Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition)

Home > Other > Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition) > Page 15
Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition) Page 15

by Nikola Hotel


  Das Yamaha-Klavier war schon älter und der Lack an vielen Stellen abgerieben, aber nichts war unwichtiger als das, als ich die ersten sanften Töne von Rachmaninovs zweiter Klaviersonate anschlug. Ich liebte den Anfang des zweiten Aktes, wenn behutsam die Tonart wechselte und sich sanft wiegend in e-Moll bewegte. Alles um mich herum verschwand, und mein Herz schlug ruhiger, als trüge mich die Musik auf eine Insel. Eine Insel des Friedens, der Schönheit und der Liebe, auf der nichts anderes existierte als Töne. Keine Schmerzen, keine Angst, kein Hunger und erst recht kein Gift, das mein Herz marterte. Ich wechselte ins romantische G-Dur. Ich hatte keine Notenblätter, und die Noten waren auch nicht in meinem Kopf – allein meine Finger schienen zu wissen, was sie als Nächstes anschlagen mussten. Verschwunden waren die Gedanken an den Morgen, an dem man mich nackt auf die Liege geschnallt hatte. Verschwunden der Schmerz des Einstiches an meinem Brustbein, als der Doktor eine Probe aus meinem Knochenmark entnahm, um jedes Geheimnis meines Rabenwesens zu erforschen. Nur noch der Verband erinnerte mich daran, wenn ich ihn berührte. Wenn ich den Oberkörper bewegte, kratzte er an dem schwarzen T-Shirt, das man mir gegeben hatte. Deshalb hielt ich mich ruhig und feierte die Musik, die mir half, die Hoffnung zu bewahren. Feierte ich sie wie einen Glauben. Ich kehrte zu e-Moll zurück, und in diesem dynamischen Höhepunkt füllte sich alles in mir mit dieser Stärke an, die daraus sprach. Quoll mir das Herz über. Ich wusste, dass die Musik nicht bloß eine Religion ist – sie ist Gott.

  Meine Finger glitten kraftlos von der Klaviatur herab, nachdem ich den Satz mit der Rückkehr des Non allegro vom Anfang beendet hatte. Und sofort packte mich die Stille. Riss an mir wie ein Sturm, der einem am Mantel zerrt. Also begann ich von vorne. Und danach noch einmal und noch einmal. So lange, bis der Doktor sich von seinem Stuhl erhob und von mir verlangte aufzuhören.

  »Sie brauchen eine Pause.«

  Ich achtete nicht auf sein Gerede. Seine Stimme war mir lästig, hinderte mich nur daran, wieder in den weichen Kokon der Musik zu schlüpfen. Mit einer Handbewegung wischte ich seinen Einwand beiseite. Er sollte mich nicht stören, sollte mich verdammt noch mal nicht unterbrechen. Ich wollte diese Realität nicht.

  »Wenn Sie nicht bald aufhören und etwas zu sich nehmen, dann klappen Sie mir noch zusammen. Wie wollen Sie den morgigen Tag überstehen, wenn Sie heute bis zur Erschöpfung spielen?«

  Abrupt hörte ich auf. Was war am nächsten Morgen anders als an diesem oder den vergangenen vier Tagen? Hatte Wassilij sich noch weitere Foltermethoden für mich überlegt? Gab es überhaupt etwas, das er mir noch nicht angetan hatte? Was hätte ich ihm denn noch geben können, wo er wirklich jede Methode angewandt hatte, die mir einfiel?

  Doch ich wusste nichts von diesem kranken Geist, und nur weil meine Fantasie an dieser Stelle aussetzte, bedeutet das noch lange nicht, dass Wassilij mit seinen Untersuchungen am Ende war. »Was will er denn noch von mir?« Meine Finger verharrten auf den Tasten. »Eine Spermaprobe? Oder sollen Sie morgen früh damit anfangen, mein Gehirn zu sezieren?« Bitter lachte ich auf.

  Der Doktor schwieg. Schwieg lange. So lange, dass mir graute. Als ich mich zu ihm umwandte, meinte ich, so etwas wie Kummer in dem ansonsten maskenhaften Gesicht wahrzunehmen. Seine Augen lagen tiefer als sonst in dem alternden Gesicht, und seine Hände nestelten an der Knopfleiste des Kittels, den er übergeworfen, aber nicht geschlossen hatte.

  »Wir haben Ihre Stammzellen aufbereitet und isoliert. Herr Sajenko war damit sehr zufrieden. Wahrscheinlich können Sie nach der nächsten Untersuchung endlich nach Hause.«

  Wir wussten beide, dass er log. Ich nahm es ihm nicht übel.

  »Es wird nicht einmal ein Anästhesist anwesend sein müssen. Ich kann Ihnen versprechen, dass Sie davon kaum etwas spüren werden.«

  Ich sprang so hastig auf, dass ich den Klavierhocker umstieß. Das nackte Grausen hatte mich mit Habichtskrallen gepackt. Das, was ich ihm als Absurdität an den Kopf geworfen hatte, schoss nun wie ein Bumerang zu mir zurück. Nicht schmerzhaft? Ich öffnete den Mund, um ihm das zu sagen, doch in meinem Kopf setzte ein Summen ein, das mich dazu brachte, mir die Hände auf die Ohren zu pressen. Die Lippen des Doktors bewegten sich, aber ich hörte nichts außer diesem surrenden Schwarm in meinem Kopf. Ich schwankte und stützte mich am Klavier ab. Der Doktor war mit einem Satz bei mir und packte mich an den Schultern. Bei seiner langen, fast schlaffen Gestalt hatte ich ihm nicht so viel Kraft zugetraut.

  »Wir werden Ihr Gehirn nicht anrühren«, sagte er und betonte jedes Wort genau. »Aber wir brauchen etwas Nervenwasser von Ihnen, um den Verdacht auf bestimmte Antikörper auszuräumen. Um den Liquor zu entnehmen, ist nur ein kleiner Einstich im Bereich der Lendenwirbel nötig. Das ist weniger schmerzhaft als das, was Sie bisher erdulden mussten. Ich verspreche es Ihnen. Und im Grunde dient es ja auch Ihnen, wenn Sie anschließend wissen, was mit Ihnen los ist.«

  Wollte er mir damit weismachen, sie täten mir einen Gefallen, indem sie mich wie einen Alien auseinandernahmen? Ich unterdrückte den Drang, seinen Schädel gegen den Klavierdeckel zu schlagen. Atmen. Nur ruhig weiteratmen und keinesfalls zeigen, wie sehr eine Beklemmung mich beherrschte. Aber der Doktor war nicht so ein Dummkopf, wie ich gedacht hatte. Seine Augen nahmen jede Kleinigkeit auf, auch das leichte Zucken meines Mundwinkels, als ich das Rabenkrächzen hörte.

  Es erscholl erst vereinzelt, dann wiederholte es sich wie ein Kanon. Mehr und mehr Stimmen kamen hinzu und übertönten das Summen in mir, das vom Rauschen meines Blutes stammte. Jetzt spitzte auch der Doktor die Ohren und ließ meine Schultern los. Er durchmaß die Galerie, bis er am Fenster angelangt war, doch durch das Papier ließen sich nur Licht und Schatten erkennen, keine genauen Konturen und erst recht nicht der Ursprung des Gekrächzes.

  Hinter meinen Lidern flatterte es.

  Noch nie war mir das Gefühl so willkommen wie in diesem Moment. Es vermischte sich mit der Hoffnung, die in mir anwuchs wie ein Gebirge aus Schaum.

  Ich war nicht mehr allein.

  Das, was ich hörte, waren keine Warnschreie, kein Ruf nach Futter und auch nicht der Lockruf eines Schwarmmitglieds. Die Stimmen waren mir völlig fremd. Doch sie imitierten etwas, das mein Rabenherz aufbrechen ließ wie eine Knospe.

  »Jaru«, krächzten sie. Immer wieder »Jaruuu«.

  Der Doktor begann, an einer Ecke des Fensters ein Loch in das Papier zu knibbeln, und presste sein Gesicht gegen die Scheibe. »Was?«, fragte er laut. »Was zum Henker ist da draußen los?« Hektisch riss er an dem Papier, bis er ein Guckloch geschaffen hatte, das einen Blick auf die regennasse Scheibe ermöglichte.

  Mein Herz trommelte. Ein sehnsuchtsvolles Ziehen in meiner Brust verriet mir, dass sich kleinste Adern mehr und mehr verästelten und ihren Weg durch meinen Körper bahnten. Ohne das künstliche Adrenalin in meinem Blut baute sich auch kein Kopfschmerz in mir auf, sondern nur eine erwartungsvolle Erregung. Mein Oberkörper krümmte sich. Wellenartig verkrampften sich meine Muskeln und entspannten sich wieder. Nur zu gern gab ich nach, und innerhalb von Sekunden fiel meine Kleidung von mir ab, sackte auf dem Fußboden zusammen. Ich streckte meine Flügel aus, um mich aus dem Kleiderhaufen zu befreien, reckte den Schnabel und wiederholte den Laut, den die Rabenkrähen draußen unermüdlich wiederholten.

  »Jaruu!«

  Der Doktor fuhr herum und schlug mit der flachen Hand gegen die Scheibe. Mit einem Blick erfasste er, was sich hier abspielte. Dass das Rabengekrächz mehr zu bedeuten hatte, als jeder Spaziergänger dort draußen vermuten würde. Er fingerte sein Handy aus der Kitteltasche und tippte auf das Display, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ich hatte mich inzwischen ganz befreit und auch den Verband verloren, der an meiner Brust geklebt hatte und nun auf meinem Gefieder keinen Halt mehr fand. Ich schlug die Flügel nach hinten und stieß mich ab. Erst schlingerte ich, dann gewann ich mein Gleichgewicht zurück und flatterte vor der Scheibe, um meine Antwort herauszukrächzen.

  »Aki«, krähte ich. »Akiiii!«

  Wenn ich Glück hatte, würden sie mein Rufen aufnehmen. Wenn ich Glück hatte und die Rabenkrähen gute Laune, verbesserte ich mich. Ich stieß mit dem Schnabel gegen die Scheib
e. Tockte dagegen wie ein Specht. »Akii! Akii!«

  Unter mir hasteten Schritte. Das Tuten eines Freizeichens schallte aus dem Mobiltelefon. »Da draußen spielt sich etwas sehr Seltsames ab, Herr Sajenko«, haspelte der Doktor. »Hören Sie das? Das ist doch nicht normal.« Er lauschte in den Hörer, aber ich hatte nicht vor, auf seine nächste Reaktion zu warten. Wie wild pockte ich gegen das Fenster. Doch immer wieder krächzten dieselben Stimmen, die Jaros Namen imitierten. Sie hörten mich nicht. Verflucht, sie hörten mich einfach nicht! Das durfte nicht wahr sein! Dann brach die Stille über mich herein. Als hätte man einen Faden durchtrennt, war kein Laut der Raben mehr zu hören.

  »Akii«, krähte ich noch einmal. Hilflos. Hoffnungslos.

  »Gott sei Dank«, murmelte der Doktor. Er fuhr sich mit dem Handballen über die Stirn und lachte erleichtert auf. »Da fühlt man sich fast wie in einem Hitchcockfilm. War nur ein blinder Alarm, Herr Sajenko … Ja, das werde ich.« Immer noch nickend legte er auf.

  Ich ließ von der Scheibe ab und landete auf dem Infusionsständer, der neben der Liege stand. Das Metall war rutschig, und flügelschlagend versuchte ich, das Gleichgewicht darauf zu halten. Schließlich krallte ich mich fest und kämpfte gegen die Enttäuschung an, die über meinen Kopf schwappte. Sie haben mich nicht gehört. Wahrscheinlich hatten sie den Namen nur irgendwo aufgeschnappt und ihn ohne Grund wiederholt. Es bedeutete nichts. Gar nichts.

  Der Doktor hatte nach seiner Kladde gegriffen und machte sich Notizen in meiner Krankenakte. Patient zeigt Erregung bei akustischen Reizen. Patient reagiert stark auf Rabenlaute und verwandelt sich.

  Was würde er dann morgen früh darunter notieren? Patient wehrt sich nicht mehr gegen Liquorentnahme? Patient zeigt sich kooperativ? Patient befindet sich in einem Zustand der Apathie? Patient fliegt im psychotischen Wahn immer wieder gegen die Fensterscheibe?

  Patient anschließend leider seinen Kopfverletzungen erlegen?

  Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr verblasste die Resignation. Wut kochte in mir hoch. Eine mächtige Wut und das unerwartete Verlangen, etwas zu zerstören. Doch ich drängte die Hitze zurück, ließ ihr gar nicht die Gelegenheit, sich auszubreiten. Ich musste klar denken. Ich wollte etwas zerstören, ja, dachte ich kaltblütig, doch dafür würde ich meine Hände brauchen. In Seelenruhe ließ ich mich zu Boden gleiten und machte ein paar Schritte, als spazierte ich nur zu meinem Vergnügen durch die Ausstellung. Der Infusionsständer wäre sicher perfekt geeignet, jemandem den Schädel einzuschlagen.

  Obgleich der Gedanke mich schockierte, wurde mir klar, dass mein Trieb zu leben stärker war als meine Abscheu vor Gewalt. Ich musterte den Doktor, schätzte seine körperliche Verfassung ein, die vermutlich besser war als meine. Die letzten Tage hatten mich geschwächt, aber er war wesentlich älter als ich, und wenn es mir gelang, ihn zu überrumpeln, dann würde ich ihn ohne Probleme überwältigen können.

  Doch was dann?

  Wassilij war sich offenbar sehr sicher, dass mein Kampfgeist gebrochen war. Zumindest hier im Ausstellungsraum gab es weder Wachleute, noch hatte ich die Jäger wiedergesehen. An der Decke hingen insgesamt sechs Kameras, die ursprünglich für die Überwachung der Kunstgegenstände gedacht gewesen sein mussten. Drei waren auf die hohen Wände gerichtet, eine zeigte auf die Fensterfront und Nummer fünf richtete sich auf die Tür, vor der ein Gitter heruntergelassen worden war. Selbst mit aller Kraft der Verzweiflung konnte ich mir den Versuch sparen, dieses Gitter zu zerstören. Die sechste Kamera fing den Gang oben auf der Galerie ein. Ich schätzte, dass lediglich die Treppe, die nach oben führte, auf keinem Bildschirm zu sehen war.

  Desinteresse vortäuschend hüpfte ich in eine Ecke des Raumes, in der sie einen Wassernapf für mich aufgestellt hatten, und begann mir das Gefieder zu putzen. Mein Herzschlag war ein einziges Trommelfeuer. Während ich den Schnabel in das Wasser tauchte und dann den Hals reckte, um es gluckernd meine Kehle hinunterfließen zu lassen, beobachtete ich, wie der Doktor seinen Platz am Schreibtisch wieder einnahm. Ob er müde war?

  Wer genau mich in den vergangenen Nächten überwacht hatte, wusste ich nicht, denn jedes Mal hatte man mir Schlafmedikamente verabreicht, die mir Traum und Wirklichkeit genommen und nur ein dumpfes Gefühl hinter meiner Stirn zurückgelassen hatten. Was ich aber ganz sicher wusste, war, dass der Doktor in seiner Kitteltasche neben seinem Mobiltelefon auch einen Schlüsselbund beherbergte. Die Frage war jedoch nicht, ob einer der Schlüssel für die Glastür passte, sondern nur, ob hinter der weißen Seitentür, durch die Wassilij hereingelangt war, Wachpersonal wartete. Leider hatte ich keine Möglichkeit, das vorher herauszufinden. Und erst recht nicht, wohin diese Tür führte.

  Geräuschlos flog ich auf, segelte einmal durch den Raum, um die Aufmerksamkeit des Doktors wiederzuerlangen, bevor ich auf dem Infusionsständer landete und den Schlauch durchbiss, der daran baumelte. Mit dem Schlauch im Schnabel landete ich auf der Treppe zur Galerie, die von keiner Kamera eingefangen wurde. Ich ließ den Schlauch vor meine Füße fallen und gurrte.

  Der Doktor stand überrascht auf. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln, als hätte er für einen Augenblick vollkommen vergessen, wer sich hinter der Rabengestalt verbarg. Als wäre ich nur ein Vogel und er ein Verhaltensforscher, der sich über das kuriose Benehmen eines Raben wunderte. Als wäre das alles nur ein Spiel.

  »Was willst du denn mit dem Schlauch?« Seine Beine setzten sich in Bewegung. Und beinahe zeitgleich setzte das Rabengeschrei von draußen wieder ein.

  Ein Lärm, der von einem riesigen Schwarm herrühren musste, ertönte auf der Straße. Es krächzte, krähte, zeterte. Und immer wieder waren zwei Silben zu hören, die mir einen freudigen Schreck versetzten. »Akii, Akiiii!«, krächzten die Raben. Und ich war mir sicher, dass ich einen davon wiedererkannte. Milo, dachte ich erleichtert. Ich hatte Milo gehört.

  Immer neue Stimmen gesellten sich dazu. Die Schreie schwollen an, wiederholten sich, stachelten sich gegenseitig auf, lauter zu werden. Schriller. Ein seltsamer Kanon, der jedem Menschen einen Schauer über den Rücken laufen lassen musste. Der Doktor blieb direkt vor der Treppe stehen und sah sich unschlüssig um. Das Licht hinter der Papierabdeckung verdunkelte sich. Schwarze Silhouetten tauchten auf. Wie ein grausiges Schattentheater huschten die Raben am Fenster vorbei.

  »Was um Himmels willen …« Der Doktor verstummte. In seinem Nacken bildeten sich Schweißperlen, die seine dunklen Haare kräuselten und im Kittelkragen versickerten.

  Mehr und mehr Vögel tauchten auf. Wie Wellen tosten sie vor dem Fenster, schaukelten hin und her, hielten den Blick des Doktors gefangen, der der Bewegung wie hypnotisiert folgte.

  Absolut lautlos stieß ich mein Gefieder von mir ab. Flaumfedern segelten durch die Luft, als ich mich zu meiner menschlichen Größe aufrichtete, den durchsichtigen Infusionsschlauch in den Händen. Auch der Doktor sah es. Er bückte sich und hob eine der schwarzen Federn auf, betrachtete sie fasziniert, während die Rabenvögel zu einem Choral aus Rabenkrächzen anstimmten.

  »Akii, Akiii!«

  Der Doktor schüttelte sich die Feder von der Handfläche, während ich die beiden Enden des Schlauchs einmal um meine Hände schlang.

  Das, was wir hörten, war kein normaler Rabengesang. Es war der Chor zu einer Totenmesse. Ob der Doktor in diesem Moment ahnte, dass dieser Chor nur für ihn sang?

  HERZGEFÄNGNIS

  ISABEAU

  Diese Musik! Ich war die wenigen Schritte zurückgelaufen und drängte mich an die Hauswand, um wenigstens ein bisschen vor dem pladdernden Regen geschützt zu sein. Doch der Dachüberstand war zu schmal, um mich vernünftig unterzustellen. Die Schuhspitzen meiner Boots waren jetzt schon durchgeweicht, und ich krümmte die Zehen in der Hoffnung, dass sie so weniger schnell nass werden würden.

  Ob da jemand nur eine CD abspielte? Schritt für Schritt schob ich mich an den Fensterscheiben entlang und kam mir dabei vor wie beim Kindergeburtstag, wenn man Topfschlagen spielte. Kalt, ganz kalt. Warm, wärmer, noch wärmer, heiß, heiß! Die Melodie kam definitiv hier aus dieser Kunstgalerie. Inzwischen war ich mir sicher, dass dort jemand live spielte, denn es war keine Begleitung zu
hören, nur die melancholischen Klänge des Klaviers. Mir zog sich das Herz zusammen bei dem Gedanken an Alexej. Was würde ich dafür geben, stattdessen ihn spielen zu hören. Jetzt erkannte ich auch das Stück. Alexej hatte es mir schon öfter vorgespielt. Es war eine Sonate in drei Akten aus dem Jahr 1913. Alexej spielte immer die lange Fassung des Originals. Ich konnte ihm stundenlang zuhören, wenn er nur von seiner Musik sprach, so sehr liebte ich seine Leidenschaft dafür, deshalb erinnerte ich mich auch daran, was er mir über das Stück erzählt hatte. Rachmaninov hatte es in den Dreißigerjahren deutlich gekürzt, weil er einige Passagen für überflüssig hielt. Doch für Alexej gab es nichts Überflüssiges. Und auch dieser Pianist spielte die lange Fassung, war ich mir plötzlich sicher. Der Gedanke, der sich nun in mir bildete, war idiotisch, unrealistisch, viel zu hoffnungsvoll. Und trotzdem – es könnte genauso gut Alexej sein. Es könnte Alexej sein.

  Einmal gedacht, ließ sich diese Hoffnung nicht mehr zurückdrängen. Es könnte Alexej sein.

  Isa, du spinnst!, sagte ich mir. Das hier war nicht der Ort, jemanden festzuhalten. Das war das genaue Gegenteil von einem Gefängnis. Kein Keller, keine Dunkelheit, keine Gitterstäbe. Aus irgendeinem Grund erwartete ich, dass Wassilij Alexej in irgendeinem alten Gemäuer in Ketten hielt. Da ging wirklich meine Fantasie mit mir durch. Leider verstand ich viel zu wenig vom Klavierspielen und würde Alexejs Stil vermutlich nicht unter tausend anderen heraushören. Aber es könnte Alexej sein. Es könnte.

  Die Rabenschreie erinnerten mich daran, dass ich zum nächsten Treffpunkt laufen musste. Sie riefen immerzu Jaros Namen, was mir einen freudigen Hüpfer versetzte. Es funktionierte! Jaros Plan schien tatsächlich aufzugehen.

 

‹ Prev