Ich hatte nur die Kapazität meines Gehirns, meines sehr leistungsfähigen und meist in Ketten gelegten Gehirns. Aber selbst wenn ich Jye das hätte sagen dürfen – jetzt wäre ich zu müde dafür gewesen.

  »Ich habe mich noch nie so auf mein Bett gefreut«, seufzte ich. In drei Tagen war die Vorauswahl. Wahrscheinlich würde ich bis dahin einfach durchschlafen.

  8

  »Sie haben noch zehn Minuten. Bitte beachten Sie, dass wir nur vollständig bearbeitete Tests akzeptieren.«

  Das Pad vor mir auf dem Tisch vibrierte leicht, als wollte es die Worte der Aufsicht unterstreichen. Ein Counter in der oberen rechten Ecke des Displays zählte herunter.

  <9:45>

  <9:44>

  <9:43>

  <9:42>

  Die Vorauswahl für die Garderekruten fand im Bankettsaal des Royal Pavilion statt. Es war ein feudal ausgestatteter Raum mit dunklem Holzboden und roten Vorhängen. Wenn man den Kopf in den Nacken legte, konnte man das Innere des Kuppeldachs sehen, wo ein gemalter Drache vor einem Kreis aus Palmwedeln den Kronleuchter hielt. Aber dafür hatte niemand einen Blick – alle hundert Köpfe im Raum beugten sich über ihre SmartPads. Ich sah Jyes breiten Rücken ganz vorne, in der Fensterreihe saßen Liora und die anderen Leute von ReVerse.

  Die Prüfung war so leicht wie vorhersehbar. Es gab einen Intelligenztest mit Logikreihen und Aufgaben zur Allgemeinbildung. Danach kamen Fragen zu persönlichen Interessen und schließlich der Teil, bei dem man herausfinden wollte, ob unsere Gesinnung mit der des Königs übereinstimmte.

  Das Gute an einem SmartPad war, dass es Lügen nicht erkennen konnte. Also hatte ich gelogen, was das Zeug hielt. Ob ich in der Lage war, mein eigenes Wohl hinter das des Königs zu stellen? Na, aber hallo. Was für mich das Wichtigste im Leben war? Auf jeden Fall, für Sicherheit und Frieden zu sorgen. Was ich von der Abkehr hielt? Das Beste, was mir je passiert war.

  Der Timer zeigte fünf Minuten Restzeit an. Ich hatte noch eine Frage zu beantworten. Welche Ihrer Stärken zeichnet Sie besonders für die Arbeit bei der königlichen Garde aus? Das war einfach. Ich setzte den AccessPen auf das Pad und begann, zu schreiben.

 

‹ Prev