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Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition)

Page 21

by Nikola Hotel


  »Etwas zu vergessen ist doch eigentlich die schlimmste Strafe«, ergänzte ich. »Damit kann man jemandem den Schmerz nehmen, aber man nimmt ihm gleichzeitig die Liebe. Ich stelle mir das schrecklich vor.«

  Seine Zunge fuhr spielerisch über meine Unterlippe, dann biss er leicht in dieselbe Stelle. »Schrecklich ist es doch nur in deiner Vorstellung. Sobald du vergessen hättest, könnte es dich nicht mehr quälen, weil du schließlich nichts mehr davon wüsstest.«

  »Das ist ein dummes Argument«, platzte ich heraus.

  Jetzt lachte er leise, und sein warmer Atem kitzelte mich. »Ganz im Gegenteil. Das ist ein unwiderlegbares Argument und in seiner Gültigkeit nicht zu erschüttern.«

  »Also gut«, sagte ich und richtete mich auf, indem ich ihn von mir wegschob. »Ich gebe zu, es ist ein wissenschaftliches Argument. Eines, das normalerweise genau nach meinem Geschmack wäre. Doch stell dir vor, du könntest alles vergessen, aber mit deiner Erinnerung wäre auch deine Musik für immer verloren.«

  Er öffnete den Mund, um etwas zu entgegen, aber ich hob die Hand. »Ich weiß genau, was du jetzt sagen willst!«

  »Tatsächlich?«

  »Du willst argumentieren, dass die Musik schließlich nicht tot ist, nur weil du dich nicht an sie erinnern kannst. Und das ist auch völlig richtig. Sie ist nämlich überall. Ich weiß, dass du sie überall hörst. Im Wispern des Waldes, wenn der Wind durch die Blätter fährt. Du hörst sie im Unterholz, im Flügelschlag. Du kannst sie sogar in deinem Herzschlag hören. Alles ist für dich Musik. Würdest du wiedergeboren werden, ohne Erinnerung, du würdest sie mit deinem ersten Atemzug sofort wieder hören. Egal wie oft es die Stunde null für dich gäbe, in der ersten Sekunde nach der Stunde null wüsstest du, dass diese Musik existiert.«

  Alexejs überraschter Ausdruck sorgte dafür, dass mein Herz nur noch mehr für ihn schlug. Es pochte mir bis zum Hals, weil ich bereits wusste, wie nackt mich meine nächsten Worte machen würden.

  »Und genauso ist es, wenn es um uns beide geht. Ich muss nicht wissen, dass ich dich liebe, um es spüren zu können. Auch wenn du dafür sorgen könntest, dass ich es vergesse, ich würde es überall hören. Wie du die Musik. Bereits in der ersten Sekunde.« Ich schluckte, weil mir nun doch Tränen in die Augen traten. Etwas, das ich unbedingt hatte vermeiden wollen.

  Dieser Moment war einer der wenigen, bei dem ich Alexej tatsächlich sprachlos erlebte. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, doch er brachte keinen Ton hervor.

  »Und das, mein lieber Fürst Alexander, ist ein unwiderlegbares Argument«, schloss ich mit einem Augenzwinkern, weil ich es nicht ertrug, dass meine viel zu sentimentalen Worte die letzten gewesen waren.

  »Isabeau«, sagte er rau. »Ich … könnte nie … Ich wünschte …« Er zog mich an sich und presste seine Stirn gegen meine. Sein Atem ging schwer. »Ich wünschte wirklich, ich könnte dir nur einen Bruchteil von dem zurückgeben, was du mir schenkst. Könnte ich nur in Worte fassen … also auf Deutsch …« Jetzt lachte er leise.

  »Du könntest es auf Tschechisch versuchen«, schlug ich ihm vor, auch wenn ich das nicht ganz ernst meinte.

  Er seufzte. »Miluju tě k zbláznění«, raunte er mir ins Ohr. »Miluju tě tak strašně moc, je to k zbláznění.« Ich spürte die feuchte Hitze seiner Lippen, und mir lief eine Gänsehaut über den Körper. Ich musste nicht verstehen, was er mir sagte, um zu hören, wie viel Gefühl darin mitschwang. Trotzdem konnte ich mir nicht verkneifen, etwas darauf zu erwidern.

  »Ich werde schon noch einen Mann finden, der das für mich übersetzt.«

  Seine Zähne streiften meine Ohrmuschel, als er auflachte. »Untersteh dich! Das erledige ich bei Gelegenheit selbst.« Er zog mich hoch. »Küss mich, Isabeau«, sagte er mit einem unerwartet traurigen Unterton. Sein Blick richtete sich nach oben, als versuchte er, eine Erinnerung zu fassen, aber er sprach nicht weiter. Noch bevor ich dieser Aufforderung nachkommen konnte, löste er sich mit einem Mal von mir und zog etwas aus seiner Jackentasche heraus. Überrascht stellte ich fest, dass es das Buch von Robert Löhr war, aus dem ich ihm einmal vorgelesen hatte. In der Nacht, die zu den schönsten Erinnerungen gehörte, die wir hatten. Sekundenlang hielten wir beide das Buch in der Hand und einen irrwitzigen Augenblick dachte ich, es könnte genauso gut sein, dass wir uns daran festhielten.

  »Es ist leider an einer Seite etwas angesengt«, gestand er mir. »Das Feuer –« Er brach ab und lauschte. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf etwas gerichtet, das sich außerhalb dieses Hauses befand. Sofort war ich alarmiert.

  »Da kommt ein Wagen«, sagte er plötzlich. Und mit einem Satz war er beim Fenster.

  Nein! Ich war noch nicht so weit. Nicht jetzt! Das ging mir alles zu schnell. Fieberhaft überlegte ich, in welche Richtung wir am besten flüchten konnten, während Alexej durch den Vorhang lugte. Mein Blick sprang von ihm zum rückwärtigen Fenster und wieder zurück. Hinten raus ging es in den Wald, aber da wäre ich Alexej nur ein Klotz am Bein. Er würde sich ohne mich einfach in Luft auflösen und verschwinden. Doch mit mir war er am Boden gefesselt. Ich war bloß eine Behinderung für ihn, wenn es hart auf hart kam.

  Doch noch bevor ich mir eine Alternative überlegen konnte, gab er Entwarnung. »Das ist Nikolaus’ Auto.«

  Immer noch das Buch umklammernd, versuchte ich, einen Blick an seinem Rücken vorbei auf den Parkplatz zu werfen. »Bist du sicher, dass er es ist? Sein Vater könnte sich auch den Wagen –«

  »Es ist Nikolaus.«

  »Es könnte trotzdem eine Falle sein.«

  »Niemals«, sagte er energisch und ließ den Vorhang fallen. Ich war mir fast sicher, dass ich in seiner Stimme einen leichten Vorwurf wahrnahm.

  »Ich bin gleich wieder da.« Mit diesen Worten verschwand er aus dem Zimmer.

  Warum nur gab es mir einen Stich, dass er Nikolaus so blind vertraute? Es war völlig idiotisch, auf seinen Freund eifersüchtig zu sein, das wusste ich. Und ich mochte Nikolaus, hatte ihn damals schon sofort gemocht, doch nun spürte ich trotzdem, wie sich in meinem Mund ein saurer Geschmack ausbreitete und sich etwas in mir zusammenzog. Das war einfach nur unnötig und dumm, und trotzdem gab es mir einen Stich. Nikolaus war ihm gegenüber immer loyal gewesen. Dass Alexej ausgerechnet ihm das Tattoo verdankte, welches ihn überführen konnte, war nur ein ganz blöder Zufall.

  Mit einem mulmigen Gefühl legte ich das Buch auf der Fensterbank ab. Erst dann fiel mir auf, dass Alexej offenbar eine Stelle darin markiert hatte. Zwischen den Buchdeckeln klemmte eine schwarze Rabenfeder. Die fransige Spitze schaute oben aus dem Buchschnitt heraus. Ohne den Band noch einmal hochzuheben, schob ich den Zeigefinger zwischen die Seiten und schlug sie auf. Am Federschaft klebte Blut. Rabenblut.

  Mit Bleistift hatte Alexej zwei Zeilen darin unterstrichen. Ich lehnte die Stirn gegen das Fenster, um den Satz im Licht der Straßenlaterne lesen zu können.

  Küss mich, denn bald schon müssen wir dieses Paradies verlassen, und dann wird alles anders, und du gehst fort …

  Auf eine unendlich bedeutungsvolle Art tat mir dieser Satz weh. Warum hatte er genau diese Stelle markiert? Es gab so schöne Sätze in diesem Buch. Heitere, warme, liebevolle; Sätze voll Humor und Poesie. Und es gab boshafte Sätze, gleichgültige Sätze. Doch Alexej hatte diesen gewählt, der mir in seiner Kargheit fast grausam erschien.

  Nur wusste ich nicht, ob diese Stelle mir galt oder ob er sie für sich selbst markiert hatte.

  RABENWEISS

  ISABEAU

  Als Erstes fiel mein Blick auf die derben Stiefel, die im Türrahmen auftauchten. Dann auf die engen Jeans, die Lederjacke, das glatt zurückgekämmte Haar, das Nikolaus als Pferdeschwanz den Rücken hinunterhing und sich an einer Stelle über seiner Schläfe kräuselte. Wie immer konnte ich mir kaum vorstellen, dass der Typ in Rockerkluft eigentlich in einen Orchestergraben gehörte. Ich hatte Nikolaus auch erst einmal bei einem klassischen Konzert erlebt und war völlig erstaunt gewesen, welche Verwandlung da mit ihm vorgegangen war. Natürlich war das nicht zu vergleichen mit Alexejs Verwandlung. Aber bei Alexej war es etwas anderes. Ganz egal, in welcher Gestalt er sich befand, er war immer Alexej, war immer auf s
eine Art kultiviert und viel zu elegant für mich. Nikolaus war eher der Typ, den man spontan auf einen Kaffee traf. Das war etwas, was ich an ihm so mochte. Trotzdem merkte ich, wie mein Körper sich versteifte, als er mir zur Begrüßung den Arm um die Schultern legte und mir einen Kuss auf die Wange drückte.

  »Mein Vater hat sich gemeldet.« Es war herauszuhören, dass es ihm schwerfiel, davon anzufangen, und sofort befiel mich ein schlechtes Gewissen. Bisher hatte ich immer nur an Alexej gedacht und daran, was Wassilij ihm angetan hatte. Vollkommen verdrängt hatte ich, dass Nikolaus ebenfalls etwas verloren hatte. Nicht nur einen Vater, sondern auch seine Erinnerungen an die eigene Kindheit. Er hatte nicht gewusst, dass Wassilij im Gefängnis gewesen war, und auch nicht, dass er ihn nur benutzt hatte, um an Alexej heranzukommen. Für ihn war es doch noch viel entsetzlicher zu wissen, dass sein Vater, dem er vertraute und den er geliebt hatte, ein Verbrecher war.

  »Er hat sich bei dir gemeldet?« Das kam mir so absurd vor. Hatte er ihn einfach angerufen und sich entschuldigt, dass er so lange nichts von sich hat hören lassen? Tut mir leid, ich war anderweitig beschäftigt, ich hatte in letzter Zeit so viel damit zu tun, ein paar Raben umzubringen und deinen besten Freund zu foltern.

  »Er wollte seine Enkelkinder sehen.« Nikolaus knirschte mit den Zähnen. »Ich habe ihm gesagt, dass das unter diesen Umständen nicht möglich ist.«

  »Unter diesen Umständen?« Mir blieb die Spucke weg. Ich spürte Alexejs Hand, die meinen Ellbogen umfasste. Der leichte Druck sagte mir, dass ich einfach mal die Klappe halten sollte, aber es fiel mir schwer, sehr schwer.

  »Was soll ich ihm denn sagen, Isa?« Nikolaus begann, unruhig durch den Raum zu tigern. »Ich habe Angst um meine Kinder. Und Katha wird fast verrückt, sie traut sich kaum noch aus dem Haus und bringt es nicht über sich, die Mädchen in den Kindergarten zu geben. Im Sommer wird Marina eingeschult. Kannst du dir vorstellen, wie das funktionieren soll? Wir können sie keine Sekunde aus den Augen lassen. Was, wenn er versucht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen? Er ist völlig unberechenbar.«

  Und er hatte Alexej entführt. Es war Wassilij durchaus zuzutrauen, dass er auch vor seinen Enkelkindern nicht haltmachen würde. Nikolaus hatte nicht bloß Angst, dass er Marina und Karola begegnen könnte, sondern vor allem, dass er ihnen etwas antat.

  »Denkst du denn, du kannst ihn damit abspeisen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dein Vater erwartet, es würde irgendwann Gras über die Sache wachsen. Er ist doch nicht blöd.«

  »Ich weiß nicht, was er ist!« Zwischen Nikolaus’ Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet. »Ich kenne ihn gar nicht mehr. In ihm ist irgendwie eine Sicherung durchgebrannt oder so. Vielleicht braucht er Hilfe.«

  Wenn er damit psychiatrische Hilfe meinte, hatte er ganz bestimmt recht. Aber das konnte ich Nikolaus gegenüber natürlich nicht laut sagen. Ganz abgesehen davon wusste er das vermutlich selbst. Nur dass es eine andere Sache war, wenn ein Außenstehender das sagte. Auch wenn ich gelernt hatte, seinen Vater nicht nur zu fürchten, sondern auch zu hassen, es stand mir nicht zu, Alexejs Freund das an den Kopf zu knallen. Vor allem, da ich sah, wie sehr er unter dieser Situation litt.

  »Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass er Hilfe braucht«, sagte Alexej unerwartet.

  »Wie meinst du das jetzt?« Nikolaus klang nicht sehr geduldig.

  »Dein Vater ist krank.«

  »Das wissen wir inzwischen doch alle.«

  »Entschuldige, Niki.« Alexej hob beschwichtigend eine Hand. »Ich meine damit, dass er wirklich krank ist. Körperlich. Ich habe ihn nur kurz gesehen, die meiste Zeit war ich allein mit diesem Arzt, aber du weißt doch, dass ich manchmal Dinge wahrnehme, die du für Einbildung hältst –«

  »Für Schwachsinn meinst du wohl. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass du unserem Prof in Wien erklärt hast, Mozarts Musik wäre dir zu gelb und du würdest dir eher ein Auge ausreißen, als noch einmal ein Klavierkonzert von ihm zu spielen.«

  Alexejs Augenbrauen gingen in die Höhe. »Ich würde mir außerdem noch heißes Wachs in die Ohren träufeln, um Mozart zu entgehen, aber das war jetzt nicht das, was ich meinte.«

  »Entschuldige bitte!«, schnauzte Nikolaus. »Wenn du mir weismachen willst, mein Vater habe eine gelbe, dreieckige Aura oder irgendeinen anderen Blödsinn, dann flippe ich aus.«

  »Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass er fiebert, du kannst dich also entspannen«, gab Alexej trocken zurück.

  Ich konnte den beiden nicht so recht folgen, fand dieses Gespräch aber äußerst interessant. »Wie kommst du darauf?«

  »Krankenbeobachtung«, gab Alexej mit einem Schulterzucken zu. »Er schwitzt wie verrückt, ist kurzatmig und erschöpft. Und außerdem …« Er stockte kurz, dann gab er es schließlich doch zu: »Ich kann es riechen.«

  Nikolaus stöhnte lauthals. »Ich wusste, dass noch etwas in der Richtung kommt. Wonach hat er gerochen? Old Spice?«

  Ich prustete los. Das war in dieser Situation überhaupt nicht angebracht, und ich handelte mir auch von beiden Seiten strenge Blicke ein, aber ich konnte einfach nicht anders. Die beiden stritten sich nun tatsächlich wegen … nichts!

  »Old Spice.« Alexej bleckte die Zähne. »Ich glaube, du hast als Kind zu viel russische Folklore eingeatmet.«

  »Und ich glaube, deine böhmischen Knödel haben dir das Hirn verkleistert.«

  »Schon möglich«, sagte Alexej. »Das ändert aber nichts daran, dass dein Vater schwer krank ist. Er blinzelt, als würde ihn das Licht stören. Man könnte glauben, dass es nur eine einfache Grippe ist, aber er riecht nicht nach einem Virus. Es könnte mir auch völlig gleichgültig sein, wenn er nicht versuchen würde, mich umzubringen. Ich will wissen, was er vorhat. Warum hat er mir nicht einfach den Hals umgedreht, als ich ein Rabe war? Dass er das nicht getan hat, muss einen Grund haben. Nur was für einen, Niki? Was will er?«

  »Ich weiß es nicht, verdammt! Ich weiß es nicht!« Nikolaus schubste den Küchenstuhl an, der daraufhin gegen den Tisch krachte. Seine Stimmung war an einem Tiefpunkt angelangt. »Im Radio haben sie eben berichtet, dass der Einbrecher in der Galerie ein Kunstwerk gestohlen hat.«

  »Wie bitte?«

  Auch mich erstaunte das. Wassilij war alles andere als ein armer Schlucker, da passte so etwas wie ein Versicherungsbetrug überhaupt nicht ins Bild. Und wir wussten schließlich alle, dass Alexej nichts in der Galerie gestohlen hatte. Allenfalls hätte ein Außenstehender, der zufällig vorbeikam, etwas mitgehen lassen können. Aber die Galerie war so gut wie leer gewesen, hatte Alexej mir erzählt. »Was für ein Bild soll das sein?«

  »Irgendein Foto von einem Künstler halt. Nicht einmal ein wertvolles Gemälde«, winkte Nikolaus ab.

  Ein Foto? Das fand ich nun sogar richtig bemerkenswert. »Vielleicht kann man im Internet etwas mehr darüber finden. Wartet, ich hole meinen Laptop«, sagte ich und rannte aus dem Zimmer. Mein Smartphone hatte ich eben erst ans Ladekabel gehängt, weil der Akku bei unter sechs Prozent angelangt war und wir das ganz sicher noch brauchen würden.

  Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, was Wassilij damit bezweckte, einen Diebstahl vorzutäuschen. Doch die Sache klang wirklich verrückt. Zu verrückt, um ein bloßer Zufall zu sein. Ich stellte den Laptop auf den Tisch und klappte den Deckel hoch. Bei den Suchanfragen musste Alexej mir helfen, weil ich mit meinen wenigen Brocken Tschechisch nicht weit gekommen wäre. Wenige Minuten später leuchtete uns die angeblich gestohlene Fotografie auf dem Bildschirm entgegen. Ich sog überrascht die Luft ein, während Nikolaus nur ein »Was zum Geier will er denn damit sagen« herauspolterte.

  Alexej hatte sich mit den Händen am Tisch abgestützt und presste die Lippen zu einem Strich zusammen. Dass er nichts in diesem Raum anfassen sollte, schien er vollkommen vergessen zu haben, und ich machte mir innerlich eine Notiz, wo wir überall Fingerabdrücke beseitigen mussten. Als er sprach, bemerkte ich, wie sich sein ganzer Körper anspannte.

  »Er will den Vogel haben.«

  Auch mir war klar, dass das die einzig logische Erklärung für diesen sonderbaren »Diebstahl« sein konnte.

  »Was für einen Vogel?« Nikolaus
sah aus, als sei er kurz davor durchzudrehen. Ich konnte es ihm nicht verübeln.

  Dieses Foto – auch wenn es eigentlich nicht wahr sein konnte, so war ich mir trotzdem sicher, dass das Bild hier in unserem Wald aufgenommen worden war. Es zeigte einen weißen Rabenvogel, der sich an einem dürren Ast festkrallte. Nahaufnahme. Sein Federkleid war mit einzelnen dunkelgrauen Federn gespickt. Der Schnabel war weit aufgerissen und rosafarben, die Flügel nach oben angewinkelt, als wäre er entweder gerade erst gelandet oder würde in der nächsten Sekunde abheben. Es war ein atemberaubend schönes Bild.

  Weil weder Nikolaus noch Alexej mir erklärten, was auf der Bildunterschrift zu lesen war, klickte ich auf die Leiste des Google-Übersetzers.

  Der weiße Rabe hat ein Herz wie eine Insel, umgeben Blitz, stand dort in gebrochenem Deutsch, das ganz typisch für automatisierte Übersetzungen war, mir aber damit erst recht eine Gänsehaut verursachte.

  Ihre Atmung ist wie die Ebbe und Flut. Wenn der weiße Rabe aus Ablehnung nicht gefressen von ihrer Mutter, ihre Seele schlägt verwaist immer. Für den tschechisch Fotograf nicht bekannt, ein Rettungsboot dass hält am Leben im Wasser der Einsamkeit.

  »Das ist er«, sagte ich. »Das ist Sergius’ Nachwuchs.« Ich war mir plötzlich hundertprozentig sicher.

  »Sergius’ Nachwuchs ist weiß?« Nikolaus war völlig überrascht. »Das hast du mir gar nicht erzählt, Alexej.«

  Alexej nickte. »Weil es keine Freudenbotschaft ist. Ein weißer Rabe wird sein ganzes Leben nur abgelehnt werden. Nicht nur von seinen Eltern oder seinen Geschwistern, wenn er welche hat, sondern auch von anderen Raben. Ein weißer Rabe findet kein Zuhause, keine Familie, keinen Schwarm. Seine Andersartigkeit isoliert ihn. Es ist selten, dass ein weißer Rabe das Erwachsenenalter erreicht. In freier Wildbahn sogar fast eine Sensation. Aber einen solchen Raben habe selbst ich noch nicht gesehen«, gab er zu.

  Ich nickte. »Weil er nicht vollkommen weiß ist.«

  Alexej las vor, was über die Fotografie des tschechischen Künstlers geschrieben wurde: »Nach Expertenmeinung ist es jedoch nur eine Fotomontage. Die vereinzelten dunklen Federn lassen vermuten, dass es sich bei diesem Vogel um einen weißbunten Raben handelt, wie es sie früher auf den Färöerinseln gegeben hat. Doch diese Art gilt bereits seit über siebzig Jahren als ausgestorben.«

 

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