Book Read Free

[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen

Page 23

by Kiefer, Lena


  »Es ist unglaublich.« Ich drehte mich zu Lucien um. Sein Blick war zufrieden, wie der einer Katze, die den Vogel gefangen hatte. »Oh, jetzt verstehe ich«, sagte ich belustigt.

  »Keine Ahnung, was du meinst.« Seine Zufriedenheit wich Unschuld.

  »Na, das ist deine Masche. Du bringst die Mädchen hierher, zeigst ihnen die Aussicht, und schon schmachten sie ›Luc, das ist so wundervoll‹ und tun alles, was du willst.«

  Er grinste. »Und, funktioniert es?«

  »Nein«, gab ich zurück und dachte daran, dass Knox mich vor Jahren das Gleiche gefragt hatte. »Die Aussicht ist toll, das muss ich zugeben. Aber so leicht bin ich nicht zu haben.«

  Statt beleidigt zu sein, wurde Luciens Grinsen nur breiter. »Du hast ja auch das Essen noch nicht probiert. Ich hoffe, du magst Burger.« Er setzte sich auf die Polster.

  »Burger?« Auf dem verwitterten Holztischchen standen zwei Teller mit runden, belegten Brötchen. Salat und Tomaten guckten an der Seite heraus. »Was soll das sein?«

  Lucien sah mich schockiert an. »Du kennst keine Burger? Nicht zu fassen. Wie kann dein Leben einen Sinn haben?«

  »Burger geben deinem Leben einen Sinn?«

  »Burger geben jedem Leben einen Sinn.«

  Ich setzte mich neben ihn und beäugte das Brötchen misstrauisch. »Woraus besteht es?«

  »Fleisch, Salat, Tomate, Zwiebeln und Gurken, dazu rote Soße. Früher hat man das Ketchup genannt.«

  »Ist es echtes Fleisch?«

  »Nein, synthetisches. Manchmal macht der Koch auch etwas Echtes, aber ich dachte, das magst du vielleicht nicht.«

  »Ich esse es, wenn ich muss. Aber synthetisch ist mir lieber.« Ich nahm den Burger in beide Hände. Er war viel schwerer als ein normales Brötchen.

  »Na los, beiß rein.«

  Ich tat, was er sagte.

  Es war genial. Der Geschmack von gegrilltem Fleisch breitete sich in meinem Mund aus und mischte sich mit den Zwiebeln und der Tomate. Etwas Süßes war auch darunter, wahrscheinlich dieser Ketchup. Ich kaute und schluckte, dann nahm ich noch einen Bissen. »Wow. Das ist der Hammer.« Es war definitiv das Beste, was ich je gegessen hatte.

  »Sag ich doch.« Lucien biss von seinem Burger ab, und eine Weile aßen wir schweigend, nur unterbrochen von meinen Beteuerungen, dass ich nie wieder etwas anderes essen würde. Als wir fertig waren, fühlte ich mich angenehm satt. Synthetisches Hühnchen schaffte das nicht.

  »Ich habe gehört, du hast uns heute alle Ehre gemacht«, sagte Lucien und lehnte sich zurück. »Als menschliche Phobe-Abwehr draußen am Zaun.«

  Mein entspanntes Gefühl verabschiedete sich. Wieso wusste er darüber Bescheid? Und wieso sagte er …

  »Uns?«, fragte ich.

  »Als ob du das nicht längst wüsstest.«

  Tatsächlich hatte ich nach seiner Hilfe im Medical Department daran gedacht, dass er ein Schakal sein könnte. Aber wieso sollte jemand wie er sich so in Gefahr bringen? Und wieso wusste niemand etwas davon? Alles an den Schakalen war geheim, aber wenn man drin war, wusste man, wer dazugehörte. Über Lucien gab es jedoch nicht einmal ein Flüstern.

  »Du darfst mir das nicht sagen, oder?«, fragte ich.

  »Nein. Aber entweder bist du bald eine von uns oder … na ja …« Er sprach nicht aus, dass ich im anderen Fall keine Erinnerung daran zurückbehalten würde. »Ich gehe davon aus, dass du es niemandem verrätst.«

  Für Ferro wäre diese Information Gold wert gewesen. Aber ich würde es ihm nie im Leben verraten. Für das Ende der Abkehr zu sorgen war eine Sache. Jemanden ans Messer zu liefern, der nichts damit zu tun hatte, war eine andere.

  Er ist der Bruder des Königs. Glaubst du wirklich, er hat damit nichts zu tun?

  »Wissen es die anderen Schakale?« Ich rutschte nach hinten und lehnte mich neben Lucien an die Polster.

  »Nur der engste Kreis.«

  »Aber … warum?« Ich sah ihn an. »Du hast es doch nicht nötig, den Handlanger zu spielen und dein Leben zu riskieren. Machst du das für den Kick?« Schließlich war er früher auch von Hochhäusern gesprungen.

  »Den Kick? Nein.« Es klang bitter. »Ich mache es, weil Leopold Leute braucht, denen er vertrauen kann.«

  Kurz schwieg ich. »Was noch?«, fragte ich dann.

  »Ich sagte ja, du bist scharfsinnig.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Mein Bruder hat eine Menge für mich getan, nachdem meine Eltern gestorben waren. Ich hatte eine schwierige Phase und er hat mir da rausgeholfen. Das ist meine Art, Danke zu sagen.« Es klang, als müsse er eine Schuld begleichen, nicht nach der Sorte Unterstützung, die man unter Geschwistern erwartete.

  »Du machst es nicht gerne, oder?«, fragte ich leise.

  »Nein«, sagte Lucien und sah auf seine Hände. »Es gibt Agenten, die haben keine Probleme, in andere Rollen zu schlüpfen. Caspar Dufort tut das täglich zwanzigmal und genießt es sogar. Ich dagegen hasse es, nicht ich selbst zu sein.« Er atmete hörbar aus. »Aber ich bin gut darin. Also mache ich es.«

  Es tat mir weh, wie er das sagte. »Dann war das nicht nur ein Spruch. Du weißt schon, das mit der Freiheit, die sich nicht jeder leisten kann.«

  »Nein, war es nicht.« Lucien hob die Schultern, und ich sah erneut die Traurigkeit, die im Castello aufgeblitzt war.

  »Weiß dein Bruder davon?«

  »Das spielt keine Rolle. In unserer Familie muss jeder seinen Part erfüllen. Dies ist meiner.«

  »Auch, wenn du dabei sterben könntest?« Ich sah ihn an.

  »Sogar, wenn ich dabei draufgehe. Aber wenn ich Glück habe, passiert das nicht. Und wenn doch, weiß ich unsere Sache in guten Händen.« Er lächelte.

  »Hör auf, so etwas zu sagen.«

  »Was, dass du eine gute Agentin bist?«

  »Nein, dass du sterben könntest.«

  »Es ist die Wahrheit. Man sollte immer die Wahrheit sagen.«

  Wir schwiegen und der Himmel über uns wurde langsam dunkler. Ich dachte nach. Lucien und ich waren uns ähnlicher als vermutet: Wir suchten beide nach einer Freiheit, die schwer zu erreichen war. Und uns beiden stand die gleiche Person im Weg. Nur würde ich nicht trauern, wenn der König starb.

  »Es muss furchtbar sein, etwas aus Liebe zu tun, das man hasst«, sagte ich leise.

  »Das stimmt«, antwortete er. »Aber noch schlimmer ist es, gar nichts aus Liebe zu tun.« Unsere Blicke verschränkten sich miteinander. Ich spürte seinen Atem auf meinem Gesicht. In meinem Magen kribbelte es.

  »Denkst du nie darüber nach, abzuhauen?«, fragte ich flüsternd.

  »Im Moment nicht«, antwortete er. Dann beugte er sich vor und küsste mich.

  Am Anfang war der Kuss zaghaft, aber dann wurde er schnell fordernder, als wären wir ein längst eingespieltes Team. Luciens Hände fanden den Weg auf meinen Rücken, zogen mich zu ihm und strichen meine Wirbelsäule hinab. Ich ließ meine Finger durch seine Haare gleiten und verschränkte die Arme hinter seinem Nacken. In diesem Augenblick spürte ich, wie sehr ich mich nach Berührung und Nähe gesehnt hatte – Nähe zu jemandem, der mich verstand. Vielleicht würden unsere Geheimnisse uns irgendwann wieder trennen, aber es kümmerte mich nicht. Ich brauchte das, ich brauchte ihn. Alles andere war mir völlig egal.

  Als der Kuss endete, atmeten wir beide schneller. Ich blieb an Luciens Körper geschmiegt, den Kopf an seiner Schulter.

  »Sieht so aus, als hätte deine Masche doch noch gezogen«, sagte ich und sah hoch. Sein Zopf war in den letzten Minuten aufgegangen und die Locken fielen fast bis auf die Schultern. »Ist das dein Plan B, wenn die Aussicht nicht reicht? Tiefsinnige Gespräche?«

  Lucien spielte mit einer meiner Haarsträhnen. »Es ist die Variante für die hartnäckigen Kandidatinnen. Wenn das nicht funktioniert, bleibt nur noch Plan C.«

  »Was ist Plan C?«

  »Ich ziehe mich aus.«

  Ich prustete los. »Hat das jemals funktioniert?«

  »Nein, nie. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf.«

  Ich lachte wieder und ließ mich von Lucien in seine Arme ziehen. Zufrieden vergrub ich mein Gesicht an seiner Schulter, die Spitzen seiner Haare kitzelten meine Wan
ge. In diesem Moment fühlte ich mich unbeschwert und glücklich. All meine Sorgen waren in der Sekunde vom Turm gestürzt, als Lucien mich geküsst hatte.

  Hoffentlich kamen sie nicht so bald zurück.

  25

  Auf dem Turm wurde es rasch kalt, also tauschten wir ihn gegen Luciens Räume ein. Gedämpftes Licht begrüßte uns, als wir das Wohnzimmer betraten. Es war gigantisch. Vier Meter hohe Decken, riesige Fensterfronten, dazu grau-schwarzer Granitboden und ein hellgraues Sofa, auf dem alle Anwärter nebeneinander Platz gehabt hätten. Passende Vorhänge und Kissen gab es auch, ebenso wie farblich abgestimmte Teppiche. Alles fügte sich ineinander, alles war geschmackvoll und elegant. Aber es wirkte unbewohnt.

  »Du bist nicht sehr oft hier, oder?«, fragte ich.

  »Nicht oft genug, um etwas zu ändern«, sagte Lucien. »Wirkt etwas steril, oder?«

  »Ja, ein bisschen.«

  »Du musst nicht diplomatisch sein.« Er grinste.

  »Okay, es ist ziemlich steril. Wie ein Hotelzimmer. Hast du gar nichts Persönliches hier?« Ich drehte mich einmal um meine Achse.

  Lucien zeigte auf eine verschlossene Tür. »Doch, im Schlafzimmer. Aber wenn ich dir das jetzt schon zeige, komme ich bestimmt zu forsch rüber.«

  »Zu forsch? Du? Niemals.« Ich grinste.

  Er kam zu mir und küsste mich auf diese wunderbare Art, die sofort jeden Gedanken wegwischte. Mir wurde warm, dann heiß. Als er den Kuss unterbrach, war ich ein bisschen enttäuscht.

  »Um dir zu beweisen, dass ich ein Mann von Ehre und Anstand bin, werde ich dir etwas zu trinken anbieten, bevor ich dir mein Schlafzimmer zeige.« Er nickte ernst.

  »Du glaubst, das bringt mich dazu, dich für einen Mann von Ehre und Anstand zu halten?« Ich ließ ihn nur ungern los.

  »Auf jeden Fall.« Er nickte wieder. »Kennst du Bubble Fazz?«

  »Wer kennt das nicht?« Bubble Fazz war das Getränk vor der Abkehr gewesen, zumindest für Jugendliche. Kein Mensch wusste, was drin gewesen war, aber es hatte nach Sommer und Sorglosigkeit geschmeckt. »Das wird doch gar nicht mehr hergestellt.«

  »Stimmt.« Luciens Augen funkelten. »Aber es ist Ewigkeiten haltbar.«

  »Sag nicht, du hast welches hier.«

  »Ich habe welches hier.«

  Ich legte eine Hand an mein Herz und sank auf das monströse Sofa. »Lucien, ich liebe dich.«

  »Und da sage jemand, ich wäre zu forsch.« Er lachte und ging zu einem Schrank, der fast mit der Wand verschmolz. Wieder fiel mir auf, dass es kaum Technologie gab. Ich hatte erwartet, das Juwel würde mit KIs und automatischen Systemen vollgestopft sein.

  Lucien kam mit zwei kleinen Flaschen zurück. Der Inhalt war rötlich und einen Hauch dickflüssiger als Wasser, das Etikett zeigte eine weiße Fläche. Früher hatten die EyeLinks den Käufern dort Werbung eingespielt.

  Der Drehverschluss klemmte, aber das Bubble Fazz roch wie immer, als ich ihn aufbekam. Ich schnupperte ausgiebig, dann nahm ich einen Schluck.

  »Ich hatte fast vergessen, wie gut das ist.« Es war nicht zu süß, aber auch nicht zu herb, die ideale Mischung aus fruchtig und künstlich. »Wo hast du es her?«

  Lucien setzte sich zu mir. »Leopold weiß, dass ich dieses Zeug liebe, also hat er welches aufgetrieben. Als ich letzten Winter von einem Auftrag zurückkam, standen zehn Kisten davon mitten im Zimmer.«

  »Das ist nett von ihm.« Unfassbar, dass ich so etwas über den König sagte. Ich hielt ihn immer noch für einen grenzenlosen Egomanen – allein, dass er seinen eigenen Bruder auf lebensgefährliche Missionen schickte, sprach Bände. Aber er schien Lucien trotzdem zu lieben.

  »Ich finde, es ist das Mindeste. Schließlich sorge ich mit dafür, dass der Laden hier noch steht.« Lucien machte eine kreisende Handbewegung. Meine Stimmung sank ein wenig. Er strich mir über den Arm. »Hey, kein Grund, schlechte Laune zu bekommen. Ich will nicht, dass du Mitleid mit mir hast. Das macht mich unsexy.«

  Mir wurde zum ersten Mal bewusst, dass er ein Schakal war – dazu ausgebildet, Menschen zu durchschauen. Aber es störte mich nicht. Die Ophelia, die hier saß, hatte nichts vor ihm zu verbergen. Ich hatte nichts zu verbergen. »Du willst, dass ich dich sexy finde?« Ich grinste.

  »Unbedingt«, nickte er. »Wozu hätte ich den Aufwand mit der Aussicht und dem Essen betrieben, wenn dann alles wegen ein bisschen Mitleid den Bach runtergeht?«

  »Stimmt, du wolltest mir ja noch deine Gemächer zeigen.« Ich sagte es nur halb im Scherz. Schon den ganzen Abend spürte ich, dass ich mich wahnsinnig von ihm angezogen fühlte – und ignorierte, dass es aus so vielen Gründen eine schlechte Idee war. »Wo wir gerade davon sprechen«, murmelte ich und küsste ihn wieder.

  Wir waren ungeduldiger als oben auf dem Turm. Ich schob sein Shirt hoch, spürte die Härte seiner Muskeln und die Wärme seiner Haut. Er zog mir die Jacke aus und küsste meinen Hals. Das Kribbeln in meinem Magen breitete sich überall dorthin aus, wo er mich berührte, und schnell zerfiel jeder zusammenhängende Gedanke zu Staub.

  Wir waren gerade auf dem Weg hinunter in die Polster, als ein Geräusch durch den Raum hallte. Es war ein Klopfen, energisch und laut.

  »Luc, bist du da?«, hörte man es durch die Tür rufen. Wir hielten inne und sahen uns an. Ich hatte die resolute weibliche Stimme noch nie gehört, aber da es später Abend war und sie Lucien bei seinem Spitznamen nannte, gehörte sie wahrscheinlich zu –

  »Amelie«, sagte er, bevor ich zu Ende denken konnte.

  »Ich verschwinde«, entschied ich sofort. »Gibt es irgendeinen Ausg–«

  »Nein, bleib. Bitte.« Er sah mich auf eine Weise an, bei der niemand hätte Nein sagen können, schon gar nicht ich.

  »Aber ich kann doch nicht hier sitzen und deiner Schwester ›Hi‹ sagen.« Ich hatte sowieso keine Ahnung, wie viel Ärger ich mir gerade einhandelte. War es Anwärtern verboten, mit Nummer drei der Thronfolge rumzumachen? Wahrscheinlich schon.

  Es klopfte erneut, wieder ein Rufen.

  »Geh einfach ins Schlafzimmer. Ich wimmle sie ab.«

  »Okay.« Ich stand auf, schnappte mir meine Jacke und verschwand hinter der Tür zum Nebenraum. Erst wollte ich sie schließen, aber dann war ich neugierig und ließ sie einen Spalt auf.

  Lucien verstaute schnell eine der beiden Flaschen hinter einem Sofakissen, zog sein Shirt über und band sich die Haare wieder zusammen. Dann verschwand er aus meinem Blickfeld und ich hörte gedämpfte Stimmen. Als er zurückkam, war seine Schwester bei ihm.

  Amelie de Marais hatte nur wenig Ähnlichkeit mit ihren Brüdern. Sie war zwar eine hochgewachsene und schlanke Frau, aber mit einem scharfkantigen Gesicht und braunen Augen. Ihre Haare waren glatt und dunkel, viel dunkler als die goldbraunen Locken von Lucien. Amelie hatte sie zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden, der zu ihrer strengen Kleidung passte – einer schmalen Hose und einer schwarzen Bluse, die bis oben zugeknöpft war. Sie wirkte nicht wie jemand, der sich oft amüsierte. Kein Wunder, dass sie sich mit Ferro verstand.

  »Ames, muss das jetzt sein?« Lucien ließ sich wieder auf das Sofa fallen. »Es ist verdammt spät und ich bin erst heute Nachmittag aus Südamerika zurückgekommen.«

  Er war im Ausland gewesen? Davon hatte er gar nichts gesagt.

  »Ja, eben, du warst die ganze Woche weg.« Amelie blieb stehen und verschränkte die Arme. »Irgendwann müssen wir darüber sprechen.«

  »Wir hatten das Thema oft genug. Wenn Leo eine Allianz mit den Viklunds für eine miese Idee hält, musst du das akzeptieren.«

  »Es ist keine miese Idee!« Amelie ging am Fenster auf und ab. »Der Norden ist die instabilste Region. Die Sveropäer haben die meisten Radicals und die wenigsten freiwilligen Arbeiter. Über kurz oder lang wird die Lage eskalieren.«

  »Dann werden eben die Überwachungen verstärkt.« Lucien hob die Schultern. »Bei den Anglos hat dir das gereicht.«

  »Die Anglopäer sind auch zivilisierte Leute, Luc.«

  »Das sagst du.« Er grinste, und ich hatte eine Ahnung, dass es mir galt.

  Amelie blieb ernst. »Bitte, kannst du nicht mit Leo reden? Ich weiß, dass er dir zuhört, wenn er bei mir längst auf taub st
ellt.«

  Ich kannte Lucien in einer witzigen und einer ernsten Version – von der heißen nicht zu schweigen –, aber die als Vermittler zwischen seinen Geschwistern war neu. Er war mehr als zehn Jahre jünger als Amelie und trotzdem bat sie ihn um Hilfe. Ich spürte Respekt in mir aufsteigen.

  »Ich kann ihn nicht zu der Hochzeit mit einer Frau überreden, die er nicht mag, nur weil es politische Vorteile bringt.« Lucien verdrehte die Augen. »Das ist total bescheuert, Ames.«

  Seine Schwester blieb hartnäckig. »Könige konnten sich noch nie aussuchen, wen sie heiraten. Warum sollte das bei ihm anders sein?«

  »Oh, mal überlegen.« Lucien legte den Kopf schief. »Vielleicht, weil wir im 22. Jahrhundert leben? Weil er damit todunglücklich sein würde? Weil Stella Viklund eine Rassistin und der Inbegriff einer Spaßbremse ist?«

  »Im Leben geht es nicht nur um Spaß, Lucien.«

  »Du tust so, als wüsste ich das nicht.« Er schnaubte. »Falls du es noch nicht mitbekommen hast: Während du auf deinem Hintern in der Festung sitzt, riskiere ich meinen für deine beschissene Sicherheit!«

  Okay, so vernünftig war er wohl doch nicht. Mein Respekt wurde von einem warmen Gefühl tiefer Zuneigung ersetzt.

  »Ach ja, und ich mache gar nichts, oder was?«, rief Amelie.

  »Doch, du lässt dir bescheuerte Pläne einfallen! Stella Viklund, meine Güte! Du willst doch nicht im Ernst, dass die hier einzieht?«

  »Ich will, dass unser Kontinent nicht vor die Hunde geht!« Amelies Lippen wurden sehr schmal. »Leopold wollte diese Macht, also muss er auch Opfer dafür bringen. Jeder von uns muss das.«

  »Ja, aber keiner von uns beiden muss sein Leben mit jemandem verbringen, den er nicht liebt.«

  »Du glaubst, das wäre schlimmer als alles, was du für Phoenix tust?«

  Lucien zögerte keine Sekunde. »Natürlich wäre es das.«

  »Du bist wirklich hoffnungslos, Luc.« Amelie wirkte plötzlich kraftlos und müde. Sie setzte sich auf das Sofa.

  »Ja, so was sagt man mir öfter.« Lucien berührte sie am Arm, und beide schwiegen, während die Spannung sich legte. Sie schienen den Streit beizulegen, ohne es auszusprechen. Wahrscheinlich passierte das nicht zum ersten Mal.

 

‹ Prev