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[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen

Page 8

by Kiefer, Lena


  »Ja, wahrscheinlich hast du recht.« Ich nickte. Dann zeigte ich zur Treppe. »Ist er oben?«

  »Schon den ganzen Vormittag. Ein Nachbar hat neue Comics vorbeigebracht, dann höre ich oft stundenlang nichts. Geh ruhig hoch. Du kennst den Weg ja.«

  Der Treppenaufgang war ebenso eng und dunkel wie der Flur, außerdem roch es staubig. Meine Schritte verursachten ein dumpfes Klopfen auf dem Teppich, passend zu meinem Herzschlag.

  Auf halber Höhe hing in einem Rahmen das gezeichnete Bild eines kleinen Jungen. Er war dunkelhaarig und saß auf dem Schoß eines Mannes, der verblüffende Ähnlichkeit mit ihm hatte. Beide lächelten strahlend.

  Ich schluckte und wandte mich ab, ging weiter, wenn auch zögernd. Das Ende der Treppe schien unendlich weit entfernt und gleichzeitig drohend nahe. Mit jeder Stufe wurden meine Schritte schwerer. Trotzdem blieb ich nicht stehen.

  Drei Türen gingen im ersten Stock vom Flur ab, eine war nur angelehnt. Ich wappnete mich innerlich. Dann schob ich die Tür etwas weiter auf.

  Ein kleines Zimmer lag dahinter, vollgestellt mit Bücherregalen, einem einfachen Bett aus Holz und einem kleinen Schreibtisch. Auf dem Teppich in der Mitte saß ein junger Mann, der sich mit konzentriertem Gesicht über ein Comicheft beugte. Seine Brauen waren dunkel, seine tiefbraunen Haare fielen ihm in die Stirn. Der Schmerz in meinem Herzen breitete sich in meinen ganzen Körper aus.

  Kurz hatte ich den Impuls, wieder zu gehen und von hier zu flüchten – so schnell ich konnte. Aber dann knarrte eine Diele und der Junge sah erschrocken auf.

  »Ophelia!« Der Schreck wich Freude, als er mich erkannte.

  Meine Stimme klang wie Schmirgelpapier, als ich etwas sagte. Es war ein Name, ebenso vertraut wie fremd.

  »Hi, Nicholas.«

  9

  Es gibt nichts Schlimmeres als den Tod.

  Das ist es, was die Menschen glauben. Das Ende des Lebens ist für sie das Schrecklichste, was sie sich vorstellen können. Es bedeutet, nie wieder Familie und Freunde zu sehen. Nie wieder etwas zu tun. Nie wieder etwas zu sagen. Nie wieder etwas zu sein.

  Aber es gibt etwas, das schlimmer ist: wenn man jemandem alles nimmt, was ihn ausmacht. Erinnerungen an geliebte Menschen. Erinnerungen an Erlebnisse und Erfahrungen. Erinnerungen an Gefühle. Erinnerungen an sich selbst.

  Das war es, was beim Clearing passierte. Die Prozedur beendete nicht das Leben, sie tötete nicht körperlich. Das Clearing tat etwas viel Grausameres: Es beseitigte die Essenz einer Person.

  Ein Clearing löschte einen Menschen aus.

  Der junge Mann in diesem Zimmer hieß Nicholas Odell und war zwanzig Jahre alt. Er hatte die Statur, das Gesicht, auch die Stimme eines 20-Jährigen. Aber in seinem Kopf sah es anders aus.

  Nicholas fehlten die Erinnerungen an alles, das nach seinem zehnten Geburtstag passiert war. Er wusste nicht, dass man ihn Knox genannt hatte oder dass er bei ReVerse gewesen war. Er hatte keine Ahnung, warum sein Vater gestorben war oder wann er angefangen hatte, sich für Geschichte zu begeistern. Er wusste auch nicht mehr, dass er sich vor über zwei Jahren in ein Mädchen namens Ophelia verliebt hatte. Unsere erste Begegnung, das erste Date, unsere gesamte Beziehung – für ihn war nichts davon je passiert.

  Aber er hatte nicht nur die Erinnerungen eines Zehnjährigen, er war ein Zehnjähriger. Knox lebte, fühlte und handelte wie ein Kind. Er aß am liebsten Spaghetti mit Tomatensoße und interessierte sich für Comics. Er fand Mädchen seines Alters doof und spielte gerne Fußball im Park. Wenn er mich anschaute, sah er eine Bekannte, die ihn in den letzten Monaten regelmäßig besucht hatte.

  Ich sah in ihm alles, was ich verloren hatte.

  »Du warst ziemlich lange nicht mehr hier.« Knox zog die Augenbrauen zusammen. Es war eine Geste, die ich gut kannte. Trotzdem wirkte sie fremd.

  »Das stimmt und es tut mir leid.« Meine Stimme war immer noch kratzig. Die Besuche bei Knox waren eine Tortur, aber ich kam trotzdem immer wieder. Ich war wie eine Süchtige, die ihre nächste Dosis wollte, obwohl sie wusste, dass es sie irgendwann umbrachte.

  »Wie läuft es in der Schule?« Ich setzte mich zu Knox auf den Boden.

  »Ach, Schule ist blöd.« Er zog eine Grimasse. »Wir machen gerade Geometrie, und ich habe das Gefühl, ich weiß das schon alles. Aber Mum sagt, das kommt mir nur so vor.«

  »Du bist eben ein kluger Junge. Wahrscheinlich lernst du schneller als die anderen.« Ich lächelte – dabei hätte ich mich am liebsten an seine Schulter gelehnt und geweint.

  »Oh, ich muss dir etwas zeigen. Warte kurz.« Er sprang auf, schwankte einen Moment und lief aus dem Zimmer. Ich blieb allein.

  Die Odells hatten nicht immer in Horsham gewohnt, sie waren erst nach dem Clearing hierhergezogen. Die Stadt war das regionale Auffanglager für Leute wie Knox. Hier gab es spezielle Schulen und Einrichtungen, so konnte man die sogenannten Clearthroughs besser überwachen – auch medizinisch. Knox dachte und bewegte sich wie ein Zehnjähriger, aber seine Muskulatur passte nicht dazu. Dieses Ungleichgewicht musste mit Medikamenten ausgeglichen werden, die seinem Hirn vormachten, er sei ein Kind. Deshalb schwankte er manchmal, wenn er aufstand und seine Kraft unterschätzte.

  »Hier, schau mal. Das habe ich heute gemalt.« Knox kam wieder herein, einen Zeichenblock in den Händen. Darauf war mit vielen Buntstiften und wenig Talent ein Haus gezeichnet worden, neben dem ein Dinosaurier stand. In der Ecke war in schräger Schrift »Nicholas« zu lesen.

  Knox setzte sich wieder neben mich und streifte dabei meinen Arm. Ich bekam eine Gänsehaut. Im Gegensatz zu ihm erinnerte ich mich an seine Berührungen von früher.

  »Das ist echt klasse«, heuchelte ich und zog den Arm unauffällig weg. »Vor allem der Dinosaurier ist super.«

  »Das ist ein Pferd!« Knox sah mich empört an. »Das sieht man doch. Guck, hier sind die Beine und der Kopf – und da ist der Schweif.«

  Ich schaute noch einmal hin. Es sah immer noch aus wie ein Dinosaurier. »Klar, ein Pferd«, nickte ich trotzdem, »das sieht man sofort. Mein Fehler.«

  »Du hast bestimmt schon lange keins mehr gesehen.« Knox legte das Bild beiseite und schlang die Arme um die Knie. »Wir haben letzte Woche einen Ausflug zu einem Hof gemacht. Da gab es Pferde und Kühe und kleine Ferkel.«

  »Und, war es schön?«

  »Es war toll!« Knox strahlte. »Wir haben gesehen, wie man aus Wolle Pullover macht und wie man die Milch aus den Kühen holt. Wenn ich groß bin, will ich das auch machen.«

  »Was, Kühe melken?«

  »Nein, natürlich nicht.« Knox verdrehte die Augen. »Einen Hof haben. Mit Tieren und so etwas.«

  Ich starrte ihn an. Die ehemals größte Hoffnung des Widerstandes wollte ein Phobe werden. Welch Ironie.

  »Bist du sicher?« Ich räusperte mich. »Das klingt nach viel Arbeit.«

  »Aber es klingt auch nach viel Spaß. Die kleinen Ferkel waren so süß, Ophelia. Außerdem kann man alles selbst machen, mit den eigenen Händen.«

  Er sah ganz verzückt aus, während er sich seine Zukunft ausmalte. Genau das war es, was das Clearing bewirken sollte – man wurde an den Punkt zurückversetzt, als man noch »ungefährlich« gewesen war. Bei manchen brauchte es dafür drei Jahre Löschung, bei anderen fünf, sehr selten zehn oder mehr. Heraus kamen Menschen, die so beeinflussbar waren, dass sie nie wieder auf rebellische Gedanken kamen. Für die Clearthroughs gab es Schulausflüge zu den Phobes und Vorträge zum Thema Abkehr, dazu eine spezielle Förderung aller Fähigkeiten, die nichts mit Technologie zu tun hatten. Es war die totale Gehirnwäsche.

  »Ich weiß nicht, ob ich das wollen würde«, sagte ich skeptisch. »Vielleicht gibt es noch etwas anderes, das du machen möchtest. Was magst du denn in der Schule am liebsten?«

  »Sport«, sagte Knox wie aus der Pistole geschossen. »Und Literatur ist auch in Ordnung.«

  Mein Blick fiel auf das Regal, in dem Knox’ geliebte Geschichtsbücher verstaubten. Seine Mutter hatte es nicht übers Herz gebracht, sie wegzuwerfen.

  »Was ist mit Geschichte?«

  »Geschichte?« Er rümpfte angewidert die Nase.

  »Ja, du weißt schon, das Röm
ische Reich und die Weltkriege, der europäische Zusammenschluss …« Die Abkehr erwähnte ich nicht.

  »Ach, das. Nee.« Knox schüttelte den Kopf. »Voll lahm. Wen interessiert schon, was vor Tausenden von Jahren passiert ist?«

  Schon als kleiner Junge hatte Knox seine Leidenschaft für Geschichte entdeckt. Entfacht worden war sie von seinem Vater, einem Anlagentechniker, der lieber Historiker gewesen wäre. Er würde seinen Sohn jedoch nicht erneut dafür begeistern können, denn er war kurz nach der Abkehr gestorben. Hector Odell hatte eine seltene Lungenkrankheit gehabt, die ohne eine Weiterentwicklung der Medizintechnik nicht zu heilen gewesen war. Sein Tod hatte Knox zu ReVerse gebracht.

  »Das ist total spannend«, widersprach ich. »Da gab es Drama, Abenteuer, Gefühle – alles, was eine gute Story ausmacht.« Ich nahm meine Tasche und zog das rote Buch heraus. »Hier, da geht es um den römischen Kaiser Augustus. Ich bin sicher, das würde dir gefallen.« Es war jenes Buch gewesen, das er mir zu lesen gegeben hatte, um mich für Geschichte zu interessieren. Vorher hatte ich dergleichen auch lahm gefunden.

  »Glaubst du wirklich?«, fragte Knox und sah mich zweifelnd an. Es waren dieselben Augen, die mir früher Magenflirren verursacht hatten. Doch nun zeigten sie den Blick eines Kindes.

  »Ganz sicher«, sagte ich tapfer und gab ihm das Buch.

  »Da sind nur Wörter drin«, maulte Knox, als er es vor sich auf den Boden legte und aufschlug.

  »Nein, da sind auch Bilder, siehst du.« Ich blätterte zu einem Kapitel über das Prinzipat. Eine blasse einfarbige Fotografie zeigte den Kaiser als Statue.

  »Mhm. Ich weiß nicht.«

  »Du solltest es lesen. Dann wirst du deine Meinung sicher ändern.« Ich war nicht sicher, warum ich ihn so drängte – vielleicht wollte ich, dass er sich genauso entwickelte wie vorher. Dabei wusste mein Verstand, dass Knox für mich verloren war. Wenn er in das Alter kam, in dem er sich wieder in mich verlieben könnte, würde ich in seinen Augen uralt sein. Ich hätte gewartet, das hätte ich wirklich, aber es war zwecklos. Ich würde nie wieder etwas anderes als eine Art ältere Schwester für ihn sein. Für den Rest unserer beider Leben.

  Knox zeigte mir seine anderen Bilder, dann spielten wir FlipFlap – ein Kartenspiel, das bei den Kids zurzeit sehr beliebt war. Nach zwei Runden sagte mir ein Blick auf die Uhr, dass ich mich verabschieden sollte.

  »Ich muss nach Hause«. Es tat immer weh, wenn ich hier war. Aber es schmerzte am meisten, wenn ich wieder ging. Wie automatisch hob ich die Hand, um ihm über den Rücken zu streichen. Im letzten Moment zog ich sie zurück.

  »Schon? Das ist aber doof.« Knox schob den Kartenstapel zusammen. »Wann kommst du denn wieder?« Ein fragender Blick traf mich.

  »Das weiß ich noch nicht. Vielleicht wird es eine Weile dauern.«

  »Musst du verreisen?«

  »Ja, so etwas in der Art.« Ich griff nach meiner Tasche und hob den Gurt auf. Dabei rutschte mein Ärmel nach oben.

  »Was ist das?« Knox nahm mein Handgelenk und strich über mein Tattoo, eine liegende Acht direkt am Übergang zum Handballen. Ich sog die Luft ein.

  »Gar nichts.« Hastig entzog ich ihm den Arm. Die Stelle prickelte.

  »Ich kenne das Zeichen«, sagte Knox leise. »Es bedeutet Unendlichkeit.« Er schob beide seiner Ärmel hoch. An einem Handgelenk trug er ein breites Armband aus Leder, das ihn als Clearthrough auswies. Am anderen war nichts zu sehen. »Es war hier«, murmelte er. Angst stieg in mir hoch. Clearthroughs hatten manchmal Streiflichter von Erinnerungen, das kam vor. Aber in meiner Gegenwart war es noch nie passiert.

  »Du irrst dich«, sagte ich.

  »Nein, ich bin sicher. Es war da.«

  »Deine Mutter würde dir niemals ein Tattoo erlauben.« Knox hatte tatsächlich die gleiche Tätowierung gehabt wie ich, aber beim Clearing hatte man sie entfernt. »Ich muss jetzt wirklich gehen.« Ich wollte an ihm vorbei zur Tür. Knox stellte sich mir in den Weg.

  »Du lügst.«

  »Ich würde dich nie anlügen, Nicholas. Das weißt du.«

  »Ich glaube dir nicht.«

  »Lass mich vorbei, Knox«, sagte ich mit fester Stimme.

  »Knox? Wer ist das?« Irritation zeigte sich auf seinem Gesicht. Er trat noch einen Schritt näher auf mich zu.

  Mein Fehler schnürte mir die Luft ab. Es war unter Strafe verboten, mit einem Clearthrough über die Vergangenheit zu sprechen. Wenn ich dagegen verstieß, wurde er noch einmal der Prozedur unterzogen – und ich gleich mit.

  »Wer ist Knox?«, wiederholte er. Die Falte auf seiner Stirn war steil und tief.

  »Knox ist …« Mir kam eine wahnwitzige Idee. Ich könnte es tun. Ich könnte ihm die Wahrheit sagen, ein paar Sachen packen und mit ihm verschwinden. Unterwegs würde ich ihm alles über sich und uns erzählen, sodass er wieder der Alte werden würde. Wir wären für alle Zeiten auf der Flucht, aber immerhin zusammen.

  Mehrere Momente stand die Chance dazu im Raum, strahlend schön und verheißungsvoll. Dann sah ich Knox in die Augen und sie zerfiel zu Asche. Er war nicht mehr da. Vor mir stand ein Junge, der darauf drängte, ein Geheimnis zu erfahren. Er war nicht mein Knox, der sich an mich erinnerte. Ich trat einen Schritt zurück.

  »Knox ist niemand.«

  Es gab Notfallsets, die bei einem Clearthrough das Kurzzeitgedächtnis löschten, falls jemand eine Erinnerung triggerte. Ich sah mich um und entdeckte eins oben auf dem Regal. Schnell griff ich danach und nahm einen SubDerm-Injektor mit dem ClearSerum heraus.

  »Was machst du da?«, fragte Knox.

  »Ich bringe dich in Ordnung.« Der Kloß in meinem Hals dehnte sich aus. Mit zitternden Händen hob ich den Injektor an Knox’ Hals.

  »Ophelia …« Er sah mich ängstlich an, schob meine Hand aber nicht weg.

  »Ich liebe dich«, sagte ich leise und strich ihm über die Wange. »Daran wird sich nie etwas ändern.«

  Ein Druck auf den Knopf und der Injektor gab einen Stoß in Knox’ Hals ab. Ich sah, wie sein Blick verwaschen wurde. Aber ich wartete nicht darauf, dass er sich wieder scharf stellte.

  Schnell griff ich meine Tasche, lief die Treppe hinunter, knallte mit dem Knie gegen das Geländer und verschwand, ohne mich von Eva zu verabschieden. Dann rannte ich zum Ende der Straße und weiter, immer weiter. Erst als ich weit genug gerannt war, um von niemandem gehört zu werden, sank ich auf die Knie und schrie mir meinen Schmerz von der Seele.

  10

  Als wir am Abend in London ankamen, war ich heiser, aber wieder in der Spur. Irgendwie hatte ich die Kraft gefunden aufzustehen, eine TransUnit zurück nach Brighton zu nehmen, mich von meiner Familie zu verabschieden und in den TransRail nach London zu steigen. Ich hatte Jye nicht viel von Horsham erzählt, aber er wusste trotzdem Bescheid. Nur wenige seiner alten Freunde besuchten Knox, denn die meisten hatten Angst vor der Begegnung. Jye allerdings fuhr regelmäßig zu den Odells, spielte mit Knox und reparierte das eine oder andere am Haus. Zurück kam er immer ähnlich zerstört wie ich. Dann legten wir eine extra Einheit an den Boxsäcken ein, lästerten über Phobes und aßen etwas Fettiges aus der Packung. Es war unsere Form von Trauerbewältigung.

  Von der TransRail-Station nahmen wir eine TransUnit in den Norden von London, das bis zur Abkehr fest in der Hand von HorizonTechnologies gewesen war. Der Name hatte sich für die Stadt nie durchgesetzt, aber für das dortige Stadion schon: Der HorizonDome war ein Austragungsort für Virtual-Soccer-Spiele gewesen. Nach der Abkehr hatte er eine Weile leer gestanden, seit einem Jahr wurde er für reale Sportveranstaltungen genutzt. In den nächsten zwei Tagen würden hier die Auswahltests für die königliche Garde stattfinden.

  »Warst du schon einmal dort?«, fragte ich Jye, der neben mir saß und aus dem Fenster sah.

  »Im Dome? Ja, als Kind zu einem Spiel. Wir haben auf der Haupttribüne gesessen. Die Atmosphäre war unglaublich.« Dabei waren die Mannschaften gar nicht vor Ort gewesen, sondern hatten in einem speziellen Studio gespielt. Das Match war dann in alle Stadien Europas übertragen worden. »Du hast nie eines gesehen, oder?«

  »Nein, meine Eltern haben sich für so etwas nicht interessiert.« Ich hatte aber
auch nicht darum gebettelt. »Als ich das letzte Mal in London war, habe ich den Dome nur aus der Ferne gesehen. Man sagt, er sei ganz schön heruntergekommen, nachdem eine Horde Idles dort gehaust hat.«

  »Offensichtlich ist der Laden noch gut genug in Schuss, um uns dort ein Wochenende lang durch die Mangel zu drehen.« Jye grinste.

  »Wahrscheinlich ist das der Test«, sagte ich. »Zwei Tage in dem maroden Ding zu verbringen, ohne von Gebäudeteilen erschlagen zu werden.«

  Wir lachten. Dabei fuhren wir um die nächste Ecke und hielten auf den Dome zu.

  Das Stadion sah nicht so schlimm aus wie erwartet. Gut, die sechzig Meter hohe Stahlkonstruktion hätte einen neuen Anstrich vertragen können, und der Beton war mehr schwarz als grau. Trotzdem wirkte alles stabil und keineswegs abbruchreif.

  Mehrere TransUnits hielten vor dem Eingang und spuckten junge Menschen mit Rucksäcken und Taschen aus. Unser Gefährt reihte sich in die Schlange ein. So hatte ich Gelegenheit, die anderen zu mustern.

  Manche von ihnen waren so jung wie ich, andere eindeutig älter. Es waren sehr zierliche Mädchen dabei, aber auch viele athletische Exemplare. Die Jungs dagegen waren beinahe alle groß und kräftig, nur ein oder zwei schlaksige Typen mischten sich darunter. Ich fragte mich plötzlich, ob es eine dumme Idee gewesen war, herzukommen. Waren Jye und ich wirklich so gut, dass wir mithalten und die Verantwortlichen täuschen konnten? Und was passierte, wenn nicht?

  Wir kamen an die Reihe und stiegen aus. Jye wollte mir mein Gepäck abnehmen, aber ich winkte ab. Vielleicht war es paranoid, aber ich war sicher, dass man uns von der ersten Sekunde an beobachtete. Es machte sicher keinen guten Eindruck, wenn man sich seine Tasche tragen ließ.

  Dabei hätte ich Jyes Angebot liebend gern angenommen. Ich war erschöpft von der Auseinandersetzung mit Eneas und der Begegnung mit Knox. Mein Knie tat an der Stelle weh, wo ich es mir im Haus der Odells gestoßen hatte, meine Bauchmuskeln schmerzten vom Schreien. Gut, dass es erst morgen losging.

 

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