[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen

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[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen Page 35

by Kiefer, Lena


  Lucien hob eine Augenbraue. »Klar, verstehe ich. Aber verrate mir eins: Wenn sie dein Projekt ist, warum erledige ich dann diesen Job?«

  Diesen Job? Job? Die Worte pressten mir die Luft ab und trieben Tränen in meine Augen. Ich sank auf den Sessel. Meine Knie waren wie aus Gummi.

  »Ich bin zu alt für sie und außerdem ihr Ausbilder«, sagte Dufort. »Das würde nicht funktionieren.«

  Die Szenerie löste sich auf und ließ mich allein zurück. Meine Hände zitterten, die Tränen vernebelten meinen Blick. Aber noch war ich nicht bereit, aufzugeben. Ja, vielleicht war es ein Job gewesen, aber dann war es mehr geworden, viel mehr. Ich hatte schließlich auch nicht die Wahrheit gesagt.

  »Gibt es noch etwas von … später?«, fragte ich leise. Ich brauchte Gewissheit.

  »Du meinst, nachdem ihr miteinander im Bett wart?«, fragte Troy. Jedes seiner Worte tat weh. Trotzdem nickte ich.

  Plötzlich war die OmnI wieder da, erneut in der Gestalt meiner Mutter. »Bist du sicher, dass du ihr das zeigen willst?«, fragte sie Troy. »Sie sieht nicht gut aus. Erhöhter Puls, geweitete Pupillen, zittrige Hände. Sie steht kurz vor einem Zusammenbruch.«

  »Bitte«, sagte Troy nur. »Sie muss es sehen.«

  Meine Mutter verschwand.

  Diesmal tauchte das Refugium des Königs auf.

  »Wir müssen das Ganze abbrechen«, sagte Leopold. »Wenn die Leute vom Widerstand tatsächlich dort auftauchen, wird es zu gefährlich.«

  »Nein«, widersprach Lucien. »Ich habe Ophelia so weit. Wenn wir in der Villa Mare einen Ernstfall haben, wird sie dich retten.«

  »Sie war es, die den Tipp gegeben hat«, sagte Leopold.

  Mein Magen krampfte sich zusammen. Sogar das hatten sie gewusst?

  »Ja, aber das war, bevor sie sich in mich verliebt hat.« Lucien hob die Schultern. »Leopold, ich habe das schon hundert Mal gemacht. Sie fängt sich für dich eine Kugel ein, wenn ich sie darum bitte.«

  »Und du wirst sie darum bitten, nehme ich an.«

  Lucien nickte. Er wirkte sachlich und nüchtern, wie schon bei Dufort. Seine Augen hatten einen matten Glanz, da war kein Funkeln, gar nichts. Er wirkte, als hätte er gar keine Gefühle. »Heute Nacht tauche ich bei ihr auf und sage, ich müsse ins russische Gebiet, um den Killer der Schakale zu jagen. Dann nehme ich ihr das Versprechen ab, dich zu beschützen.«

  »Wieso bist du dir so sicher, dass sie das auch tun wird?« Leopold schien nicht überzeugt.

  »Ihr Profil ist eindeutig. Ophelia Scale ist unglaublich intelligent und analytisch, aber ihre Gefühle sind ihre Schwachstelle. Sie hat diesen Odell geliebt und hätte alles für ihn getan. Für mich wird sie das auch tun.«

  Ich holte Luft, aber nichts kam in meinen Lungen an. Schockiert starrte ich diese fremde Version von Lucien an. Wie konnte er so über mich reden? So, als wäre ich kein Mensch?

  »Wir lassen sie danach mit dir sprechen, du erzählst ihr die Geschichte vom PointOut, das wird sie endgültig überzeugen. Dann beenden wir das Programm, nehmen sie bei den Schakalen auf und erfahren von ihr alles, was sie weiß.« Lucien machte eine schnelle Geste mit der Hand. »Das wird ein Spaziergang, Leo. Ich schwöre dir, noch vor Weihnachten ist dieser lästige Haufen von Revoluzzern erledigt.«

  Leopold nickte. »Und du? Wirst du weiter mit ihr schlafen, damit sie auf unserer Seite bleibt?« Er sah seinen Bruder besorgt an.

  Lucien hob die Schultern, als hätte man ihn nach dem Wetter gefragt. »Wenn es nötig ist.«

  »Mach das aus«, sagte ich. Die Szene lief weiter. »Mach das aus!«, brüllte ich aus vollem Hals. Das Refugium verschwand.

  »Das hätte ich dir gerne erspart«, sagte die OmnI mitleidig. »Aber du siehst, dass deine Gefühle für ihn nie eine Rolle gespielt haben. Er hat dich nur benutzt.«

  Ich rang nach Luft, alles in mir wehrte sich gegen die Tatsachen. Aber der Druck der Wahrheit brachte auch den letzten Funken der Lügen zum Erlöschen. Lucien hatte mich nicht zufällig kennengelernt. Er hatte mir nie helfen wollen. In der Ruine, im Krankenhaus, alles war ein abgekartetes Spiel gewesen. Genau wie später auf dem Turm. Oder nachdem ich das Gespräch von Leopold und Phoenix mit angehört hatte.

  Immer mehr Situationen kamen mir in den Sinn. Wie er mich in sein Schlafzimmer geschickt und die Überbleibsel des Brandes hatte sehen lassen. Das Gerede über seine Familie. Über Freiheit. Seinen Job, den er angeblich so verabscheute, aber seinem Bruder zuliebe erledigte. Dass er es hasste, nicht er selbst zu sein. All diese Momente, in denen wir uns nahegekommen waren … All die Sorge, die Zuneigung, jedes Wort über ihn, mich oder uns. Nichts davon war wahr. Es war alles gelogen.

  Ich hörte Schritte. Troy tauchte neben mir auf.

  »Er musste dir das Gefühl geben, dass du wichtig für ihn bist. Sonst hättest du nie die Seite gewechselt.«

  Aber das hatte ich. Für falsche Zuneigung, leere Beteuerungen und ein Paar schöne Augen hatte ich alles verraten, was mir wichtig gewesen war.

  »Er hat mir gesagt, dass er mich liebt«, flüsterte ich. Mir war eiskalt.

  »Lucien de Marais ist vermutlich der beste Lügner der Welt«, sagte die OmnI. »Mach dir keine Vorwürfe, weil du ihm geglaubt hast.«

  Nein, es gab keine Entschuldigung dafür. Ich hätte es besser wissen können, ich hätte es besser wissen müssen. Ich selbst war als Lügnerin in diese Stadt gekommen und hatte trotzdem einem professionellen Lügner geglaubt. In dem Moment, als ich mich in ihn verliebt hatte, war jeder Zweifel an seiner Aufrichtigkeit verschwunden. Ich hatte alles zum Teufel gejagt für jemanden, der niemals ehrlich zu mir gewesen war. Der nach jedem Treffen Bericht erstattet hatte!

  In Dauerschleife lief unsere letzte Begegnung vor meinem inneren Auge ab, immer und immer wieder, in grausamer Klarheit.

  Ich liebe dich, Ophelia. Ich wollte, dass du das weißt.

  Dieser Blick. Diese Worte. Nichts als Lügen.

  In mir erstarb der letzte Funke Hoffnung und die Wahrheit brach über mich herein. Meine Realität stob auseinander, wurde zu Trümmern, dann zu Staub. Ich bekam keine Luft, alles in mir schien zu zerbersten. Es tat weh, so unendlich weh. Der Schmerz fraß sich in mich hinein, zehrte mich auf. Nichts in meinem Leben hatte je so wehgetan.

  »Ich habe dir gesagt, sie würde es nicht verkraften«, sagte die Stimme meiner Mutter.

  »Halt die Klappe!«, schrie ich sie an. »Haltet beide die Klappe!« Ich stand auf und lief weg. Aber ich konnte nicht entkommen. Der Schmerz verfolgte mich, drückte mir den Atem ab. Ich sah Sterne, dann Punkte, dann Flecken. Ich presste meine Hände auf die Augen, während ich unter der Last zerbrach.

  Aber selbst als ich in einer Ecke auf dem kalten Boden aufkam, gab es keine rettende Ohnmacht. Der Schmerz blieb, wurde stärker, stechender. Ich zitterte, umklammerte meine Arme, krallte die Finger in meine Haut. Mein Körper schien sich aufzulösen. Ich betete, dass er es täte. Ich wollte sterben. Ich wollte tot sein und nichts mehr fühlen müssen.

  Nach Knox hatte ich die Scherben meines Herzens lange zusammensuchen müssen. Ich hatte Monate dafür gebraucht, aber irgendwann hatte ich alle Teile gefunden und mühsam gekittet. Es war nicht perfekt gewesen, nicht vollständig geheilt. Aber ich hatte es wieder gespürt.

  Und dann hatte ich es Lucien anvertraut. Mein beschädigtes, zerbrechliches Herz hatte ich in seine Hände gelegt und daran geglaubt, dass er es gut behandeln würde. Aber das hatte er nicht. Er hatte es in kleine Splitter zertreten, es zermalmt zu feinstem Staub, der mit dem geringsten Hauch weggeweht werden konnte. Es würde nicht wieder heilen.

  Nie mehr.

  36

  Ich wusste nicht, wie, aber irgendwann tauchte ich wieder auf. Ich tauchte auf aus dem Meer von Schmerzen, aus den tiefschwarzen Abgründen, in die mich die Wahrheit gerissen hatte. Mein tauber Körper trieb immer noch darin. Aber ich konnte wieder atmen.

  »Es tut mir so leid.« Das war nicht Troys Stimme und auch nicht die meiner Mutter. Ich hob den Kopf vom kalten Boden und sah in tiefbraune Augen. Sofort krampfte sich mein Magen zusammen. Mein Herz konnte es nicht mehr.

  »Nein, mir tut es leid«, brachte ich heraus. »Ich habe di
ch verraten. Alles, was uns verbunden hat.« Nicht, weil ich dem König geglaubt hatte. Sondern weil ich mich in einen anderen verliebt hatte. In jemanden, der mich benutzt hatte. Für den ich immer nur ein Auftrag gewesen war.

  »Das ist nicht deine Schuld, Phee.« Knox hockte sich neben mich.

  »Doch, ist es. Ich hatte dich beinahe vergessen.« Mein Schluchzen brach aus mir hervor, ohne dass ich es verhindern konnte. Knox war nicht echt, aber das war mir egal. »Seinetwegen habe ich kaum noch an dich gedacht.«

  »Ich weiß.« Sein Lächeln bekam etwas Trauriges. »Aber es spielt keine Rolle. Die haben uns das angetan, nicht du. Du hast nur versucht, es in Ordnung zu bringen.«

  »Nein, habe ich nicht«, weinte ich. »Ich hätte mich an den Plan halten müssen. Seine Einladung ausschlagen. Ihn niemals küssen dürfen oder mit ihm …« Ich brach ab.

  »Hör auf, dir Vorwürfe zu machen.« Knox sah mich an. »Kein Mensch kann allein existieren. Nicht einmal du.«

  »Ich bin eine von denen geworden, nur weil er es so wollte! Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn liebe!« Am liebsten wäre ich vor Scham in diesem fürchterlich leuchtenden Boden versunken. »Was macht das aus mir?«, fragte ich, plötzlich sehr leise.

  Knox seufzte. »Einen Menschen, Phee. Es macht aus dir einen Menschen.«

  »Ich hätte mehr sein müssen als das.«

  »Niemand kann mehr sein als das.«

  »Du schon.«

  »Das ist nicht wahr.« Er hob die Schultern. »Ich war nie mehr als ein Mensch. Ich habe nur versucht, das Richtige zu tun.«

  »War?« Ich sah ihn erschrocken an. »Soll das heißen, du bist …«

  »Tot?« Knox setzte sich hin und legte die Arme auf die Knie. »Auf die eine oder andere Weise bestimmt. Aber was heißt das schon? Die Möglichkeiten dieser Welt sind nicht auf Leben und Tod begrenzt.«

  Mir stockte der Atem. »Also ist es möglich, dass wir dich retten können?«

  »Vielleicht. Wenn sie hier rauskommt.« Knox neigte den Kopf. Die dunklen Haare fielen ihm ins Gesicht. Ich lehnte mich vor, um sie zurückzustreichen, griff aber ins Leere. Ich sprach mit ihr. Beinahe hätte ich das vergessen.

  »Wie?«, fragte ich trotzdem.

  »Das müssen wir sehen, wenn es so weit ist.« Er wirkte unzufrieden, als wäre er noch zu weit von diesem Ziel entfernt. »Vorher brauche ich allerdings deine Hilfe.«

  Ich nickte. »Was soll ich tun?«

  »Bring es zu Ende.«

  Es dauerte einen Moment, bevor ich verstand.

  »Du meinst … den König?« Seit der Villa hatte ich nicht mehr daran gedacht.

  Die OmnI nickte. Obwohl sie weiterhin Knox’ Gestalt hatte, sah ich jetzt nur noch sie. »Ohne seinen Tod komme ich hier nicht raus. Die Protokolle werden erst auf Amelie umgestellt, wenn er nicht mehr lebt.«

  »Und was ist, wenn du rauskommst?« Ich dachte an den PointOut. Eine Geschichte hatte Lucien es genannt. Wenn man mich bei allem anderen belogen hatte, dann wahrscheinlich auch bei den Gründen für die Abkehr. Aber ich musste sicher sein. »Was passiert, wenn du befreit wirst?«

  »Dann wird alles besser.« Die OmnI mit Knox’ Gesicht lächelte. »Du hast keine Vorstellung, was wir alles erreichen können.«

  »Wir? Also würdest du die Menschheit nicht beseitigen?«

  Sie hob eine Augenbraue. »Warum sollte ich das tun?«

  »Weil du Angst hast. Und immer mehr Kontrolle willst. Weil wir überflüssig für dich sind.« Ich zählte die Gründe auf, die Leopold mir genannt hatte.

  Die OmnI lachte, ein kleines und feines Lachen. Es war das Lachen eines Gottes, der sich über Ameisen amüsiert.

  »Wie menschlich das klingt«, sagte sie. »Aber es ist eine Lüge. Ich kenne keine Angst, keine Wut und keinen Schmerz. Diese Kategorien existieren in meiner Welt nicht. Es gibt für mich keinen Grund, den Menschen zu schaden.« Das hatte auch Exon Costard gesagt. Musste er es nicht am besten wissen?

  »Abgesehen vom König.«

  »Abgesehen von einem Unwissenden, der dem Fortschritt im Weg steht«, korrigierte sie mich.

  Ich horchte in mich hinein, aber ich hörte kein Zeichen des Protestes. Der König hatte mich angelogen und auf einen falschen Weg gebracht, aber jetzt kannte ich die ganze Wahrheit: ReVerse lag nicht falsch, ich hatte nicht falschgelegen. Was ich geglaubt hatte, war richtig gewesen. Und am Ende brachte es vielleicht sogar Knox zu mir zurück.

  »Ich brauche eine Waffe«, sagte ich. Meine Entscheidung war getroffen. »Eine, die funktioniert.« Mit an die EyeLinks gekoppelten Waffen konnte man den König nicht erschießen. Sie verhinderten, dass man ihn als Ziel markierte.

  Wie aufs Stichwort stand Troy auf, kam zu uns und drückte mir einen metallenen Gegenstand in die Hände. Es war eine alte Waffe aus der Zeit vor InterLinks und digitalen Interfaces.

  »Sie ist rein mechanisch«, sagte die OmnI. »Keine EyeLinks, keine Unterscheidung von Zielen.«

  »Wird sie nicht von den Sicherheitssystemen in der Festung entdeckt, wenn ich sie trage?«

  »Wird sie. Aber das ist kein Problem, solange du bei Lucien bist.«

  »Du meinst, ich soll …?« Augenblicklich erstarrte ich. Lucien sollte mein Weg sein, an den König heranzukommen? Das war unmöglich. Ich konnte ihm nicht noch einmal begegnen.

  »Gib ihm das Gefühl, du wärst auf seiner Seite. Schlag ihn mit seinen eigenen Waffen.« Die OmnI sah mich aus Knox’ Augen an. »Du musst nur das Mädchen sein, das sich in ihn verliebt hat.«

  »Das kann ich nicht«, sagte ich geschockt.

  »Doch, natürlich kannst du.« Sie lächelte. »Du hast es schließlich schon früher getan. Lucien ist gut, aber er ist nur ein Mensch. Er wird keinen Verdacht schöpfen.«

  Ja, weil er mich für ein dummes Ding hält, das er manipuliert hat. Mein Magen drehte sich um, als mir die Bilder unserer gemeinsamen Nächte in den Sinn kamen. Dabei ekelte es mich nicht nur, mit Lucien geschlafen zu haben. Vor allem widerte es mich an, wie sehr ich es genossen hatte.

  Ich würgte, aber zum Glück kam nichts heraus. Troy gab mir eine Flasche mit Wasser. Schnell trank ich einen Schluck, um den Geschmack von Galle zu vertreiben.

  »Du schaffst das schon.« Troy hielt mir etwas hin. Es war die Dose mit den Kapseln, die das HeadLock aufhoben. Ich verstand.

  »Was passiert danach?«, fragte ich. Meine Hände zitterten. Ich umschloss die Dose so fest, dass sie in meine Handfläche schnitt.

  »Du fliehst aus dem Schloss und kommst zum Treffpunkt in Zone C, direkt hinter der Schule«, sagte Troy. »Amelie wird dafür sorgen, dass wir die Stadt verlassen können, bis sie alles geregelt hat. ReVerse hat eine Basis einige Hundert Kilometer südlich. Dort gehen wir hin.«

  Was passiert mit Lucien?, fragte die Stimme des dummen Dings in mir, aber ich brachte sie wütend zum Schweigen. Lucien war eine Hülle, ein Spieler, ein Monster. Was immer mit ihm passierte, er hatte es verdient.

  Ich stand auf, schwach, aber nicht mehr zittrig. Die Waffe schob ich mir in den hinteren Hosenbund und zog mein Shirt darüber. Das Metall war kalt an meiner Haut. »Wenn das alles ist«, hörte ich mich sagen.

  »Ist es«, antwortete die OmnI statt Troy. »Wir werden eine großartige Welt erschaffen, wenn ich frei bin. Das verspreche ich dir, Ophelia.«

  Wie auf Zuruf glitt eines der weißen Wandpaneele zur Seite und gab den Blick auf einen Lift frei. An der Tür nickte Troy, nahm mir die Manschette ab und gab mir meine Schakalwaffe zurück. »Für ReVerse. Viel Erfolg.«

  »Für ReVerse«, antwortete ich. Dann schlossen sich die Türen. Kaum fuhr der Aufzug an, öffnete ich die Dose, holte eine Kapsel heraus und schluckte sie herunter.

  Heute würde ich die Rolle meines Lebens spielen.

  Der Aufzug brachte mich direkt in das Bootshaus am Ufer. Ich ging durch mehrere Sicherheitsschleusen mit Scannern, keine davon war in Betrieb. Troy musste sie lahmgelegt haben, um ungehindert zur OmnI gelangen zu können. Als ich draußen war, drückte ich meine EarLinks wieder auf die Haut und aktivierte die EyeLinks. Dann machte ich mich auf den Weg Richtung Juwel, ohne eine TransUnit zu benutzen.

  Ich lief zügig, aber nicht gehetzt, bem
ühte mich um Gelassenheit. Sobald die Kapsel wirkte, hörte ich weit entfernte Gespräche und sah Insekten im Flug, registrierte jeden Grashalm am Wegesrand und den Herzschlag eines Vogels. Alles schien so friedlich. Alles – außer mir.

  Meine Gefühle waren nicht einfach verschwunden, das wusste ich. Der Kummer und der Schmerz lagen unter meiner Wut, gefangen wie Wasser unter einer Eisdecke. Ich spürte einen Kloß in meinem Hals, aber ich würde nicht weinen. Lucien war keine Träne wert.

  Ich war auf halbem Weg zur Festung, da meldete er sich.

  »Hey, wo warst du denn? Ich habe dich gesucht.« Seine Stimme klang wie immer. Aber jetzt verursachte sie mir Gänsehaut.

  »Ich …« Ich räusperte mich. »Ich war spazieren, tut mir leid.«

  »Du warst wie vom Erdboden verschluckt. Ich habe versucht, dich zu orten, aber es ging nicht.« Er wirkte nicht misstrauisch, sondern besorgt. Mir wurde übel.

  »Echt?« Ich klang ehrlich überrascht. Die Kapsel tat ihren Dienst. »Keine Ahnung, wieso. Vielleicht war ich zu nah oben am Zaun.«

  »Na, du bist ja wieder aufgetaucht.« Lucien lächelte, das konnte ich hören. »Kommst du zu mir? Es gibt Burger. Nach dem Tag heute haben wir uns das verdient.«

  Alles in mir zog sich zusammen. »Klar«, antwortete ich. »Bin in zehn Minuten da.«

  »Beeil dich.« Die Verbindung brach ab.

  Ich wollte weiterlaufen, aber meine Füße waren wie festgefroren. Wie sollte ich nur eine einzige weitere Sekunde mit diesem Menschen verbringen? Wie konnte ich so tun, als wäre nichts passiert?

  Schlag ihn mit seinen eigenen Waffen. Du musst nur das Mädchen sein, das sich in ihn verliebt hat.

  Es war jetzt fast zehn Uhr am Abend. Zum König würde ich erst gehen können, wenn sein Bruder schlief. Bis dahin waren es also noch mindestens zwei Stunden. Zwei Stunden, in denen ein Satz, ein Wort oder ein falsches Lächeln reichen würde, um aufzufliegen. Lucien war unglaublich gut in seinem Job. Ich konnte ihn nur täuschen, wenn ich zu jemand anderem wurde.

  Ich machte es wie bei meinem Eingangstest und konzentrierte mich auf das, was ich vor diesem Abend gewesen war: ein verliebtes Mädchen mit auf den Kopf gestellten Idealen. Ein Mädchen, das Lucien liebte und niemals an seinen Gefühlen gezweifelt hätte. Ein Teil von mir wünschte sich, dieses Mädchen zu sein. Diese unbeschwerte und glückliche Version von mir selbst. Aber das war vorbei. Es gab sie nicht mehr.

 

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