Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition)
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Immer unruhiger bewegte ich mich auf der Liege hin und her. Die Fixierungen an meinen Fußgelenken und um meinen Bauch hinderten mich daran aufzustehen, und meine Angst wurde größer. Eine Angst, die nicht normal war und die sie mir mit diesen künstlichen Hormonen injizierten. Alles in mir war auf Flucht eingestellt, doch eine Flucht war unmöglich. Vor meinen Augen verschwammen die Farben zu wirren Szenerien. Die Fotografien an den Wänden der Galerie vor mir wirkten lebendig, abstoßend lebendig auf mich. Graue Alltagsszenen. Ein einsamer Hinterhof, durch den ein roter Ball titschte. Wäsche auf der Leine, die sich nicht bewegte, weil kein Wind an diesen Ort kam, der von hohen, grob verputzten Wänden eingekesselt wurde. Der Ball sprang durch meinen Kopf und titschte immer mehr Erinnerungen an, die ich nicht zulassen wollte, hüpfte enge Treppenstufen hoch bis in unsere Wohnung, rollte unter den Küchentisch, wo bestrumpfte Kinderbeine baumelten. Ich roch das Essen auf dem Herd, meinte sogar, den Hefegeruch von Sara wahrzunehmen. Spürte, wie sie mich am Arm zupfte und mit knöchrigen Beinen auf meinen Schoß kletterte.
»Spiel was für mich! Bitte, Aki, spiel was!«
Meine Finger wollten über die Tasten gleiten, aber ich konnte sie nicht erreichen, weil ich gefesselt war. Kurz blitzte so etwas wie Realität in meinem Kopf auf, dann schloss sich die Linse mit einem Schnipsen. Warme Finger fassten mir an die Brust, tasteten an meinem Hals entlang.
»Isabeau?«, keuchte ich. Wieso zerrte sie an mir? Wieso stach sie mir erneut in den Arm und spritzte noch mehr Gift in meinen Körper? Wieso tat sie mir das an?
Ich wehrte mich. Schlug nach den Klauen, die mich packen wollten, und wartete darauf, jeden Augenblick vom Habicht erdolcht zu werden. Wartete auf das Einstechen in meiner Brust, auf die Füße, die sich festkrallen und erst dann loslassen würden, wenn ich mich nicht mehr rührte, tot war. Tot.
Ich krächzte. Stieß einen Warnschrei aus, damit mein Schwarm sich in Sicherheit bringen konnte. Da erst merkte ich, dass ich mit einem Mal frei war und meine Fesseln von mir abgefallen waren. Ich schoss nach oben und prallte gegen eine Zimmerdecke. Künstliches Licht stach mir in die Augen. Wo war der Habicht? Einen Kampfschrei ausstoßend stürzte ich mich auf das Erste in meiner Umgebung, das sich bewegte, und knallte gegen ein Kunststoffgehäuse.
»Tun Sie was! Der ist ja völlig gestört!«, rief die Stimme, die mich in den letzten Tagen bis in meine Träume verfolgt hatte und die nun von einer Ecke des Raumes zu mir drang. Blind vor Panik stob ich durch den Raum, flog den Doktor an, der mir am nächsten stand, und landete krächzend auf seinem Kopf. Er schlug nach mir. Ich krallte mich in seiner Kopfhaut fest und hackte mit dem Schnabel auf ihn ein. Der Geschmack von Blut lag mir auf der Zunge, als ich eine Hand erwischte, die nach mir schlug.
Etwas Metallenes sauste auf mich zu und explodierte gegen meinen Körper. Dann Schwärze.
»Er hat halluziniert.« Das Gesicht, das sich über mich beugte, wurde von rotbrauner Farbe in Streifen geschnitten. Ich blinzelte, dann erkannte ich, dass es Blut war, das aus dem Haar des Doktors über sein Gesicht gelaufen war. »Sie hätten ihn mit dem Stuhl töten können«, sprach er weiter.
Wassilij wischte sich mit einem Tuch die verschwitzten Finger ab und knüllte es zu einem Ball. Ich schloss die Augen, weil mir sein Anblick Übelkeit verursachte. Dieselben Gesichtszüge wie mein bester Freund Nikolaus – und doch sprach daraus nur Abscheu für mich. Abscheu und eine Art lüsterne Grausamkeit. In seinen Augen lag ein Fieber, das ich nicht einordnen konnte. Nein, je länger ich darüber nachdachte, umso sicherer war ich mir, dass nicht sein Geist fieberte, sondern sein Körper. Er schwitzte. Er hatte schon so geschwitzt, als er das erste Mal in dieser Halle aufgetaucht war. Seine Atemnot, diese blasse Haut, das Fieber …
»War das Suprarenin zu hoch dosiert?«, unterbrach er meine Grübeleien.
Papiere raschelten, und ich hörte, wie die Mine eines Kugelschreibers mit einem Klicken ausgefahren wurde. »Halluzinationen sind keine ungewöhnlichen Nebenwirkungen, Herr Sajenko. Allerdings bin ich wirklich der Meinung, wir sollten ihm ein paar Tage Pause gönnen. Ich kann nicht dafür garantieren, dass er das überlebt, wenn wir ihn in diesen kurzen Intervallen weiterbehandeln. Er könnte eine Psychose entwickeln, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall bekommen. Ich rate dringend von einer weiteren Substitution ab.«
»Heute«, sagte Wassilij. »Wenn es denn unbedingt sein muss, hat er für den Rest des Tages Ruhe, und morgen entnehmen Sie ihm die Probe aus dem Rückenmark. Ich bin sehr gespannt, wie seine Blutstammzellen aussehen werden.« Seine Stimme brach in bellendes Gelächter aus. »Aber verwöhnen Sie ihn nicht!« Sein Lachen entfernte sich und verstummte schließlich hinter einer Tür.
Eine Probe? Aus meinem Rückenmark?
Ich begann zu würgen. Doch in den letzten Stunden hatte ich so gut wie nichts zu essen bekommen und spuckte kaum mehr als Wasser in die Schale, die der Doktor mir hinhielt.
»Wenn Sie bleiben, wie Sie sind, und sich nicht … verwandeln, kann ich Ihnen eine Infusion anlegen. Versprechen Sie mir, dass Sie diese nicht abreißen werden und damit ein Blutbad anrichten, wenn ich die Fixierung weglasse?«
Ich nickte und konnte nicht anders, als über seine Worte abgehackt zu lachen. Als wäre auch nur noch ein Fünkchen Rebellion in mir. Da war nichts mehr außer Kälte und pochendem Schmerz in meinem Kopf.
»Wenn Sie versuchen möchten, etwas zu essen, lasse ich Ihnen ein wenig Suppe und Brot bringen.«
Essen? Das Letzte, woran ich denken konnte, war etwas zu essen. Ruhe. Ich sehnte mich unendlich nach Ruhe, nach Frieden, nach warmen Tönen, die meinem Ohr schmeicheln und meine Seele vergessen ließen, wo ich war.
»Kann ich bitte …« Keuchend holte ich Luft und brauchte mehrere Anläufe, bis ich einen flüssigen Satz sprechen konnte. »Oben auf der Galerie … Ich habe dort ein Klavier gesehen. Kann ich darauf spielen? Bitte.«
Die Augen des Doktors weiteten sich. Ob es Mitleid war, was sich darin spiegelte? Oder hielt er mich für verrückt, für einen Gefangenen meiner Wahnvorstellungen? Ich sah ihm an, dass er versucht war, meine Bitte abzulehnen. Wieso sollte mir auch die Musik wichtiger sein als Essen? Er konnte nicht ahnen, dass sie mich mehr nährte als alles andere. Dass sie mir etwas schenkte, das mir kein Mensch auf der Welt wegnehmen konnte.
»Nun gut.« Er tätschelte erst meinen Arm, dann berührte dieselbe Hand die Wunde auf seiner Kopfhaut. »Ich erkundige mich, ob man das Klavier hier herunterschaffen kann. Aber vorher trinken Sie etwas.« Er goss mir einen Becher Wasser ein und stützte mich, damit ich schlucken konnte.
»Er ist krank«, stieß ich hervor. Als der Doktor nicht antwortete, sprach ich weiter. »Herr Sajenko. Er hat Fieber. Seine Atmung ist nicht normal. Wenn er spricht … Ich bin mir sicher, dass er eine Infektion hat, ich … ich kann es riechen.«
»Ich weiß«, bestätigte der Doktor. Er sah nicht überrascht aus, wenn überhaupt, dann wunderte er sich nur darüber, dass ich behauptete, es riechen zu können. Aber ich war noch nicht fertig.
»Diese Wunde da an Ihrem Kopf«, fragte ich. »War ich das? Habe ich Sie dort verletzt?« Ich musste wahnsinnig sein, dass ich ihn das überhaupt fragte und auch, weil ich nur einen Gedanken daran verschwendete. Es sollte mir im Gegenteil Befriedigung verschaffen, wenn ich ihm wenigstens einen Teil der Schmerzen zurückgegeben hätte, die er mir zugefügt hatte. Aber ich war kein bisschen befriedigt, als der Doktor langsam nickte. Ich verspürte nur Ekel vor mir selbst.
FROSTKADAVER
ISABEAU
Für den Fleischberg in meiner Tasche hatte ich ein Vermögen ausgegeben. Damit ich wegen der Mengen nicht auffiel oder mir unangenehme Fragen gefallen lassen musste, war ich noch gestern Abend in unterschiedlichen Metzgereien gewesen und hatte dort Innereien gekauft. Allein der Gedanke an das Gedärm in den durchsichtigen Beuteln schnürte mir die Kehle zu, aber ich brauchte etwas, das die Rabenkrähen anlocken würde, ohne für die Passanten allzu sichtbar zu sein. Das schloss aus, einen ganzen Kadaver irgendwo abzulegen, auch wenn mir das aus der Sicht meiner täglichen Arbeit im Nationalpark am natürlichsten vorgekommen wäre.
Jaro hatte insgesamt vier Stell
en ausgemacht, die von den Krähen häufig frequentiert wurden, weil sie einerseits einen guten Überblick boten, andererseits abseits genug lagen, um vor Menschen geschützt zu sein. Zwei davon hatte ich bereits mit Fleisch ausgestattet. Es gab kaum einen Vogel, der so scheu war wie eine Rabenkrähe. Selbst wenn ich das Lockmittel optimal platziert hatte, bedeutete das noch lange nicht, dass die Vögel sich freudig draufstürzen würden. Es konnte passieren, dass sie die Stelle über Stunden beobachteten, ohne sich dem Aas zu nähern. Krähen waren verdammt misstrauische Biester, das musste man ihnen lassen.
Mit eiligen Schritten schlitterte ich über das nasse Kopfsteinpflaster in Richtung Flussufer. Die Temperaturen waren über Tag gestiegen, dafür regnete es nun in Strömen. Direkt an der Moldau standen mehrere Gebäude, und vor dem Hotel Dvořák ragte ein mit alten Eichen bewachsenes Stück Land in den Fluss hinein. Kies führte ans karge Ufer, wo die Moldau durch eine Art Schleuse rauschte. Ich hatte gesehen, dass hier ab und zu Maler standen, die grobe Skizzen der Burg auf Papier warfen, von der ein Teil direkt gegenüber zu sehen war. Der Platz war nahezu perfekt. Und bei dem fiesen Wetter heute würde sich freiwillig auch kein Mensch hier ans Ufer wagen. Die Nässe ging mir jetzt schon durch und durch. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich mein Parka komplett mit Wasser vollgesogen haben würde.
Ich schlug meinen Kragen hoch und postierte mich hinter einem der Bäume, damit man mich sofort sehen konnte. Der Plan war, dass Jaro die anderen Krähen mit Lockrufen auf den angeblichen Kadaver aufmerksam machen würde. Auf diese Art hoffte er, ihr Vertrauen zu gewinnen und ihnen das Codewort einbläuen zu können. Jaru.
Das war der Laut gewesen, den Jaro mir gegenüber immer geäußert hatte, als ich noch nicht wusste, dass er ein Mensch war und mir damit nur seinen Namen verraten wollte. Und außerdem erschien es uns leicht zu lernen. Jaru.
Wir hofften beide, dass Alexej die Rufe der Rabenkrähen hören würde, sollte er immer noch hier irgendwo in dieser mittelalterlichen Stadt sein. Milo hatte den Pathfinder Tag und Nacht bewacht, immer abwechselnd mit den anderen Raben des Schwarms, und er stand unberührt an derselben Stelle. Das zerschlagene Fenster hatten wir abgeklebt, damit nicht sofort die Polizei darauf aufmerksam werden würde. Bisher hatte ich den Gedanken an die Leiche im Kofferraum auch erfolgreich verdrängt. Vor allem den Gedanken an die Gerüche, die sich über kurz oder lang bilden mussten und alles verraten würden. Nein, Isa, nicht daran denken!
Meine Schuhe steckten im sich auflösenden Schneematsch fest, als ich die Tasche absetzte und einen der Beutel herauszog, durch den es in allen erdenklichen Fleischfarben schillerte.
Ein Flattern über mir ließ mich den Blick heben. Ich erkannte Jaro an der typischen Art, wie er seinen Kopf schräg hielt und mit dem schlanken Schnabel auf und ab wippte. Er krähte leise, wie um mich anzutreiben.
»Ist ja schon gut. Ich muss die Tüte erst mal irgendwie aufkriegen«, presste ich heraus und unterdrückte ein Ekelgeräusch, als ich mit dem Daumen das Plastik durchgedrückt hatte und ungewollt in die glitschigen Innereien fasste.
»Krii, kriii!«, krähte Jaro lang gezogen, und wie immer kam es mir vor, als würde er sich mit diesen Lauten über mich lustig machen.
»Du bist keine große Hilfe, Jaro«, ließ ich ihn wissen. »Sag mir lieber mal, wo ich das drapieren soll! Ich kann das Zeug ja schlecht über die Äste hängen wie Lametta.« Igitt! Aber den Krähen würde diese Art von Weihnachtsbaum bestimmt gefallen. Ich verzog das Gesicht. Jaro hüpfte von seinem Zweig herunter, der ohne sein Gewicht auf und ab federte, und landete direkt vor meinen Füßen im Schneematsch.
»Das optimale Wetter für ein Bad, oder?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen, als ich sah, wie er sein Gefieder aufplusterte und mit den dünnen Beinchen angewidert durch die Nässe stakste. Das hatte so gar nichts Rabenhaftes an sich und ließ mich schmunzeln. »Du bist verweichlicht. Noch vor ein paar Wochen hätte dir das gar nichts ausgemacht. Liegt bestimmt daran, dass du so oft in Daunenbetten schläfst«, neckte ich ihn. Doch sogleich verging mir die Lust auf Scherze, als mir der Blutgeruch in die Nase stieg. Okay, auch mir hätte das noch vor ein paar Wochen kaum etwas ausgemacht. Aber nach dem Tod des Russen, der Alexej mit dem Pfeilgift getroffen hatte, und den blutigen Bildern, die mir der Schwarm Rabenkrähen ins Gehirn gepflanzt hatte, sprang mein Kopfkino sofort an, sobald ich etwas wahrnahm, das nach Eisen roch.
Mit wenigen Flügelschlägen war Jaro auf einer Ansammlung von Findlingen gelandet, die halb aus dem Wasser ragten, von denen aber zumindest einer eine glatte Fläche bot, um das Gedärm abzulegen. Mit dem Schnabel stocherte er in dem Moosbewuchs herum und nickte immer wieder in meine Richtung. »Isabb, Isabb«, blubberte er heraus.
Jaro war unglaublich. Ich hatte sogar schon gehört, wie er als Rabe mein Handyklingeln imitiert hatte. Seine Fähigkeiten, Laute nachzuahmen oder sogar ganze Wörter bis hin zu Zwei-Wort-Sätzen, die ich tatsächlich verstand, erstaunte mich immer wieder. Natürlich waren auch andere Rabenvögel sehr begabt darin, doch Jaro war in meinen Augen etwas ganz Besonderes. Ich nahm mir vor, ihm das bei Gelegenheit einmal zu sagen. Vor allem, nachdem Sergius ihn so runtergeputzt hatte.
Nach unserem Streit hatte der Mistkerl sich nicht wieder blicken lassen und war die ganze Nacht fortgeblieben. Ich war wachsam, rechnete ich doch bei Sergius mit allem. Ich traute ihm durchaus zu, dass er, wenn ich es nicht mehr erwartete, in das Hotelzimmer einbrach. Sturzbetrunken, gesättigt von seinen Eskapaden, aber sicher nicht besser gelaunt als vorher. Irgendwann würde er vielleicht begreifen, dass seine Aggressionen, seine Rücksichtslosigkeit, die Art, wie er an sich reißen wollte, was man ihm nicht freiwillig schenkte, ihn nicht glücklich machen konnten.
Mit ausgestrecktem Arm balancierte ich über die groben Steine, die das Ufer befestigten. Jaro krähte ungeduldig, und ich beschwichtigte ihn damit, indem ich ein blutiges Stück aus der Tüte herauszog und ihm hinwarf. Erst schnarrte er empört, dann schnappte er es sich doch und schlang es an einem Stück hinunter. Ich warf einen Kontrollblick hinter mich, um mich zu vergewissern, dass wir keine Zuschauer hatten, dann kippte ich die Innereien auf den nassen Stein und stülpte den Beutel um, damit restlos alles herausfiel.
»Aber nicht, dass ihr eure guten Vorsätze vergesst und alles allein auffuttert. Vergiss dich und deinen Schwarm und zeigt mal, wie selbstlos ihr sein könnt.« Ich zwinkerte ihm zu, stopfte die leere Tüte zurück in die Tasche und zog den Reißverschluss zu. Meine Finger waren klebrig von Blut. Ich wusch sie mit etwas schmelzendem Schnee ab und trocknete meine Hände, indem ich sie in meinen warmen Jackentaschen vergrub, denn von außen war mein Parka bereits restlos feucht.
Ohne noch einen weiteren Blick auf das Festmahl zu werfen, war Jaro vom Stein heruntergehüpft und streckte seine Flügel ruckartig nach hinten. Ein kurzes Flattern, und er stieß einen lockenden Schrei aus, der sich wie ein lang gezogenes »Tschieh« anhörte. Eine Sekunde später konnte ich ihn nicht mehr sehen.
Der letzte Ort, den Jaro ausgesucht hatte, lag in der Altstadt, aber in einer Straße, auf die lediglich die Hintereingänge verschiedener Restaurants zeigten. Ich warf einen Blick auf mein Handydisplay. Wir wollten bis heute Mittag alle Stellen mit Lockkadavern ausgestattet haben, aber was bedeutete schon eine Zeitangabe, wenn man mit Raben zu tun hatte? Sie kannten keine Uhrzeit. Und auch wenn Jaro durchaus dazu in der Lage gewesen wäre, die Kirchturmuhr im Auge zu behalten, so wusste ich doch, wie vergesslich er in dieser Hinsicht war, wenn er so wenig menschlich war. Er maß seine Zeit nicht in Stunden, Minuten oder Sekunden, sondern in »Zeit für Nahrungssuche« oder »Keine Zeit für Nahrungssuche«. Allenfalls gehörte noch »Schlafenszeit« zu seinem Repertoire. Denn jeden Abend sammelte sich der Schwarm, kurz bevor die Dämmerung anbrach und der Himmel sich blau färbte, was man im Winter besonders gut beobachten konnte. Dann klebten Trauben von Vögeln in den kahlen Bäumen, und die Äste hingen schwer herab, nur um im nächsten Augenblick federnd die Tiere freizugeben.
Der Regen lief mir den Jackenärmel hinein, als ich meine Tasche schulterte, und ich schüttelte die Gänsehaut ab, die mir an den Beinen hochkroch. Kaum ein Mensch war hier in
dieser Gasse zu sehen. Ich kam an einer Kunstgalerie vorbei, deren Fensterfront vollständig abgeklebt worden war. Sicher wurde hier umdekoriert und neue Gemälde aufgehängt, die man vor der Eröffnung der Ausstellung nicht sehen sollte. Irgendwo spielte Musik. Nicht die Art Musik, die aus den Bars dröhnte oder den Jazzkneipen, von denen es hier nicht wenige gab. Tschechen hatten offenbar eine Schwäche für Jazz, stellte ich fest. Aber das hier hörte sich klassisch an. Ich blieb an der Häuserecke stehen, kurz bevor die Gasse in eine Unterführung überging, an deren Wänden Filmplakate und Veranstaltungshinweise pappten.
Diese Musik …
Mit der freien Hand rubbelte ich mir über den Arm, der die Tasche hielt, weil ich zu frösteln begann.
TOTENTANZ
ALEXEJ
Der Regen rann in Bächen an den Scheiben herunter. Ich klappte den Klavierdeckel hoch und ließ meine rechte Hand lautlos über die Elfenbeintasten gleiten, während von draußen das Tripsch-Trapsch zu hören war, das von einem Fußgänger herrührte. Vorsichtig setzte ich mich auf den Klavierhocker, immer in der Sorge, dass der Doktor es sich anders überlegen und das Instrument doch wieder fortschaffen lassen würde, allein um mich zu quälen. Aber er tat es nicht. Er saß in einer Ecke des Raumes an seinem Schreibtisch, eine Kladde auf dem Schoß, ganz vertieft in seine Papiere. Oder er war nur gut darin, sein Interesse zu verbergen. Seine gerade Nase zeigte stur auf das Blatt vor ihm. Heute hatte er sich nicht frisch rasiert, und deshalb wurde eine Narbe an seinem Kinn sichtbar, die mir zuvor nicht aufgefallen war.