by Kiefer, Lena
»Wie kommst du darauf?«
»Dein Auge hat in den letzten zehn Sekunden viermal außerhalb des normalen Turnus gezuckt, deine Unterlippe zittert leicht, genau wie deine Handmuskeln. Dein Herzschlag hat einen Moment ausgesetzt und ist nun um 1,4 Prozent erhöht.«
»Okay, ja.« Ich hätte lügen können, aber das musste ich nicht. »Ich bin angespannt. Wundert dich das? Das hier ist eine Prüfung, die über meine Zukunft entscheidet.«
»Das ist allerdings wahr.« Wieder verschwand der Avatar für einen Wimpernschlag. »Reden wir über deine Eltern«, sagte er, als er wieder auftauchte. »Deine Mutter ist Cécile Victoire, Kennung CV-14567-0302. Sie ist nicht mehr bei euch?«
»Sie lebt in der Nähe von Paris. Meine Eltern sind getrennt.«
»Das muss schwierig sein.«
»Ist es nicht. Meine Mutter und ich standen uns nie sehr nahe.«
»Aber dein Vater und du, ihr steht euch nahe?«
»Ja.« Ich unterbrach den Blickkontakt nicht.
Der Avatar der OmnI verschwand erneut. Diesmal dauerte es einen Moment, bis er wieder erschien.
»Hallo, Schatz.«
Vor mir stand mein Vater. Also, natürlich war es nicht mein Vater. Aber es waren sein Gesicht und seine Stimme. Er trug sogar diese hässliche Strickjacke, die er von Lexie bekommen hatte. Woher wissen die so was?
Bitte reagiere auf alle Situationen so authentisch wie möglich.
»Hi, Dad.«
»Was machst du hier?«, fragte er mich.
Ich schaltete schnell. Die andere Ophelia war nicht sauer auf ihren Vater, weil er sich mit der Abkehr abgefunden hatte. Sie fand die Pläne des Königs richtig und wollte ihn dabei unterstützen. Mir wurde bei dem Gedanken übel. Aber mein Gehirn schaffte es, sich selbst zu überlisten.
»Ich möchte mich der königlichen Garde anschließen«, sagte ich.
»Früher wolltest du aber doch Ingenieurin werden.«
»Das war früher. Aber heute geht das nicht mehr, also orientiere ich mich neu.« Ich klammerte mich an die andere Kennung wie an ein Mantra. OS-14873-1104. OS-14873-1104.
»Wie schade.« Mein Vater sah mich betrübt an. »Ich hatte so gehofft, du würdest in meine Fußstapfen treten.«
Ich wusste, was sie versuchten. Sie wollten prüfen, ob ich schwankte, wenn es um meine Schwachstellen ging. OS-14873-1204 tat das. OS-14873-1104 nicht.
»Ja, das hatte ich auch gehofft.« Ich lächelte traurig. »Aber wir müssen alle andere Wege finden, nicht wahr? Es ist besser so.« Vielleicht war das etwas zu dick aufgetragen.
»Inwiefern?«, kam da auch schon die Quittung.
»Die Menschen hatten aufgehört, miteinander zu reden, und wurden aggressiv.« Mein Kopf begann zu schmerzen, weil ich ständig Tatsachen verwerfen und ersetzen musste. »Das hätte eines Tages im Desaster geendet.«
»Vielleicht, ja.« Die OmnI mit dem Gesicht meines Vaters legte den Kopf schief. »Vielleicht auch nicht.« Der Avatar flackerte erneut. »Aber musst du denn weggehen? Du könntest auch in Brighton bleiben. Etwas studieren, einen netten Kerl kennenlernen, eine Familie gründen.«
»Nein, das …« Ich brach ab. Sag nichts über Knox. »Ich muss einfach mal raus, Dad. Etwas von der Welt sehen.«
»Interessant.« Mein Vater sah mich fasziniert an, aber es war nicht mehr sein Blick. »Ich hätte gedacht, dass es funktioniert. Versuchen wir etwas anderes.« Er verschwand. Kurz darauf war er in neuer Form zurück.
»Jye?« Warum er?
»Hallo, Phee.« Er setzte sich auf den Schreibtisch und ließ die langen Beine baumeln.
»Was machst du hier?«
»Die haben mich erwischt.«
Mir wurde kalt.
»Erwischt? Was meinst du damit?« Ich hatte ihn weggeschickt und gesagt, er solle aufgeben! Wie zur Hölle konnten sie ihn erwischt haben?
OS-14873-1104 wackelte, wackelte sogar bedenklich. Zu spät ging mir auf, dass die OmnI genau das beabsichtigt hatte.
»Ich war hier, so wie du jetzt. Man hat mir Fragen gestellt und ich habe sie wohl nicht richtig beantwortet.« Jye schaute auf seine Hand, als würde er sie zum ersten Mal sehen.
»Was soll das heißen? Was hast du falsch beantwortet?« Meine Finger krampften sich in die Armlehnen des Sessels. OS-14873-1104. OS-14873-1104.
Jye lächelte verlegen. »Na ja, da war meine Mum, du weißt schon, meine KI-Mum. Dann kam der König dazu. Er hat mich provoziert, also habe ich gesagt, dass er schuld an ihrem Tod sei. Und dass ich ihn dafür umbringen werde.« Er sagte es, als wollte er ein paar Kekse von der Nachbarin klauen.
»Nein …«, murmelte ich fassungslos, »das ist nicht wahr.« Tränen sammelten sich in meinen Augen. Das hier war das übelste Psychospiel aller Zeiten, vielleicht war es tatsächlich gelogen. Aber vielleicht auch nicht. Ich sah Jye vor mir, wie er ausflippte. Wie er dem König ins Gesicht schrie, was er vorhatte.
»Er verdient es, Phee.« Jye stand auf und kam näher, beugte sich zu mir. »Tu nicht so schockiert. Du wusstest es die ganze Zeit. Woran ich glaube. Was ich vorhabe.«
Jetzt galt es. Die Mauer musste halten. Ich sah hoch.
»Nein, ich wusste es nicht.«
»Das ist eine Lüge«, sagte er.
»Es ist die Wahrheit«, hielt ich dagegen. »Wenn es anders wäre, hätte ich dich davon abgehalten, dein Leben wegzuwerfen.« Ich schluckte und sah weg. Der Kloß in meinem Hals pulsierte.
Die OmnI wechselte in die Gestalt des Weißkittels zurück. Ich war erleichtert. Mein Kopf tat höllisch weh, aber ich musste Jye nicht mehr ins Gesicht sehen. Die Mauer hatte gehalten.
»Brauchst du eine Pause?«, erkundigte sich die OmnI mitfühlend.
»Nein.« Ich musste es hinter mich bringen. Wie lange war ich schon hier, zehn Minuten, eine Stunde? »Wir können weitermachen.«
»Gut.«
Ich schloss die Augen, um mich zu wappnen. Ich wusste, was jetzt kam.
»Hey, Phee.« Ich hatte die Stimme vor zwei Tagen zuletzt gehört, aber nicht so. Sie war weich wie eine Brise, liebevoll und vertraut. Und nicht echt, redete ich mir ein. Er war nicht echt. »Hey, willst du mich nicht ansehen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Vermisst du mich denn gar nicht?«
Damit hatte er mich. Ich öffnete die Augen. Knox lehnte in einem schwarzen Shirt und Jeans am Schreibtisch, hatte die Arme verschränkt und den Mund zu einem schiefen Lächeln verzogen. Seine dunklen Augen sahen mich an, als gäbe es niemand anderen auf der Welt. Mein Herz wurde zu einem Klumpen aus Sehnsucht und Kummer. Die Mauer zerpulverte zu Staub.
»Doch.« Tränen verschleierten meinen Blick. Ich wischte sie nicht weg. »Jeden Tag, seit du weg bist.«
»Ich dich auch.« Tiefe Traurigkeit zeigte sich in Knox’ Gesicht. »Du hast keine Ahnung, wie sehr ich mir wünsche, es wäre anders gekommen.«
»Nein, tust du nicht.« Ich versuchte krampfhaft, mich zu verschließen. »Du kannst dich nicht an mich erinnern. Du kannst dich nicht einmal an dich selbst erinnern.« Ich holte mir die Bilder von meinem letzten Besuch ins Gedächtnis. Es gibt ihn nicht mehr. Es gibt ihn nicht mehr.
»An dich erinnere ich mich. Unsere erste Begegnung am Pier, als ich dich gefragt habe, warum du uns folgst. Du bist weggelaufen.« Knox lächelte, als würde er wirklich daran denken. »Ich war so froh, als du wieder aufgetaucht bist.«
Ich stand auf und ging in die andere Ecke des Raumes, weg von ihm, die Arme um mich geschlungen. Er sprach weiter.
»Es hat ewig gedauert, bis ich mich getraut habe, dich zu fragen, ob wir uns allein treffen. Dabei war ich längst in dich verliebt.«
Das konnten sie nicht wissen. Das war nur geraten. Ich krallte mich in meinen Pullover, sah weg und versuchte, die Kontrolle zu behalten. Wenn ich ihn ignorierte, würde man es vielleicht mit jemand anderem versuchen.
»Phee.« Ich hörte keine Schritte, aber ich wusste, dass er näher gekommen war. »Bedeutet dir das alles nichts mehr?«
Das Schluchzen in meiner Kehle brach heraus und ich presste die Hand auf den Mund. Stummes Weinen schüttelte mich. Ich vermisste Knox so sehr, dass mich sogar eine künstliche Version von i
hm in einen zitternden, heulenden Haufen Schmerz verwandelte. Wenn die Leute des Königs meine Grenzen testen wollten, hatten sie es geschafft.
Aber noch war ich nicht besiegt.
»Das ist Vergangenheit«, würgte ich hervor. »Es sind Erinnerungen, sonst nichts.« Die Tränen tropften auf meinen Pullover und bildeten unförmige Kreise. Knox stand direkt hinter mir. Ich spürte seine Präsenz, obwohl ich wusste, dass ich ihn nicht berühren konnte.
»Bitte, geh weg«, flehte ich.
»Aber ich liebe dich«, sagte er.
Seine Worte drangen in mich ein wie ein Messer, das man dann noch genüsslich umdreht. Jetzt hatte ich die Wahl. Ich konnte zusammenbrechen und wäre wehrlos gegenüber jeder Frage nach ReVerse. Oder ich verriet meine große Liebe, um das zu retten, wofür der echte Knox sich geopfert hatte.
Ich straffte die Schultern und drehte mich um.
»Das ist nicht wahr!«, schrie ich ihn erstickt an. »Du bist gegangen! Du hast mich verlassen! Wenn du mich wirklich geliebt hättest, wäre ich dir wichtiger gewesen als dein sinnloser Kampf gegen den König!«
Knox wich erschrocken zurück.
»Wir wussten beide, worauf wir uns einlassen«, sagte er dann. »Du genauso wie ich.«
»Nein«, antwortete ich. Diese eine riesige Lüge noch. Vielleicht war es dann vorbei. »Ich habe dich geliebt, Knox.« Ich sah ihm in die Augen. »Aber das hätte ich nicht, wenn ich gewusst hätte, woran du glaubst.«
Knox starrte mich an, fassungslos, enttäuscht und verletzt. Dann löste er sich in Luft auf.
Ich wusste nicht, ob es vorbei war, also widerstand ich dem Drang, auf den Boden zu sinken. Stattdessen machte ich einige wacklige Schritte zum Sessel, setzte mich hin und verbarg mein Gesicht in den Händen. Andere Leute brauchten nach so einer Begegnung drei Jahre Therapie. Ich hatte nicht einmal eine Minute.
»Das war sehr interessant.«
Eine kultivierte, sonore Stimme mit einem weichen Einschlag, den ich nach der nächsten Ladung HeadLock nicht mehr hören würde. Ich sah auf. Aufmerksame graue Augen, kurze, dunkelblonde Haare mit der Andeutung von Wellen. Ein weißes Hemd, eine dunkle Hose. Er war größer, als ich gedacht hatte.
»Freut mich, wenn ich dich unterhalten konnte«, sagte ich erschöpft und wischte mir die Tränen weg. Mein Kopf war kurz vor dem Platzen.
»Normalerweise sagt man Sie oder Euch, aber da ich es nicht tatsächlich bin, will ich mal großzügig sein.« Der König wedelte generös mit der Hand. Dann schwieg er.
Ich hatte Wut erwartet, grenzenlose Wut, gerade nach Jye und Knox. Aber in mir befand sich nichts außer Leere, die langsam zu Klarheit wurde. Wenn ich Leopold töten wollte, durfte ich nicht ausflippen. Ich musste durchhalten und OS-14873-1104 bleiben, solange ich in diesem Raum war.
»Bist du nicht wütend?«, brach der König das Schweigen.
Die andere Ophelia übernahm. »Auf wen, dich? Nein.«
»Das ist merkwürdig. Ich bin dafür verantwortlich, dass dein Freund Nicholas nicht mehr da ist. Und auch dafür, dass dein Freund Jye ihm folgen wird. Trotzdem bist du nicht wütend?«
»Ich bin sehr wütend«, sagte ich kühl. »Aber auf die beiden, nicht auf dich.«
»Du willst sagen, dass du keine Ahnung hattest, woran sie geglaubt haben? Oder davon, dass sie Radicals waren?« Der König musterte mich mit höflichem Interesse. Ob der echte Leopold de Marais wohl auch so kontrolliert war?
»Ich hatte keine Ahnung«, beharrte ich.
»Du warst mit dem einen mehrere Jahre zusammen und mit dem anderen ebenso lange befreundet.«
»Offenbar haben sie es nicht für nötig gehalten, mich einzuweihen.«
»Tatsächlich? Beleidige nicht meine Intelligenz.«
Die grauen Augen waren voller Arroganz. Sicher hatte die OmnI genug Gelegenheit gehabt, sich diesen Ausdruck einzuprägen.
»Du weißt doch, wenn ich lüge. Sag du es mir.«
»Das ist allerdings richtig.« Er klang so, als würde ihm das erst jetzt auffallen. Still betrachtete er mich.
»Ich hatte keine Ahnung, dass sie für die Radicals arbeiten«, wiederholte ich. »Mich haben neulich erst einige von denen angegriffen und ich habe mit Jye zusammen gegen sie gekämpft. Wie hätte ich denn darauf kommen sollen, dass er einer von ihnen ist?«
Punkte tanzten vor meinen Augen und mir war schwindelig. Lange hielt ich nicht mehr durch.
»Also gut.« Der König stand auf und ging um den Schreibtisch herum. »Eine letzte Frage habe ich noch.« Er sah mich an, als wollte er sich keine meiner Regungen entgehen lassen. »Bist du bereit, mein Leben mit deinem eigenen zu verteidigen?«
Ich stand auf, ignorierte den Schwindel und kratzte die letzten Reste meiner Kraft zusammen.
»Es wäre mir eine Ehre«, log ich ihm, ohne zu zögern, mitten ins Gesicht.
Er nickte, wartete einen Moment und lächelte schließlich.
»Wir werden uns wiedersehen, Ophelia.«
Dann verschwand er.
Jemand kam in den Raum und führte mich hinaus. Man entfernte meine InterLinks, redete mit mir, gab mir etwas zu trinken, drückte einen SubDerm-Injektor an meinen Hals, was ich kaum registrierte. Ich wurde über den weiteren Ablauf informiert, aber ich hörte nichts außer einem lauter werdenden Brausen in meinen Ohren. Als man mich mit einer Eskorte entließ, hielt ich nur bis zur nächsten Toilette durch. Ich bat um einen Moment alleine, ging hinein und übergab mich, bis alles raus war, sowohl das Mittagessen als auch meine Selbstbeherrschung. Dann sank ich auf den Boden und lehnte den Kopf gegen die Wand.
Ich hatte mich noch nie im Leben beschissener gefühlt, einsamer oder schuldiger. Aber ich hatte gewonnen. Morgen würde ich in Maraisville sein, dem König so nahe wie nie. Und dann würde ich ihnen Ehre machen: ReVerse, Knox, Jye und mir selbst. Der König hatte mir alles genommen, jetzt war die Zeit gekommen, ihn dafür zu bestrafen. Ich erinnerte mich an einen Satz aus einer Nacherzählung griechischer Heldensagen, den Knox öfter zitiert hatte.
Troja wird brennen.
Dafür würde ich sorgen.
14
Ich bin müde. So verdammt müde.
Dabei hätte ich so viel fühlen müssen. Angst. Wut. Trauer. Aber als ich in die TransUnit stieg, die uns zur SuperRail-Station bringen würde, war ich eigenartig leer. Meine Erschöpfung schien alles wegzuspülen.
Die letzte Stunde war wie ein wirrer Film. Der Dome, mein Gepäck, grüne Jacken, dann ein dunkler Bahnsteig. Gebellte Befehle und jemand, der mich in die Transportkapsel eines SuperRails schob. Informationen und Bilder verschwammen ineinander. Erst seit das HeadLock wirkte, konnte ich wieder klar denken.
Wir rauschten lautlos mit über 1000 Stundenkilometern durch ein Netz aus Vakuumröhren, das alle großen Städte Europas miteinander verband. Die Route führte über Paris, dann immer weiter nach Südosten. Maraisville lag hinter den ehemals Schweizer Alpen, nicht mehr weit von Mailand entfernt. Es würde mitten in der Nacht sein, wenn wir dort ankamen.
SuperRail zu fahren fand ich nie toll, aber heute war es besonders unangenehm. Die starke Beschleunigung presste mich in meinen Sitz, der Gurt schnürte mir die Luft ab. Trotz HeadLock-Dosis schmerzte mein Kopf und jeder Muskel tat mir weh. Dazu kam der Lärm. Die Transportkapsel war eng, zehn Leute hatten darin Platz. Wir waren zwar nur zu sechst, und ich saß ganz hinten, aber dem Gelächter meiner Mitstreiter entkam ich trotzdem nicht. Troy, der es wie angekündigt geschafft hatte, feierte seinen Sieg am lautesten. Wie konnten sie nach einem solchen Tag noch rumalbern? Weil sie es nicht mehr wissen, gab ich mir selbst die Antwort. Sie hatten vergessen, dass sie der OmnI begegnet waren. Ich nicht. Bei meinem Gedächtnis hatte die Kurzzeitkorrektur nicht gewirkt.
Wahrscheinlich lag es daran, dass ich die Kapsel genommen hatte, anders konnte ich es mir nicht erklären. Das Serum für kurzfristige Korrekturen griff nur auf einfache Gedächtnisstrukturen zurück, anders als beim Clearing. Mein entfesseltes Gehirn hatte sich davon nicht beeindrucken lassen. Dabei wäre es mir lieber gewesen, das Serum hätte Wirkung gezeigt.
Die letzten Stunden liefen als Dauerschleife in meinem Kopf. Jye, der mir versprach, dass er
aussteigen würde. Knox, der mir sagte, dass er mich liebte. Das eine war real gewesen, aber nicht wahr, das andere wahr, aber nicht real. Und mit beiden – mit der Version von ihnen, die mir vertraut war – würde ich nie wieder sprechen.
Plötzlich wurde ich nach vorne gegen den Gurt gedrückt. Der SuperRail bremste ab.
»Wir müssen an einem Wartungspunkt anhalten«, vermeldete eine Stimme aus dem Lautsprecher. »Bitte bleiben Sie angeschnallt sitzen, bis wir weitere Informationen erhalten.«
Wartungspunkte, klar. Früher hatte es das nicht gegeben. Das Prinzip war einfach gewesen: bezahlen, einsteigen, ankommen, fertig. Heute durfte man den SuperRail nur nach vorheriger Anmeldung und einem kompletten Sicherheitscheck benutzen. Die Fahrten pro Person waren auf zwei im Monat begrenzt. Und gesteuert wurde manuell. Manuell!
Der SuperRail hielt nun endgültig an. Ich schätzte, dass wir etwa zwei Drittel der Strecke nach Paris zurückgelegt hatten. Ich kannte sie von Besuchen bei meiner Mutter.
»Was ist denn los?«
»Wieso halten wir an?«
»Ob etwas passiert ist?«
Ich verdrehte die Augen. Ihr Hühner werdet wirklich großartige Gardisten.
»Bitte verlassen Sie die Transportkapsel«, sagte die Stimme.
Der Gurt löste sich, und ich erhob mich, etwas wacklig auf den Beinen. Nach allen anderen ging ich hinaus. Ich wollte niemanden in meinem Rücken haben.
Warme, stickige Luft schlug uns entgegen, als wir durch die Schleuse gingen. Ein Lilienjackenträger, diesmal in Lila, empfing uns. Er war groß, übergewichtig und hatte einen hochroten Kopf. Wahrscheinlich wusste er, dass viel Ärger auf ihn wartete, wenn unser Transport nicht reibungslos verlief.
»Es gibt einen Fehler in der Magnetfeldsteuerung. Wir bringen Sie in einen Warteraum und sagen Ihnen Bescheid, sobald wir das Problem gelöst haben.«
»Wie lange wird es dauern?«, fragte einer der Jungs.
»Wir wissen es nicht genau. Bitte haben Sie Geduld.« Er ging voran durch einen weiß gestrichenen Gang und alle folgten wie eine Herde Schafe. Nach wenigen Minuten kamen wir ins Wartungszentrum.
Als das Transportsystem noch vollautomatisch funktioniert hatte, waren nur ein paar Wartungsroboter und eine künstliche Intelligenz im Rechenzentrum nötig gewesen. Jetzt erledigten diese Arbeit wieder Menschen. In einer großen Halle, Cafeteria und Aufenthaltsraum zugleich, tummelten sich etwa hundert Männer und Frauen in lilafarbenen Jacken und Overalls, holten sich etwas zu essen oder studierten Dienstpläne an der Wand. Die Essensausgabe bot reichlich Gemüse, synthetisches Fleisch und Nachtisch. Mein Magen knurrte.