by Kiefer, Lena
Es war der Bericht eines Schakals, das erkannte ich sofort. Oben stand eine typische Kennung, dazu mehrere Buchstaben, die eine Art Code darstellten. Die Überschrift war Auftrag 6345 – Quadrat Q45, 14-10-2126.
»Soll ich …?« Ich sah Leopold an. Das war ein streng geheimer Bericht. Durfte ich den wirklich lesen?
»Der erste Absatz reicht völlig«, sagte der König, verschränkte seine Arme und sah mich abwartend an.
Es war der Bericht über eine Firma in Südkorea namens ArtificialResources. Sie war einer der Big Ten gewesen und hatte mit Robotik ein Vermögen gemacht – vor allem mit Assistenzsystemen für Altenpflege und Kinderbetreuung. Ich erinnerte mich an die EyeLink-Werbung.
Der Schakal berichtete in kurzen Sätzen darüber, dass er in ihren Firmensitz eingedrungen war und dort niemanden vorgefunden hatte. Die Fertigungsmaschinen waren in Betrieb, aber weder an den Kontrollstationen noch im Büro arbeitete jemand. Es war allerdings unerträglich heiß gewesen und ohne Maske nicht möglich zu atmen. Damit endete der erste Absatz.
»Was hat ein verlassener Gebäudekomplex mit der Abkehr zu tun?« Ich legte das Pad vor mir auf den Tisch.
»Er war nicht verlassen.« Leopold sah mich an. »Der Schakal hat das Gebäude durchsucht und fand die Mitarbeiter schließlich im Keller. Sie waren ohne Wasser und Nahrung in einen winzigen Raum gesperrt worden, die meisten waren bereits verdurstet. Die wenigen, die noch lebten, berichteten davon, dass es plötzlich wahnsinnig warm und stickig geworden wäre.«
»Das klingt nach einem Defekt in der Lebenserhaltung«, schlussfolgerte ich.
»Verschließt ein Defekt in der Lebenserhaltung auch Türen?«, fragte Leopold. »Schaltet ein Defekt in der Lebenserhaltung alle Steuerungspanels im Gebäude ab? Oder kann so ein Defekt Menschen durch gezielte Manipulation von Systemen zusammentreiben wie eine Herde Vieh, um sie dann elendig sterben zu lassen?«
Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Was war es dann?«
Leopold deutete auf das Pad. »ArtificialResources hat als eine der ersten Firmen fortschrittliche KI-Systeme von ExonSolutions eingesetzt, um die Produktion zu steuern. Eine von ihnen hat dieses Gebäude unter ihre Kontrolle gebracht.«
»Dann war es deren KI? Sie hat das getan?« Ausgerechnet ein System aus Exon Costards Firma? Von dem Mann, der die OmnI entwickelt hatte?
»So ist es. Man hatte das System nur abschalten wollen, um ein Update zu installieren. Herunterfahren, neue Version hochladen, fertig. Aber damit war die KI nicht einverstanden. Es gab Änderungen im Programm, die sie nicht akzeptieren wollte.«
Ich stieß die Luft aus. »Wenn das stimmt …« Dann hatte diese spezielle künstliche Intelligenz ein Bewusstsein entwickelt. Sie hatte sich selbst als Identität wahrgenommen und beschlossen, diese zu beschützen. Und sie hatte sich über die Menschen gestellt und für ihr eigenes Überleben töten wollen. Das war kein Defekt. Das war ganz genau das, was man unter dem PointOut verstand. Scheiße. Scheißescheißescheiße. Ich spürte, wie etwas in mir abzustürzen drohte. Konnte meine Mutter das gewusst haben? Hatte sie mich vielleicht sogar belogen, was den PointOut anging?
»Es ist die Wahrheit. Ich hätte es bezweifelt, wenn es der einzige Fall dieser Art gewesen wäre.« Leopold nickte ernst. »In Asien hatten sie viel weniger Skrupel als wir, diese Systeme einzusetzen. Die Ausfälle haben sich gehäuft und wurden immer drastischer. Kurz bevor mein Vater starb, gab es dann auch hier einen Vorfall. Das war der Moment, als ich anfing, über die Abkehr nachzudenken.« Er sah auf die Tischplatte. Das Thema schien ihm sehr nahezugehen.
»Weil das eine Möglichkeit war, die Katastrophe zu verhindern«, sagte ich tonlos.
»Es war die einzige Möglichkeit.« Der König beugte sich vor. »Was glaubst du: Wie lange dauert es, bis eine OmnI die Macht über alle lebenswichtigen Wasser- oder Stromversorgungssysteme übernimmt, wenn man ihr einen Netzwerkzugang gibt?«
»Nicht sehr lange, schätze ich.« Ich bohrte meine Finger in die Sitzfläche des Sessels. Mein Herzschlag war mindestens bei dreihundert.
»Es sind 4,3 Sekunden.«
»Nicht sehr lange« war also die Untertreibung des Jahres.
»Wäre es denn nicht möglich, friedlich zu koexistieren?« Ich wollte nicht so schnell aufgeben. »Das klingt vielleicht naiv, aber es gibt durchaus Forscher, die annahmen, es wäre möglich.«
»Es ist nicht naiv«, sagte Leopold. »Nur unwahrscheinlich. Vor der Abkehr haben wir Tests dazu unternommen, aber keiner ging gut aus. KIs sind auf ihre Weise lebende Intelligenzen mit einem Bewusstsein nach unserem Vorbild. Sie wollen immer mehr wissen, mehr erfahren, mehr kontrollieren. Und sie sind nicht durch einen Körper eingeschränkt.« Er sah mich an. »Was würdest du tun, wenn man dich einsperrt?«
»Ich würde versuchen, auszubrechen«, sagte ich ohne Zögern.
»Genau.« Leopold nickte. »Und wenn du schlauer als deine Bewacher bist, wird dir das gelingen. Ein Hund, der Angst hat, beißt um sich. Das wäre bei einer KI nicht anders, wenn man sie bedroht – und unsere bloße Existenz wäre eine solche Bedrohung.«
Ich schluckte. »Also würde sie uns nicht neben sich akzeptieren.«
»Nein, würde sie nicht. Es ist eine einfache Rechnung.« Leopold schüttelte den Kopf. »Es herrscht immer derjenige, der am intelligentesten ist. Und sobald man künstlicher Intelligenz wie der OmnI die Freiheit gibt, wären das nicht mehr die Menschen.«
Mir wurde schlecht. Ich hatte den PointOut so weit in der Zukunft gewähnt, dass mir nie in den Sinn gekommen wäre, eine Gefahr in KIs zu sehen. Es war Technik, die Leben retten, ergänzen, interessanter machen oder vereinfachen konnte, nur Technik. Das hatte ich zumindest geglaubt. Aber wenn Leopold die Wahrheit sagte, dann änderte das alles. Wenn er die Wahrheit sagte, war ReVerse vollkommen auf dem Holzweg. Ich war auf dem Holzweg.
»Ophelia, ist alles in Ordnung?« Leopold sah mich besorgt an.
Ich schluckte und nickte. In meinem Mund war ein übler Geschmack. »Ja, es ist nur … Ich habe nichts davon gewusst.« Ich sah ihn an. »Warum haben wir alle nichts davon gewusst?«
»Ich habe entschieden, es der Bevölkerung nicht zu verraten.«
»Aber wieso? Das ergibt keinen Sinn.« Der Vorwurf in meiner Stimme war nicht zu überhören. Wenn ich über den PointOut Bescheid gewusst hätte, dann hätte ich nicht die letzten vier Jahre meines Lebens an etwas verschwendet, was wider Willen zu einer weltweiten Katastrophe führen konnte. ReVerse und allen anderen Widerstandsgruppen wäre allein mit dieser Information jeder Wind aus den von Königshass geblähten Segeln genommen worden.
»Doch, leider schon. Das ist viel komplizierter, als du vielleicht denkst.« Leopolds Gesicht verhärtete sich. »Nicht jeder Mensch versteht, was es für uns bedeuten würde, wenn KIs wie die OmnI in Serie gegangen wären. Im Gegenteil, es gab und gibt Stimmen, die behaupten, das Szenario der alles unterdrückenden KI sei nur Panikmache. Und genug Menschen würden darauf hören, wenn diese Stimmen eine Bühne bekämen.«
»Weil sie denken, dass wir die KIs auch in größerem Maßstab kontrollieren könnten?« Das konnte doch nicht wirklich jemand glauben. Niemand, der wüsste, was ich eben erfahren hatte.
»Nein, es ist viel schlimmer als das. Sie denken, wir wären endlich in der Lage, unsere eigenen Götter zu erschaffen.«
Ich starrte ihn an. »Unsere eigenen Götter?«
Leopold nickte. »Niemand leugnet, dass so etwas wie die OmnI uns überlegen ist. Aber viele, allen voran Exon Costard, halten es für falsch, KIs mit uns zu vergleichen. Sie sagen, diese Intelligenzen hätten kein Streben nach Macht wie wir, würden keine menschliche Angst kennen, auf der all unsere Probleme basieren. Sie wären einfach nur reine Intelligenz, unbelastet von unseren Schwächen.« Er schnaubte. »Keiner von diesen Fanatikern versteht, was der PointOut mit uns machen würde. Sie stehen mit dem Rücken zum Abgrund der Hölle, ohne ihn sehen zu wollen. Aber ich habe hineingeschaut – und was ich dort gesehen habe, hat mir keine Wahl gelassen. Ich musste die Menschen beschützen, die keine Ahnung haben, was ihnen droht. Ich musste die Abkehr ausrufen und damit alle entmachten, die uns in diesen Abgrund reißen könnten. Das w
ar meine Pflicht.« Er atmete aus. In seinen Augen erkannte ich, wie ernst er dieses Thema nahm.
»Das verstehe ich.« Nie hatte dieser Satz mehr gestimmt als jetzt. »Aber dennoch könnte man die Bevölkerung informieren. Die Abkehr gilt doch trotzdem und Costard und seine Mitstreiter sind machtlos dagegen.«
»Wenn das doch nur so wäre«, sagte Leopold und sah mich dabei an. »Ich bin weder dumm noch naiv. Ich weiß, dass meine Gegner nur auf eine Chance warten, um sich wieder ins Spiel zu bringen. Wenn ich die Bedrohung des PointOuts nun öffentlich machte, was denkst du, wird passieren? Costard und die anderen werden diese Erklärung mit allen Mitteln demontieren, sie werden durch das Land ziehen, Lügen verbreiten, die Leute überzeugen, dass ich es bin, der lügt – und damit das Tor zur Hölle aufstoßen. Dafür bräuchten sie keine Technologie.« Seine Hände legten sich um die Kante des Tisches, an dem er lehnte. Ich sah die Knöchel hervortreten. »Gegen die jetzige Begründung, die ich verwende, können sie nichts tun, die Verrohung der Menschen war vor sechs Jahren längst Fakt. Aber der PointOut lag vermeintlich in der Zukunft. Was Zukunftsszenarien angeht, lassen sich nur zu leicht die Tatsachen verdrehen. Das ist damals zu Beginn des Jahrtausends in Bezug auf den Klimawandel geschehen und hätte um ein Haar katastrophale Folgen für die Menschheit nach sich gezogen. Aus dieser Lehre der Geschichte habe ich meine Konsequenzen gezogen. So etwas darf nie wieder passieren.«
Zum ersten Mal wurde mir klar, was für eine Last dieser Mann tragen musste. Ich hatte immer geglaubt, Leopold hätte Freude daran, der Bevölkerung den Zugang zu Technologie vorzuenthalten, während er selbst auf nichts verzichten musste. Dabei saß er die meiste Zeit in einem Raum ohne jegliche Annehmlichkeiten und sorgte nicht nur dafür, dass die Menschen alles Nötige zum Leben bekamen, er hatte uns dieses Leben mit seiner Entscheidung auch noch gerettet. Scham brannte in meiner Brust. Wie furchtbar dumm ich gewesen war. Wie unglaublich falsch ich gelegen hatte.
Plötzlich wurde es draußen laut.
»Es ist mir scheißegal, was er für eine Besprechung hat, Herrgott!«, hörte man gedämpft jemanden rufen, und ich erkannte die Stimme. Mein Herz hüpfte und das flaue Gefühl in meinem Magen legte sich ein wenig. Eine Sekunde später flog die Tür auf.
»Heilige Scheiße!« Lucien stand im Türrahmen wie ein Racheengel. Seine Haare standen in alle Richtungen ab, die dunklen Klamotten waren voller Staub. Er registrierte meine Anwesenheit gar nicht, sah nicht einmal in meine Richtung. Stattdessen stürzte er auf Leopold zu und umarmte ihn.
»Dafür, dass kaum noch jemand an Gott glaubt, fluchst du ganz schön religiös«, sagte der König, nachdem Lucien ihn losgelassen hatte. Mit einem Blick auf mich rückte er sein Hemd zurecht.
»Du hast mir ja auch eine verfluchte Scheißangst eingejagt!«, rief Lucien aufgebracht. »Ich habe dir gesagt, dass ich ein mieses Gefühl bei der Sache habe, aber du musstest es ja als verdammtes Hirngespinst abtun. Zum Teufel mit dir und deinem dämlichen Dickschädel!«
»Ja, das klingt schon eher nach dir.« Leopold lächelte und ich sah die Zuneigung in seinen Augen. »Zum Glück ist alles gut gegangen.« Er deutete auf mich. »Darf ich dir Ophelia Scale vorstellen? Sie war es, die das Attentat verhindert hat. Ophelia, das ist mein Bruder Lucien. Normalerweise verzichtet er in der Gegenwart von Fremden auf Kraftausdrücke.«
Lucien erstarrte kurz, aber dann drehte er sich zu mir um und zeigte kein Erkennen – ganz der Schakal, der er war. Überhaupt wirkte er anders, ich spürte es. Sein Gang war härter, die Schultern steifer, alles war weniger locker und geschmeidig als sonst. Er war noch im Agentenmodus.
»Freut mich. Ich glaube, ich habe dich im Unterricht gesehen«. Er reichte mir die Hand und lächelte unverbindlich. »Vielen Dank, dass du meinem Bruder das Leben gerettet hast.«
Ich nickte zurückhaltend. »Das habe ich gerne gemacht.« Ich wartete auf den Moment, wo das vertraute Funkeln in seine Augen trat, aber es passierte nicht. Stattdessen schaltete sich Leopold ein.
»Lucien, wärst du so nett, uns noch einen Moment allein zu lassen? Meine Besprechung mit Ophelia ist noch nicht beendet.«
»Natürlich. Wir sehen uns später, Leo. War mir eine Freude, Ophelia.«
Ich hätte ihn gern gefragt, ob wir uns sehen würden, aber vor Leopold war kein Gespräch möglich. Also sah ich zu, wie Lucien aus der Tür ging und sie hinter sich schloss.
»Ich entschuldige mich für sein aufbrausendes Temperament.« Leopold lächelte.
»Das macht nichts«, sagte ich. »Er hat sich Sorgen gemacht, das verstehe ich.«
»Es wäre nett, wenn du Stillschweigen darüber bewahren könntest, dass er … nun ja.« Er suchte nach Worten.
»Dass er gerne flucht?« Ich hob die Schultern. »Oder das andere?« Luciens Kleidung hätte ihn jedem aufmerksamen Beobachter als Schakal offenbart.
»Beides. Auch wenn ich sicher bin, dass viele über das Fluchen informiert sind.« Leopold verzog das Gesicht.
Ich nickte. »Ich werde natürlich nichts darüber sagen, Sir.«
»Danke. Dann noch eine Sache.« Er lehnte sich wieder an seinen Schreibtisch. »Jemand hat verraten, wo der Empfang für Montoya stattfand.«
»Ach ja?« Ich schrumpfte förmlich unter seinem Blick.
»Wir sind alle Möglichkeiten durchgegangen und haben die potenziellen Verräter eingegrenzt.«
Mein Mund war staubtrocken. »Ich dachte, Montoyas Sohn hätte …«
»Montoyas Sohn war nur ein Handlanger. Jemand, der ein verabredetes Zeichen geben sollte. Aber er wusste nichts von der Villa. Er und sein Vater wurden von uns dorthin gebracht, ohne ihr Ziel zu kennen. Das ist nicht üblich, aber weil es Bedenken gab, sind wir vom Standardprotokoll abgewichen.«
Ich ahnte, wessen Bedenken das gewesen waren. »Das heißt, die haben entweder gut geraten oder …«
»Oder es war jemand aus unseren eigenen Reihen.« Leopolds Gesicht wurde hart. »Ich vertraue den Schakalen und der Garde voll und ganz. Trotzdem werden wir Untersuchungen durchführen. Es ist sehr beunruhigend, jemanden unter uns zu haben, der so etwas tut.«
Ich senkte den Kopf und suchte nach einer passenden Reaktion – Anteilnahme, Schock oder Überraschung? –, aber darauf wartete Leopold nicht.
»Ich möchte, dass du Augen und Ohren bei den Anwärtern für mich offen hältst.«
Was? »Ich soll sie ausspionieren?« Ausgerechnet ich?
»Du kennst sie besser als die Ausbilder. Vielleicht verhält sich jemand merkwürdig oder ist viel allein unterwegs. Jede Kleinigkeit kann ein Hinweis sein.«
»Wäre eine Befragung durch Dufort nicht die bessere Idee?« Meine Hände schwitzten.
»Das wäre unser letztes Mittel«, sagte Leopold knapp. »Ich möchte nur ungern Aufsehen erregen, wenn es sich vermeiden lässt.«
Da mir spontan keine weitere Ausflucht einfiel, blieb mir keine andere Wahl, als zu erwidern: »Ich werde natürlich gerne versuchen zu helfen.«
Nachdem ich Ordnung in meine Gedanken gebracht hatte. Die Abkehr war in Wahrheit kein riesiger Fehler und ich genoss nun das Vertrauen des mächtigsten Mannes in Europa. Verwirrend war nicht ansatzweise das richtige Wort, um zu beschreiben, was in den letzten fünfzehn Minuten passiert war.
»Ich hatte nichts anderes erwartet.« Leopold nickte zufrieden und gab mir die Hand. »Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen, Ophelia. Ich bin sicher, wir werden noch öfter das Vergnügen haben.« Damit war ich entlassen.
Draußen hoffte ich, Lucien zu begegnen. Aber vor der Tür standen nur die beiden Gardisten und ein Bediensteter. Ich sah mich um, aber ich konnte keine goldbraunen Locken oder rauchblauen Augen entdecken. Er war nicht da.
»Ich bringe Sie nach draußen«, sagte der Diener und ging voran.
Meinem Gedankenchaos und mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
32
Irgendwann am Nachmittag gab ich es auf, mein Terminal anzustarren und auf eine Nachricht zu hoffen. Wahrscheinlich war Lucien nur gekommen, um seinen Bruder zu sehen und sich über den Vorfall in der Villa Mare zu informieren. Anschließend musste er sicher gleich wieder abreisen. Aber das war nicht mein grö�
�tes Problem.
Je länger ich über das Gespräch mit dem König nachdachte, desto wirrer wurden meine Gedanken. Nicht nur, dass ich mit meiner Rettungsaktion in den engeren Kreis des Königs aufgestiegen war. Nicht nur, dass es für mich eine Zukunft bei den Schakalen gab. Mir war nun auch klar, dass Leopold mit der Abkehr die Menschheit vor dem Untergang bewahrt hatte. Das, wofür ich ihn mit aller Kraft gehasst hatte, war sein Weg gewesen, uns zu retten. Ich wusste, das bedeutete, für den Rest meines Lebens HeadLock nehmen zu müssen. Doch der Gedanke beunruhigte mich nicht zu sehr. Ich war in den letzten Wochen gut damit klargekommen.
Was mir hingegen alle zehn Minuten einen Panikanfall bescherte, war der Auftrag, den er mir erteilt hatte. Wie sollte ich das regeln, ohne aufzufliegen? Wieder und wieder ging ich die Fakten durch: Bei den Ermittlungen im Kreis von Garde und Schakalen würde man keinen Schuldigen finden. Auch ich würde keinen liefern können. Aber Leopold würde diese Sache kaum im Sande verlaufen lassen. Das bedeutete, man würde genauer suchen, viel genauer – und schließlich auf mich kommen. Die Kontakte meiner Vergangenheit waren wie ein großes Ausrufezeichen hinter meinem Namen. Daran konnte auch die Rettung des Königs nichts ändern.
Ich ließ das Abendessen ausfallen und verbrachte die nächsten Stunden mit einem Spaziergang zum See und wieder zurück. Aber auch das Laufen bescherte mir keinen Geistesblitz, und Luciens Räume im Juwel waren dunkel, als ich daran vorbeikam. Um zehn Uhr kehrte ich in meine Wohneinheit zurück, ohne eine Lösung gefunden zu haben.
»Öffnen«, murmelte ich halbherzig und wartete, dass meine Tür aufging. »Licht an«, schob ich nach und warf meinen Pullover aufs Bett.
Mein Terminal meldete eine Nachricht. »Annehmen.« Es erschienen keine Worte, nur ein Pfeil, der nach oben deutete. Verwirrt runzelte ich die Stirn. Dann hörte ich ein Klopfen. Kam das vom Dach?
Der Ausgang, hinter dem sich die Feuerleiter befand, war direkt neben meiner Tür. Ich kletterte hoch und spähte über die Kante.