Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition)

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Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition) Page 16

by Nikola Hotel


  Ich schirmte meine Hand vor dem Regen ab und sah in den grauen Himmel. Immer mehr Rabenkrähen strömten zusammen. Nur widerwillig löste ich mich von der Musik und trat unter dem Dachvorsprung hervor. Ich hatte es eilig, zum letzten Platz zu kommen. Vermutlich wartete Jaro schon auf mich. In der Unterführung war ich vorübergehend vor dem Regen geschützt, dann tauchten die Gebäude auf, die Jaro mir beschrieben hatte und die mich an Lagerhallen erinnerten. Einige zerbeulte Mülleimer standen an der Hauswand. Kein Platz für Touristen, aber definitiv ein Platz für Raben.

  Wie mit Jaro vereinbart, kippte ich den letzten Beutel einfach hinter den Mülleimern aus. Sollte das jemand sehen, der hier arbeitete, würde er vermutlich einen Ekelanfall kriegen. Mir war das egal. Hier war die Kehrseite der Restaurants und Sehenswürdigkeiten, die graue Seite, und die Straße lag so sehr im Trüben, dass sogar am helllichten Tag die Straßenlaternen angesprungen waren. Über mir ertönte erneut Rabengeschrei. Da ich nicht damit rechnete, dass sie das »Aas« bereits entdeckt hatten, sah ich erst nach oben, als der Himmel sich noch mehr verdunkelte.

  Sakra! Vor Schreck machte ich einen Satz rückwärts und stieß mit der Schulter an ein Treppengeländer. Der ganze Himmel war schwarz gesprenkelt. Das mussten Hunderte von Rabenvögeln sein! Noch waren sie in großer Höhe, aber sie stießen herab. Der Lärm, den sie verursachten, war ohrenbetäubend und zerrte mir an den Nerven wie Fingernägel, die über eine Schiefertafel kratzten. Ich hielt mir die schmerzende Schulter und zog den Kopf ein, als einige der Tiere so tief nach unten stießen, dass ich sie mit dem ausgestreckten Arm hätte berühren können.

  Doch sie machten mir keine Angst. Irgendwo in der Luft schwirrte Jaro mit dem Schwarm. Auch wenn ich die Kolkraben in dem wilden Geflatter nicht ausmachen konnte, so fühlte ich mich bei dieser Gewissheit absolut sicher. Sie waren nicht wegen mir hier, sie suchten Alexej. Und dann stimmten sie ein Konzert an. »Aki, Akiii!«, krähten sie wieder und wieder, und mir rutschte das Herz in die Hose.

  Aki war Alexejs Spitzname. So hatte ihn seine Großmutter genannt, die Familien der anderen Raben kannten ihn unter diesem Namen, und nun rief ein unfassbar großer Schwarm ihn immer und immer lauter. »Akiii«, schallte es von den Backsteinmauern wider. »Akiii«, tönte es über den Fluss, als immer mehr Vögel in unsere Richtung strömten. »Akiii«, echote es aus der Unterführung, durch die ich eben gegangen war.

  Das war kein planloses Herumirren – die Raben hatten ein Ziel.

  Ich ließ den leeren Beutel fallen und rannte los. Der Regen lief mir in Bächen über das Gesicht, als ich an der anderen Seite herauskam. Meine Kapuze hatte ich nach hinten gestreift, damit ich den Schwarm nicht aus den Augen verlor. Aber das war gar nicht nötig, denn sie sammelten sich alle über einem einzigen Gebäude der Gasse. Demselben Gebäude, aus dem ich eben die Klaviermusik vernommen hatte, die Kunstgalerie. Als ich dort anlangte, hüllten die schwarzen Schwingen das Haus vollständig ein. Kein Künstler hätte das schöner planen können: Wie ein nachtblaues Seidentuch floss der Schwarm in Wellen vor der Fensterfront hin und her, wogte hoch über den Dachfirst hinweg und flog wieder zurück. Atemlos war ich stehen geblieben und starrte auf das Schauspiel, das von heiseren Aki-Ausrufen begleitet wurde, als besängen die Raben den Regen, der an den Scheiben herunterrann. Mehr Beweise brauchte ich nicht. Alexej musste einfach hier sein.

  Meine Finger berührten das Glas und rutschten an der nassen Fläche herunter. Wenn man wenigstens etwas durch das Papier sehen könnte! Aber ich konnte nicht einmal einen Schatten dahinter ausmachen. Es gab keine Klingel neben der Tür, die durch ein Gitter verriegelt worden war, deshalb schlug ich mit flachen Händen gegen die Fensterscheibe. Die Rabenschreie stachelten mich an.

  »Hallo? Ist jemand da?« Ich schloss meine Hand zur Faust und hämmerte gegen die Scheibe, die nicht einmal vibrierte. Sakra, das war bestimmt Sicherheitsglas! Und wenn ich hier weiter so rumhämmerte, würde vermutlich die Alarmanlage angehen oder es tauchte gleich die Polizei auf. Ich kaute auf meiner Unterlippe.

  Da war ein Riss im Papier! Jemand hatte von innen ein Loch in die Abdeckung gebohrt und ein Guckloch geschaffen. Ich presste mein Gesicht gegen die kalte Scheibe und starrte durch die Öffnung, die kleiner als mein Handballen war.

  Marmorboden. Ein Stuhl mit Metallbeinen. Ein Tisch.

  Keine Skulpturen, keine Gemälde, keine anderen Kunstgegenstände. Entweder der Umbau der Galerie hatte noch nicht einmal begonnen, oder das alles war ein ganz großer Fake. Eine billige Tarnung.

  An der Wand hing bloß eine Fotografie. Ein einziges Bild in diesem riesigen Saal. Mein Blick huschte über den Boden wie eine Maus auf der Flucht.

  Dann sah ich die Männerbeine. Sie lagen seltsam verdreht auf dem Fußboden. Die abgeschabten Ledersohlen der Schuhe zeigten genau in meine Richtung. Hätte ein Preisschild darunter geklebt, ich hätte es von hier aus entziffern können, so nah waren sie. Doch meinen Puls hätte ich nicht mitzählen können. Er wummerte mir zwar laut in den Ohren, raste dabei aber so schnell wie das Trommeln einer Snare Drum.

  Ich sollte Hilfe holen, schreien, die Polizei rufen, die Feuerwehr, was auch immer. Ganz automatisch ging meine Hand zu meiner Jackentasche, in der das Handy steckte.

  Als die Füße vor mir sich mit einem Mal rührten, hielt ich in der Bewegung inne. Ich wollte schon befreit aufatmen, da sah ich, wie zwei nackte Beine darüber hinwegstiegen. Hände machten sich an den Hosen zu schaffen. Schlanke Hände mit langen Fingergliedern, die ich sogar blind tastend hätte erkennen können. Und jetzt erlaubte ich mir auch, die Luft auszustoßen.

  »Aki, Akiii!«, krächzten die Raben in wildem, fast zornigem Tonfall, und ich hätte albern lachen können vor Erleichterung, weil wir Alexej gefunden hatten. Wir. Die Raben und ich.

  Alexej sah gehetzt zur Tür. Sein Blick blieb an dem Guckloch hängen, durch das ich hineinstarrte.

  Meine Hand berührte die Scheibe, als würde ich ihn anfassen, und auf meinem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus, was angesichts der Situation überhaupt nicht angebracht war. Aber Alexej war hier, und er lebte! Er hatte keine offensichtlichen Verletzungen und gerade die Oberhand gewonnen, wenn ich mir die leblose Gestalt auf dem Fußboden so betrachtete. Ich konnte nicht anders als nur dämlich grinsen. Er sah es und legte warnend einen Finger an die Lippen. Auf seinem Gesicht lag ein typisches Alexej-Lächeln. Gepaart aus ehrlicher Freude und einer über alles liegenden Melancholie. Er wandte den Blick ab und fischte einen Schlüsselbund aus der Kleidung des Mannes heraus. Kurz blitzte das Metall auf, dann verschwanden die Schlüssel in Alexejs Faust. Er lief zu einer Art Liege, die ich bisher noch gar nicht gesehen hatte, und riss eine Hose aus dem Kleiderhaufen, der davor lag.

  Wenige Sekunden später hörte ich, wie er in mehreren Versuchen einen Schlüssel nach dem anderen ins Schloss steckte, und ich wartete vor der Tür, bis die Glastür endlich nach innen schwang.

  Ganz automatisch drängte meine Hand durch das Gitter. Ich spürte den Druck von Alexejs Fingern, aber auch, dass sie unkontrolliert zitterten. »A-alles okay mit dir?«

  Wenn du jetzt flennst, Isa, dann rede ich kein Wort mehr mit dir!

  Er nickte. »Nur eine Nachwirkung von den Medikamenten«, sagte er und drückte mir den Schlüssel in die Hand. »Kannst du das Gitter aufschließen?«

  »Ja.«

  Alexej presste seine Stirn gegen das Gitter, und seine Hand umfasste meinen Hinterkopf. Unsere Lippen berührten sich.

  »Du weißt, dass ich dich liebe?«

  »Ja«, sagte ich und verschluckte mich fast daran. Es kostete mich unendliche Überwindung, seine Hand wieder freizugeben. Ich ging auf die Knie und versuchte hektisch, den ersten Schlüssel unten in das Schloss zu schieben, doch er passte nicht.

  Er ging ebenfalls in die Hocke, um mit mir auf Augenhöhe zu sein. »Jede Minute, die wir getrennt sind, macht mir bewusst, wie sehr. Und wie viel ich von dir verlange. Sag mir, dass ich noch viel mehr von dir verlangen kann.«

  »Noch mehr?« Ich lachte auf. »Was denn noch?«

  »Dass du das Weite suchst, wenn ich es nicht schaffe.«

  Mir war vollkommen klar, was er damit meint
e. Er würde mich nicht aufgeben, koste es, was es wolle. Aber wenn dieser Kampf gegen Wassilij das Wertvollste kostete und er es nicht überlebte, sollte ich die Beine in die Hand nehmen und verschwinden. Zurück nach Hause, nach Deutschland. Dahin, wo Raben nur einfache Singvögel waren, die auf dem Acker ein paar Samen raubten. Dahin, wo ein Rabenkrächzen kein Schrei eines Menschen bedeutete.

  Auch der nächste Schlüssel passte nicht.

  »Lass uns später darüber reden, sonst bekomme ich das Schloss nie auf.« Die beiden letzten Schlüsselbärte ließen sich genauso wenig in das Schloss quetschen. »Sie passen nicht!«, rief ich verzweifelt. »Sie passen einfach nicht!«

  Als hätte mein Ausruf die Rabenkrähen erneut angestachelt, begannen sie ihr Konzert von vorn. Ich duckte mich auf den Boden, weil mehrere Flügel mich streiften.

  »Ganz ruhig, Isabeau. Versuch es noch einmal.«

  Ich zwang mich, meine Finger zu lösen und die Schlüssel einen nach dem anderen erneut auszutesten. »Was ist mit dem Mann? Ist er tot?« Obwohl ich nicht aufsah, musste Alexej bemerken, wie unruhig ich wurde, wenn auch aus anderen Gründen, als er es vielleicht dachte.

  »Nur bewusstlos. Ich …«, er holte tief Luft, »… habe es einfach nicht über mich gebracht. Er hat einen ganz ruhigen Puls.«

  In einem Anflug von Grausamkeit, der mir bisher völlig fremd gewesen war, bedauerte ich seine Antwort. Offenbar schien Sergius’ Kaltblütigkeit bereits auf mich abzufärben. Ein paar Stunden in dessen Gesellschaft und man entwickelte sich zu einem mitleidlosen Monster.

  »Gott sei Dank«, sagte ich schnell, auch wenn ich es nicht vollkommen ehrlich meinte. Diese Männer hatten Alexej entführt und drei der Raben getötet. Es waren Söldner. Sie hätten es verdient.

  »Er ist Arzt«, sagte Alexej, als müsste er mir das sagen, damit ich ihn verstand.

  »Gehört er denn nicht zu ihnen?« Meine Stimme klang hart. »Entschuldige, es tut mir leid. Es ist nur … Ich bin fast verrückt geworden vor Angst.«

  Dieses dämliche Gitter! Fluchend gab ich auf und zog mich daran nach oben, weil meine Beine so sehr zitterten. »Vielleicht passt du als Rabe hier durch?« Ich maß mit der Hand die Öffnung der einzelnen Gitterabstände und hörte selbst, dass meine Stimme völlig hilflos klang. Ich musste auch Alexejs Kopfschütteln nicht sehen, um zu wissen, wie blöd diese Idee war.

  »Ich würde es vorziehen, nicht eingequetscht in einem Gitter zu sterben.«

  »Du wirst überhaupt nicht sterben!«, blaffte ich ihn an. »Es muss doch noch einen anderen Eingang geben! Wofür hat der Mann so viele Schlüssel, wenn sie zu nichts gut sind?«

  Mein Blick glitt an der Häuserfront nach oben, aber die Seite bestand vollständig aus Glas. Rechts ging das Gebäude in ein anderes über. »Ich bin gleich wieder da.«

  Geduckt lief ich unter dem Krähenschwarm nach links und stieß wenige Meter vom Eingang entfernt auf eine kleine Gasse, die zwischen den Häusern hindurchführte, jedoch so schmal war, dass nicht einmal zwei Personen nebeneinander hätten durchgehen können. Aber auch hier gab es keine weitere Tür. Und ganz sicher wäre auch diese wieder verschlossen und alarmgesichert gewesen.

  In der nächsten Sekunde hörte ich ein Scheppern. Die Rabenvögel flatterten kreischend auf und stoben in alle Himmelsrichtungen davon. Und dann erklang ein lautes Getöse wie von einem Auffahrunfall. Ich rannte zurück auf die Straße, wo inzwischen mehrere Schaulustige aufgetaucht waren, die wahrscheinlich von den Rabenschreien angelockt worden waren. Ein alter Mann sprach in sein Handy. Eine junge Frau hielt ihren Regenschirm wie ein Schutzschild vor der Brust. Zuschauer waren nun wirklich das Letzte, was wir gebrauchen konnten.

  Das Türgitter wölbte sich nach außen, als wär ihm ein monströser Bauch gewachsen. Ich begriff, dass Alexej etwas dagegengerammt haben musste. Etwas Schweres, Großes. Dann sah ich ein seltsames Gestell auf das Gitter zurasen. Mit einem Quietschen, das sich in meinem Kopf wie Zahnschmerzen ausbreitete, durchbrach eine Krankenliege die Absperrung und rollte auf die Straße. Keuchend trat Alexej durch die Öffnung. Das war der Moment, in dem die Sirene losheulte.

  REGENFLUCHT

  ALEXEJ

  Ich schnappte Isabeaus Hand, und gemeinsam rannten wir über die regennasse Straße. Mein Menschenherz schlug so warm für sie, dass ich keinen Schmerz spürte. Jemand rief etwas hinter uns her, aber ich hörte nur den Raben zu, die vereinzelt über uns auftauchten. Milo krähte etwas, das sich anhörte wie »Auto«. Sehen konnte ich ihn nicht, aber seine Stimme war unverkennbar.

  Ich war erleichtert, dass die Alarmanlage angeschlagen hatte. Erleichtert, weil es deshalb nicht lange dauern würde, bis der Doktor ins Krankenhaus kommen würde und in Sicherheit war. Dabei hatte ich ihn in einer wahnwitzigen Sekunde tatsächlich töten wollen. Noch bevor er zu mir aufgeblickt hatte, hatte ich ihm schon den Schlauch um den Hals gelegt und zugezogen. Aber ich brachte es nicht zu Ende, brachte es einfach nicht fertig. Mit einem Gurgeln hatte er sich an die Kehle gepackt, die Augen seltsam verdreht, und da hatte ich den Ring an seinem Finger gesehen. Hatte Bilder von seiner Familie vor Augen, dabei wusste ich nicht einmal, ob er Kinder hatte. Und trotzdem gaukelte mir meine Fantasie es vor. Noch nie hatte ich solchen Ekel vor mir selbst empfunden. Abrupt hatte ich von ihm abgelassen und ihn dann behutsam auf den Boden gelegt. Er war bewusstlos, aber lebendig gewesen. Sein Atem ein flaches Pfeifen, kaum wahrzunehmen im Geschrei des Vogelschwarms.

  An der nächsten Biegung zerrte mich Isabeau zwischen zwei Häuser. Jetzt waren wir dem Fluss so nah, dass ich ihn trotz des Gezeters über uns wieder wahrnahm. Ich konnte sogar am Ende des schmalen Ganges einen Streifen Wasser sehen.

  Isabeau zog ihren Parka aus. »Hier, zieh das an!«

  »Die Kälte macht mir nichts aus«, sagte ich. Dabei war das ganz und gar nicht der Fall. Meine nackten Füße waren bereits taub. Mir lag mehr als ein Fluch auf den Lippen, doch meine gute Erziehung hatte mich in den letzten Tagen schon so oft im Stich gelassen, dass ich mich nun dazu zwang, sie hinunterzuschlucken.

  »Glaub mir«, sagte Isa mit klappernden Zähnen, »im Moment ist es mir sogar völlig egal, ob du frierst. Aber du kannst nicht halb nackt durch die Stadt laufen, ohne dass jemand auf uns aufmerksam wird. Denk an dein Tattoo!« Sie zog eine Grimasse.

  »Dann gib mir deinen Pullover.«

  Mit schräg gelegtem Kopf tippte sie sich an die Brust. »Der ist rosa.«

  »Ich kann sehen.«

  Warum mir mit einem Mal so sehr danach war zu lachen, wollte mir nicht in den Sinn kommen. Es war irrsinnig, weil es eiskalt war und ich nicht einmal Schuhe besaß. Weil es in Strömen regnete und uns der Alarm hinterherheulte. Weil gleich nicht nur Nikolaus’ Vater hinter uns her sein würde, sondern auch noch sämtliche Polizeibeamte der Stadt. Weil ich den Doktor beinahe erwürgt hatte. Weil er mich tagelang mit Hormonen und Medikamenten gefoltert hatte und ich an meinem Brustbein immer noch spüren konnte, wo seine Nadel eingedrungen war.

  Aber ich spürte eben auch, wie warm es dahinter pulsierte und dass ich passend dazu wie ein Trottel auf Isabeaus Lippen starrte.

  Jetzt verzogen sich diese zu einem Lächeln. »Nimm endlich die Jacke, wir müssen uns beeilen.«

  »Denkst du denn …«, ich drängte mich an sie und küsste das regenfeuchte Haar über ihrer Schläfe, »… die Leute würden auch auf uns aufmerksam werden, wenn ich deinen rosafarbenen Pullover trage?«

  »Ich bin sicher, er würde dir stehen. Aber er passt dir sowieso nicht. Also …«

  Widerwillig ließ ich mich von ihr wegschieben und zog ihren Parka über, der mir natürlich ebenfalls viel zu eng war. »Das sieht nicht weniger verboten aus. Wo habt ihr das Auto abgestellt?«

  »Der Parkplatz direkt vor dem Tor. Ich hoffe nur, Jaro hat meine Tasche schon geholt, sonst kann ich nicht einmal den Parkschein bezahlen.«

  Es war so typisch für Isabeau, dass sie selbst in einem solchen Augenblick an die Regeln dachte. Sie hielt sich immer an die Regeln. Niemals würde sie einen Brief öffnen, der nicht für sie gedacht war, oder sich in einer Schlange vordrängeln. Auf der Landstraße lief sie links, weil man ihr das schon im Kindergarten so beigebracht
hatte, und sie würde sich garantiert weigern, ohne Führerschein zu fahren. Ob sie jemals ebenso gewalttätige Gedanken hatte, wie ich ihnen eben nachgegangen war?

  Doch auch wenn ich die Antwort darauf wüsste, so würde ich ihr jetzt nicht von dieser Gewalt in mir erzählen können. Genauso wenig wie von meinem neu gefassten Entschluss, niemals Kinder haben zu wollen. Niemals.

  »Hier über die Brücke!«, sagte ich und übernahm die Führung. Auch wenn ich mich kaum an den Weg vom Auto der Jäger bis in die Stadt erinnern konnte und es mir schwerfiel, mich an Straßen zu halten, so sagte mir mein Orientierungssinn genau, welchen Weg wir einschlagen mussten. Der Flusslauf hatte sich mir über die Jahre im Schwarm in mein Gehirn gebrannt. Ich orientierte mich nicht an Gebäuden, sondern an Flüssen, Bächen und Seen; an den unterschiedlichen Wäldern und Weideflächen, die mir viel mehr verrieten, in welcher Region ich mich befand, als die Farbe von Dächern oder die Anordnung von Straßenzügen.

  Die schmale Holzbrücke war von Touristen belagert, die sich selbst mithilfe irgendeines Gestänges fotografierten.

  »Promiňte! Entschuldigen Sie!« Wir schlängelten uns durch die Leute, die bei meinem Anblick sofort auf Abstand gingen. Kein Wunder, machte ich barfuß und mit nur mäßig verdecktem nackten Oberkörper bestimmt keinen seriösen Eindruck.

  »Sorry!«, stieß Isabeau hervor, nachdem sie eine Asiatin angestoßen hatte, die dabei war, eine Gruppe von jungen Männern abzulichten.

  Wir erreichten die Mantelbrücke, die zwei Teile des alten Schlosses miteinander verbindet und über mehrere Etagen aufgebaut ist.

  »Kannst du die Raben noch hören?« Isabeau blieb keuchend stehen und hielt sich die Seite. »Ich glaube, sie sind uns nicht mehr gefolgt.«

  Mit der flachen Hand wischte ich mir das nasse Haar aus der Stirn und suchte den Himmel über uns ab, aber ich konnte den Schwarm nicht mehr entdecken. »Milo ruft immer noch nach mir. Wir sollten vorsichtig sein. Irgendwas stimmt da nicht. Ich kann ihn nicht genau verstehen, aber er gibt Warnlaute von sich.«

  »Da drüben ist ein kleiner Park neben dem Parkplatz.« Sie deutete auf eine lichte Baumgruppe, die direkt am Ufer entlangführte. »Vielleicht sollten wir uns dort verstecken und erst einmal abwarten.«

 

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