[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen

Home > Other > [Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen > Page 29
[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen Page 29

by Kiefer, Lena


  Dort gingen wir den Verlauf des Abends minutiös durch, jedes Detail und jeden meiner Gedanken. Als es um meine Gründe für die Verfolgung von Gabrio Montoya ging, musste ich lügen, aber ich kam mit der Geschichte einer dunklen Vorahnung durch. Nach einer Stunde wurde ich von einem zufriedenen Dufort und einem angesäuerten Haslock entlassen. Dem passte es gar nicht, dass ich auf eigene Faust gehandelt hatte.

  »Wisst ihr schon, wer es war?«, fragte ich Dufort, als der Gardechef bereits gegangen war. Er schüttelte den Kopf.

  »Nein. Es gab keine Leiche oder DNA in den Trümmern des Bootes. Die Täter waren schon weg, als wir es gesprengt haben.« Er packte seine Sachen zusammen. Ich wandte mich zum Gehen.

  »Eine Sekunde, Ophelia«, hielt er mich auf. »Du bist noch nicht fertig.«

  »Bin ich nicht?« Sprungartig stieg mein Puls an.

  »Nein. Der König möchte dich sehen.«

  Mein Herz tat einen schmerzhaften Satz und setzte dann aus.

  »Was?«, würgte ich hervor.

  »Er möchte die Person kennenlernen, die ihm das Leben gerettet hat.«

  Ich starrte Dufort an. Das war nicht sein Ernst. Ein Treffen mit dem König? Ich wollte den König nicht treffen. Bis vor drei Tagen hatte ich mir noch seinen Tod gewünscht, dann hatte ich ihn angebrüllt und mit vollem Karacho umgenietet. Außerdem war da noch die Sache mit Lucien. Nein, ich wollte Leopold nicht treffen. Absolut nicht.

  »Das war doch gar nichts«, winkte ich ab. »Ich war nur gerade zufällig in der Nähe und wollte helfen, also …«

  Dufort lachte, ein Ereignis, das man im Kalender ankreuzen musste. »Ich verstehe, dass du aufgeregt bist. Aber das ist nicht nötig. Leopold de Marais ist ein sehr umgänglicher Mensch.«

  »Aber –«

  »Das war keine Bitte, Ophelia«, sagte er, nun strenger. »Es ist eine Ehre für eine Anwärterin, ein Gespräch mit ihm führen zu dürfen.«

  Ich nickte und fügte mich. Was hätte ich auch sonst tun sollen?

  Mein Gang durch die Flure des Juwels war ein merkwürdiges Schauspiel. Ich musste beeindruckt tun, machte große Augen und sagte »Oh« und »Ah«, obwohl ich mich bestens auskannte. Als Dufort jedoch vom Hauptflur abbog und wir in den alten Teil des Gebäudes kamen, betrat ich Neuland. Ich wusste von Leopolds Refugium, aber ich war nie dort gewesen.

  Wir gingen durch einen Korridor aus altem Gemäuer. Er war nur schwach ausgeleuchtet, mit dunklem Teppich auf dem Boden und leeren Fackelhaltern an den Wänden. Vor einer schweren Tür mit schmiedeeisernen Beschlägen standen zwei Gardisten. Ich erkannte sie aus der Villa Mare wieder und grüßte, ebenso wie Dufort. Die beiden erwiderten es mit einem Nicken.

  »Man wird dich später wieder hinausbegleiten«, sagte Dufort und wandte sich ab.

  »Du gehst nicht mit rein?«, fragte ich. Es klang wie bei einem Kind, dessen Mutter es am ersten Schultag vor der Tür absetzen will.

  »Keine Sorge, du machst das schon«, sagte er nur und lächelte, bevor er ging. Ich richtete mich so grade wie möglich auf und zupfte an meiner Kleidung, damit sie ordentlich aussah. Zum Glück hatte ich für die Befragung die offizielle schwarze Kluft angezogen.

  Der eine Gardist öffnete die Tür und ging voran.

  »Ophelia Scale für Sie, Sir«, sagte er, während ich noch draußen stand.

  »Sie soll hereinkommen.«

  Mein Herz klopfte wie wild, als ich in den Raum trat und mich dem König gegenübersah. Wie begrüßte man ihn überhaupt? Knicksen? Hand schütteln? Sich verbeugen? Wieso lernten wir bei Majore, wie man den Asiaten, den Südamerikanern und den Hawaiianern Hallo sagte, aber nicht die Begrüßung unseres eigenen Königs?

  Es gab einen unangenehmen Moment, in dem ich nur dastand und bemerkte, dass Leopold eine Jeans zu seinem schwarzen Hemd trug. Dann machte er es mir leicht und streckte die Hand aus.

  »Es freut mich sehr, Ophelia.« Er lächelte.

  »Mich auch, Eure Majestät.« Ich schüttelte seine Hand und deutete einen Knicks an. Sicher ist sicher.

  Die grauen Augen des Königs musterten mich aufmerksam und ich fühlte mich an Lucien erinnert. Bei Leopold fehlte das Blau, aber ansonsten waren seine Augen wie die seines Bruders. Nur funkelten die von Lucien meistens amüsiert – der Blick des Königs flößte mir trotz seines Lächelns Respekt ein.

  »Ich denke, wir können das weniger förmlich angehen, oder?«, sagte er. »Soweit ich mich erinnere, hast du das ohnehin schon.«

  Spielte er darauf an, dass ich seinen Vornamen gebrüllt hatte, bevor ich ihn von den Füßen gerissen hatte? Das war nur Luciens Schuld. Er redete immer über Leopold, als wäre er ein normaler großer Bruder.

  »Also, das –«, fing ich an.

  »War vollkommen in Ordnung«, unterbrach der König mich. »Wenn du erst ›Achtung, Eure Majestät‹ gerufen hättest, wäre ich jetzt tot.«

  Ich knetete meine Hände. »Ja, schon. Trotzdem war es unpassend. Sowohl das mit dem Namen als auch das Tackling.«

  Jetzt lachte er, tief und voll.

  »Tackling ist ein schönes Wort dafür. Aber du hast unrecht. Es war mehr als passend.« Er wandte sich an den Gardisten. »Sie können uns allein lassen.«

  »Aber, Sir«, widersprach der. »Wir haben unsere Vorschriften. Sie ist kein Schakal.«

  »Nein, das ist sie nicht, noch nicht.« Leopold lächelte mich an. »Aber ich denke, Ophelia hat bewiesen, dass sie mich beschützen kann.«

  Der Gardist nickte, dann ging er hinaus und schloss die Tür hinter sich.

  »Setzen wir uns doch.« Leopold ging zu einem niedrigen Tisch, auf dem ein großes Schachbrett stand. Er stellte es weg und deutete auf einen der Sessel. Als ich Platz nahm, kam ein Diener mit einem Tablett herein. Während er uns Tee einschenkte, hatte ich Gelegenheit, mich umzusehen.

  Einen größeren Kontrast zum hellen und luftigen Juwel hätte es kaum geben können. Das Refugium – keine Ahnung, ob es offiziell so hieß – war ein schmaler, lang gestreckter Raum mit uraltem Holzboden und drei kleinen Fenstern, die wie Augen auf uns heruntersahen. Die unverputzten Steinmauern machten das Zimmer dunkel, ebenso wie die niedrige Decke aus dunklem Holz. Ganz offensichtlich war dieser Teil der Festung mehrere Hundert Jahre alt und nicht verändert worden. Ich erinnerte mich an mein Gespräch mit Lucien. Refugium? Klingt altmodisch. – Du hast keine Ahnung, wie recht du damit hast.

  Es gab einen gemauerten Kamin, der bei den aktuellen Temperaturen nicht brannte, dazu braune Sofas, wahrscheinlich aus echtem Leder. In den hölzernen Regalen standen unzählige Bücher, auf dem Boden lagen alte Teppiche, von denen einige historische Szenen mit Pferden und Rittern zeigten. Vor den Fenstern hingen Vorhänge aus schwerem Stoff mit handgestickten Lilien. Im Regal stand das gleiche Foto von den Geschwistern wie in Luciens Zimmer. Aber ich sah keinerlei Technologie. Kein Terminal, kein Panel mit Steuerung für Heizung oder Licht. Es war fast, als wäre man wieder im Mittelalter.

  »Gefällt es dir?«, fragte Leopold.

  »Oh, ja. Es ist sehr gemütlich.« Was hätte ich auch sonst sagen sollen? Warum zur Hölle gibt es keine KI, die dir den Tee kocht, Mann? Du bist schließlich der König.

  »Meine Geschwister finden es schrecklich.« Er hob die Schultern und lächelte wieder. »Sie sagen, es wäre wie in einem Museum.«

  »Dann sollten Sie froh darüber sein. Einen Ort zu haben, wo man Ruhe vor seinen Geschwistern hat, ist Gold wert.« Ich nahm meine Tasse Tee. Kein Schreibtisch zwischen uns, dazu Bescheidenheit und offene Worte über Lucien und Amelie. Ich wollte Leopold nicht mögen, aber seine uneitle Art machte es mir schwer.

  »So habe ich das noch gar nicht gesehen.« Er lächelte und sah mich dann aufmerksam an. »Wie geht es dir nach allem, was passiert ist?«

  »Gut«, sagte ich. Die Schmerzen in meinen Rippen waren nicht der Rede wert. »Aber mich wollte ja auch niemand umbringen.« Ob es in Ordnung war, ihn zu fragen, wie es ihm ging? Ich suchte nach Worten und nahm einen Schluck Tee. Es war eine seltene Sorte mit Limone und etwas Herbem, das ich nicht kannte. Er schmeckte gut.

  »Es war nicht das erste Mal«, sagte Leopold. »Aber noch nie zuvor derart knapp. Ich möchte dir danke
n, dass du so beherzt eingegriffen hast. Das klingt sehr profan, ich weiß. Mehr kann ich für den Moment jedoch nicht bieten.«

  Ich räusperte mich. »Es klingt nicht profan, Sir. Aber Sie müssen mir nicht danken. Was ich getan habe, war mein Job.« Was wiederum auch ziemlich profan klang.

  Leopold hob eine Augenbraue. »Dein Job war es, Sophie Forestier zu spielen und deinen Bereich nicht zu verlassen. Dein Job war es nicht, Gabrio Montoya zu folgen, ihn auszuschalten und dann aus dem Fenster zu springen, um mein Leben zu retten.«

  »Genau genommen, bin ich nicht aus dem Fenster gesprungen«, widersprach ich. »Es war ein Balkon darunter.«

  »Möchtest du dich mit mir über Details streiten?« Er sah mich an.

  Ich schüttelte eilig den Kopf. »Natürlich nicht, Sir.«

  »Gut. Ich bin Widerspruch nämlich nicht gewohnt.« Er lächelte offen zu seinem Scherz und nahm seine Teetasse. Ich tat es ihm gleich.

  Erst jetzt dachte ich daran, dass dies eine Situation war, die ReVerse als einmalige Chance bezeichnet hätte: Ich war allein mit dem König, es waren keine Gardisten da, und durchsucht hatte man mich auch nicht. Wenn ich es darauf angelegt hätte, wäre sein Tod beschlossene Sache gewesen. Aber das war nicht mehr mein Ziel. Ich hatte es in dem Moment aufgegeben, als ich auf dem Fenstersims eine Entscheidung getroffen hatte. Das Ende der Abkehr musste sich auch anders herbeiführen lassen.

  »Ich habe eine Frage«, sagte Leopold in meine Gedanken hinein. Ich sah hoch und er fixierte mich mit seinem wachen Blick. Plötzlich bekam ich eine Ahnung, wie es sein musste, mit diesem Mann Verhandlungen zu führen. Schnell nahm ich einen Schluck Tee.

  »Was denkst du über die Abkehr, Ophelia?«

  31

  Ich verschluckte mich fast an meinem Tee und schleuste ihn gerade noch in die richtige Richtung.

  »Wie bitte?«, krächzte ich. Wieso fragte er das? Wusste er etwas über ReVerse oder meine Rolle bei dem Attentat? Aber dann würde ich wohl kaum hier sitzen und mit ihm plaudern. Oder doch?

  »Keine Sorge, das ist kein Test«, sagte Leopold. »Ich bin nur neugierig. Ich habe nicht oft mit Menschen zu tun, die einen großen Teil ihres Lebens ohne Technologie verbracht haben. Es interessiert mich, was du darüber denkst.«

  Was ich denke? Dass es der größte Scheiß ist, der jemals entschieden wurde.

  Ich bereute nicht, Leopold das Leben gerettet zu haben. Aber das machte die Abkehr nicht plötzlich zur Idee des Jahrtausends.

  »Es war eine große Umstellung«, sagte ich mit einer XXL-Portion Diplomatie, die ich in einer selten genutzten Ecke meines Gehirns zusammengekratzt hatte.

  »Deine Eltern sind Ingenieure, nicht wahr?«, fragte Leopold.

  »Sie waren Ingenieure«, korrigierte ich.

  »Oh, ich bin sicher, das sind sie noch«, tadelte der König milde. »Nur weil man einen Beruf nicht mehr ausüben kann, verliert man diese Bezeichnung nicht.«

  »Dann … ja, das sind sie.« Ich nickte. »Mein Vater hat für MedSol gearbeitet und meine Mutter war in der medizinischen KI-Forschung.«

  »Sie war bei ExonSolutions, richtig?«

  Ich nickte.

  »Weißt du etwas über die Firma? Was dort entwickelt wurde?« Er ließ mich nicht antworten. »Hast du schon einmal von einer Technologie gehört, die sich Omnificial Intelligence nennt?«

  Überrascht sah ich ihn an. Er hatte allen Rekruten die Erinnerung an die Prüfungen löschen lassen, damit der Kreis der Eingeweihten klein blieb. Warum erwähnte er die OmnI jetzt vor mir?

  »Ist das ein Ja?«, fragte er. Wieder nickte ich.

  »Costard hat mir mal davon erzählt, kurz vor der Abkehr. Als ich meine Mutter bei der Arbeit besuchte, war die OmnI gerade marktreif.« Es gab keinen Grund, warum ich das verschweigen sollte. »Warum fragen Sie mich danach?«

  »Weil sich diese OmnI in meinem Besitz befindet. Sie wurde seinerzeit aus dem Gebäude von ExonSolutions entfernt und in unsere Obhut genommen.«

  Ich gab mir den Anschein von Entrüstung, weil ich glaubte, dass man so etwas von einem Anwärter erwarten würde. »Die OmnI existiert noch?«

  »Das ist korrekt.« Nun war es der König, der nickte. »Doch sie wird unter strengem Verschluss gehalten und nur eingesetzt, wenn es unbedingt erforderlich ist. Ich selbst allerdings halte mich so weit wie möglich von ihr fern.«

  Ich runzelte die Stirn, damit hatte ich nicht gerechnet. Er vertraute der OmnI die Auswahl der Schakale an, wollte aber eigentlich nichts mit ihr zu tun haben? Wie passte das denn zusammen?

  »Wie ich sehe, irritiert dich das.« Er musterte mich abwartend, aber nicht unfreundlich.

  Ich machte mir eine gedankliche Notiz: Wenn du mit einem König sprichst, behalte deine Mimik unter Kontrolle. Wie kam ich da wieder raus? »Ich … ich habe mich nur gefragt, warum Sie die OmnI einsetzen, wenn Sie ihr offenbar misstrauen.« Ich war davon ausgegangen, er würde die OmnI ganz selbstverständlich für seine Zwecke benutzen, weil die Abkehr für ihn nicht galt. Aber je länger ich in Maraisville war, je mehr ich von ihm mitbekam, desto weniger glaubte ich das.

  Leopold schwieg, und ich war nicht sicher, ob er mir überhaupt antworten würde. Aber dann holte er Luft. »Wir müssen manchmal einen Pakt mit dem Teufel eingehen, um unsere Ziele zu erreichen.«

  »Die OmnI ist für Sie der Teufel?«, traute ich mich nachzufragen.

  Sein Blick ging ins Leere und die grauen Augen schienen dunkler zu werden. Er sah aus, als würde er sich an etwas Schreckliches erinnern. »Ich glaube nicht, dass es das auch nur annähernd beschreibt.«

  »Aber wenn es rauskommt … wenn rauskommt, dass Sie die OmnI noch haben, dann wäre es doch der perfekte Grund, Sie zu stürzen.«

  »Und doch habe ich sie, um genau das zu verhindern. So paradox es auch klingen mag. Nicht nur, weil ich ihre Dienste hier und da benötige, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen. Sie ist auch mein Sicherheitsnetz. Egal, was einer meiner Gegner entwickeln wird – und ich mache mir keine Illusionen, dass sie es versuchen –, ich habe immer die OmnI als ebenbürtigen Gegner in der Hinterhand.« Leopold atmete aus. »Solange sie streng limitiert und ohne Zugang zu einem Datennetz eingesetzt wird, erfährt niemand von ihrer Existenz. Damit ist sie keine Gefahr, nicht für mich und auch nicht für andere.«

  Ich hatte noch hundert Fragen, aber ich konnte sie nicht stellen, ohne zu verraten, wie viel ich über die OmnI wusste. Also nahm ich meine Tasse und trank noch einen Schluck Tee.

  »Wolltest du beruflich in die gleiche Richtung gehen wie deine Eltern?«, knüpfte Leopold an unser Gespräch zuvor wieder an.

  »Das wollte ich«, sagte ich offen. Es war kein Geheimnis.

  »Dann war die Abkehr sicher ein Schock für dich.« Er sah mich mitfühlend an. »Nicht nur eine Umstellung.«

  Ich hob die Schultern und sah in meine Tasse.

  »Ja, das war sie«, erwiderte ich ehrlich. »Aber trotzdem habe ich sie akzeptiert.«

  Leopold neigte sich leicht vor. »Etwas anderes wollte ich dir auch nicht unterstellen. Aber Akzeptanz reicht nicht.« Er stand auf.

  »Nicht?« Was sollte das bedeuten? Ich hatte diesen Test versaut und musste jetzt nach Hause fahren? Das ging auf gar keinen Fall! Lucien war nicht da, ich musste ihn doch wenigstens noch einmal sehen. Das ist deine einzige Sorge?

  »Nein.« Leopold setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches, wie in meinem OmnI-Test. Er legte sogar die Hände genauso aneinander wie sie. Wusste er, dass diese künstliche Intelligenz ihn derart gut kannte? Wenn ja, gefiel es ihm sicher nicht. »Wer für mich arbeitet, muss zu einhundert Prozent hinter der Abkehr stehen. Jeder Schakal muss verstehen, warum ich diese Entscheidung getroffen habe.«

  »Aber ich weiß, warum es die Abkehr gibt«, sagte ich hastig. »Als Programm zur Rückbesinnung auf entscheidende Werte und soziales Zusammenleben.« Das war eine gute Antwort – wenn Majore mich im Unterricht abgefragt hätte.

  »Das ist richtig.« Leopold nickte. »Die Menschen hatten verlernt, miteinander umzugehen. Wenn man ständig mit perfekten virtuellen Personen zu tun haben kann, erscheinen reale dagegen sehr unzulänglich. Viele Leute sind immer aggres
siver und unberechenbarer geworden, die Rate von Gewaltverbrechen ist angestiegen, und irgendwann wäre ein Bürgerkrieg unvermeidlich gewesen. Aber das ist nur ein Aspekt.«

  »Nur ein Aspekt?« Es hatte Plakate gegeben, Pad-Broschüren, eine ganze Marketingkampagne zu dem Thema. Warum der Mensch die Abkehr brauche, warum er nicht unsozial werden dürfe, warum das alles unser Untergang sei. Es hatte keine Rangliste gegeben, »1: Verlust der Menschlichkeit, 2: Verraten wir nicht.« Was zur Hölle meinte er also damit? Ich dachte an meinen Dad. Hatte er recht gehabt, als er annahm, es gäbe Gründe, die niemand von uns Normalsterblichen kannte?

  »Sagt dir der Begriff des PointOut etwas?«, fragte der König.

  »Ja.« Ich runzelte die Stirn. Der PointOut, eine Abkürzung für Point of Outgrow, war ein möglicher Zeitpunkt in der Zukunft, an dem die Intelligenz künstlicher Lebensformen die der Menschen übersteigen würde. Was danach passierte, wusste niemand genau. Aber alle Theorien sagten ein Ende der menschlichen Vorherrschaft voraus und den Beginn eines Zeitalters der künstlichen Intelligenzen. Oder anders gesagt: Die KIs hätten dann das Sagen und nicht mehr die Menschen.

  Es gab unterschiedliche Meinungen darüber, was das für uns bedeuten würde. Die meisten Szenarien waren sehr düster. »Aber das ist nur eine Theorie.« Meine Mutter hatte mir erklärt, dass wir vor der Abkehr noch mehrere Jahrzehnte vom PointOut entfernt gewesen waren. Wenn die Angst davor also ein Grund für Leopolds Entscheidung gewesen war, hatte er ein bisschen überreagiert.

  »Ist es das?«, fragte er mich und hob eine Augenbraue.

  »Das ist zumindest, was ich darüber weiß«, antwortete ich. Wenn jemand Expertin auf diesem Gebiet war, dann meine Mutter.

  »Es ist keine Schande, das zu glauben. Ich dachte damals selbst, dass wir weit davon entfernt sind.« Leopold nahm ein Pad aus seiner Schreibtischschublade und setzte sich wieder auf den Sessel mir gegenüber. Er aktivierte sein Pad, das er hier wohl sonst nicht nutzte, und suchte nach etwas. Dann hielt er es mir hin. »Dieser Vorfall ist acht Jahre her.«

 

‹ Prev