Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition)

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Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition) Page 26

by Nikola Hotel


  »Hast du vergessen, dass ich ein Rabe bin?«, blaffte er. »Ich bin keine verdammte Eule!«

  »Es ist mir verflucht noch mal egal, ob du eine Eule oder ein Rabe bist! Irgendwo hier draußen irrt ein kleines Mädchen herum, das wahrscheinlich die Welt nicht mehr versteht. Sie weiß bestimmt nicht, wie sie sich zurückverwandeln kann, und ihre Mutter wird sich ihr nicht mehr nähern. Sie ist klein und hilflos. Sie friert. Sie muss entsetzliche Angst haben. Und Hunger.« Ein dicker Wutbrocken hatte sich in meiner Kehle gebildet. »Und dieses kleine Mädchen ist ein Teil von dir! Ob es dir nun passt oder nicht, du hast sie in die Welt gesetzt. Ich erwarte ja nicht, dass du sie liebst. Verdammt, ich weiß, dass du das nicht kannst. Aber ich erwarte, dass du wenigstens dafür sorgst, dass sie in Sicherheit ist und keine Angst haben muss.«

  »Du vergisst, dass es mir scheißegal ist, was du von mir erwartest. Wann zum Teufel hat das angefangen, dass du dir einbildest, etwas von mir erwarten zu können?«

  »Ich weiß es nicht«, sagte ich.

  Er war gar nicht wütend auf mich. Er war wütend auf sich selbst. Diese Offenbarung hatte ihn nun wirklich getroffen. Vermutlich war das einer der wenigen Gelegenheiten, bei denen ein Mann wie Sergius Angst bekam. Und nicht nur ein Mann wie Sergius. Jedem Mann würde es in Panik die Nackenhaare aufstellen, wenn er plötzlich erfuhr, dass er Vater geworden war. In diesem Fall war es sogar besonders erschreckend. Dass Sergius die Rabenmutter überwältigt hatte, war erst ein paar Monate her, und nun hatte er eine Tochter, die vom Alter her vermutlich schon fast in die Schule gehen könnte. Ausgerechnet er!

  Gänsehaut überlief meine Arme bis hinauf in meinen Nacken. Man könnte fast Mitleid mit ihm bekommen. Aber nur fast.

  »Wann das angefangen hat?«, wiederholte ich. »Ich weiß nicht, sag du es mir! Vielleicht als du angefangen hast, mich anstatt wie ein Objekt wie einen Freund zu behandeln.«

  »Einen Freund? Hast du Wahrnehmungsstörungen? Scheiße, ich wollte nie dein Freund sein, Isa! Freunde sind für’n Arsch!«

  »Entschuldigt mal«, unterbrach uns Lara. »Ich weiß wirklich nicht, was da zwischen euch ist. Vor allem weiß ich nicht, ob ich das überhaupt wissen will, aber wir haben verdammt noch mal keine Zeit zu verlieren. Die Kleine könnte an Unterkühlung sterben.«

  Sergius fuhr zu ihr herum. »Okay«, ranzte er Lara an, »ich werde sie finden. Aber danach bin ich endgültig raus aus der Sache, ist das klar?«

  »Total klar«, sagte Lara.

  »Macht mit ihr, was ihr wollt, aber kommt bloß nicht auf die Idee, mir was von ›Du bist ihr Vater‹ vorzuschwafeln. Darauf scheiße ich.«

  »Ist gut«, sagte Lara, und auch ich nickte.

  Sergius beugte sich zu mir herab und flüsterte mir ins Ohr. »Und das mit der Freundschaft vergisst du mal ganz schnell. Ich wollte dich nur ficken und nicht gleich heiraten.«

  »Ich fühle mich geehrt«, giftete ich ihn an.

  Er lachte kehlig. In der nächsten Sekunde ließ er die Taschenlampe fallen. Im Licht, das für eine Sekunde dabei herumpolterte, sah ich nur noch seine Flügel, die den Boden streiften. Mit einem heiseren Krächzen stob er auf.

  »Meine Güte!« Lara war völlig entsetzt. »Ich kann nicht glauben, was da gerade passiert ist. Dieser Typ …« Sie brach ab und schüttelte nur den Kopf.

  »Es tut mir leid«, sagte ich. »Die anderen Raben sind ganz anders als er. Wirklich! Und du weißt, dass Alexej ganz anders ist.«

  »Natürlich weiß ich das. Mein Gott, die beiden sind das völlige Gegenteil voneinander. Alexej sieht teuflisch gut aus und ist dazu auch noch ein herzensguter Mensch. Und dieser Typ … Mir fällt gar nichts mehr dazu ein«, sagte sie und stieß ein Schnauben aus. »Dem möchte ich nicht noch einmal im Dunklen begegnen.« Sie rückte unwillkürlich näher an mich heran. »Sein Wortschatz ist auch total beschränkt! Außer ›Scheiße‹ und ›verdammte Scheiße‹ bringt er kaum einen vernünftigen Satz raus«, sie verzog angewidert das Gesicht.

  »Aber hör doch!«, sagte ich und fasste Lara an der Schulter. »Hör doch mal, wie er ruft.«

  Wir lauschten beide auf sein Krächzen, das sich über uns ausbreitete und mein Blut auf seltsame Weise zum Schwingen brachte. Sergius zog Kreise, die wir am Nachthimmel gerade noch so ausmachen konnten, und dabei rief er immer wieder ein lautes »Kraaa« in verschiedenen Tonhöhen. Seine Kreise wurden größer, seine Schreie tiefer, volltönender, und Lara und ich starrten völlig gebannt auf seine Silhouette.

  Ich konnte akzeptieren, dass Sergius und ich nie Freunde werden würden, auch wenn ich feststellte, dass seine grobe und vulgäre Art mich längst nicht mehr einschüchterte. Was ich aber nicht verstand und auch nicht akzeptieren konnte, war die Tatsache, dass er mich auf eine beängstigende und rätselhafte Weise faszinierte.

  Es musste daran liegen, dass er mit solcher Hingabe ein Rabe war. Alles, was er an seinem Menschsein hasste, spielte für sein Leben als Rabe offenbar keine Rolle.

  »Hör nur«, wiederholte ich. Denn nun fielen andere Stimmen in sein Rufen mit ein. Viele Stimmen. Und sie kamen aus allen Himmelsrichtungen zusammen, um das Rabenmädchen zu suchen.

  AASFRESSER

  ALEXEJ

  Das Rufen begann langsam und nahm an Intensität zu. Schon nach wenigen Minuten rollte es sich zu einem Grollen auf, schwoll an wie eine Lawine, die mehr und mehr Stimmen zusammenfügte.

  Sergius’ Anweisung, dass wir jetzt nicht mehr nach einem weißen Raben suchten, sondern nach einem blonden Mädchen, hatte mir das Blut in den Adern gefrieren lassen. Sergius hatte ein Tabu gebrochen, und nun musste nicht nur er, sondern wir alle mit den Konsequenzen leben.

  Ein Mädchen.

  Mit einer verbissenen Miene schlug ich die Flügel nach hinten und breitete meine Schwungfedern aus. Wir hatten versucht, die Rabenkrähen zusammenzurufen, und nur auf Jaro hatten einige reagiert. Doch wenn Sergius’ einen Schrei ausstieß, dann war es, als erwachte der Wald mit einem Schlag zum Leben. Sein lautes »Kraaa« fuhr einem in alle Glieder, versetzte jedes Lebewesen, das sich in Rufweite befand, in Alarmbereitschaft und ließ einem das Adrenalin durch den Körper schießen.

  Welche Macht er damit besaß, war ihm vermutlich gar nicht bewusst, oder es war ihm einerlei. Tatsache war jedoch, dass er sie nur anwandte, wenn es ihm gefiel. Er tat es nicht für mich oder den Schwarm, er tat es auch nicht für seinen Nachwuchs. Doch wenn er es nicht für sich selbst tat, für wen dann? Die Antwort auf diese Frage wollte ich besser nicht hören. Auch sein Rabenkrächzen wollte ich nicht hören. Trotzdem ließ ich mich von ihm am Himmel dirigieren. Seine Stimme leitete uns, und niemand konnte sich dem entziehen.

  Es vergingen nur einige Minuten, bis sich der fragende Tonfall veränderte. »Tschiieh«, krächzte es vereinzelt, dann nahmen alle anderen den Ruf auf. Sie ist hier. Hier. Hier. Hier.

  »Tschiieh!«, schrie Jaro, und ein ganzer Chor aus Rabenstimmen antwortete.

  Auf einmal krachte es im Unterholz. Bellende Laute waren zu hören. Der Boden bebte, und ein ganzer Sprung von Rehen preschte aus dem Wald heraus. Es waren mehr als fünfzehn Tiere, deren weiße Spiegel am Hinterteil im Mondlicht leuchteten und in die Höhe hopsten. Bellend sprangen sie über die Lichtung hinweg und verschwanden im nächsten Waldstück. Nach wenigen Sekunden war von ihnen nichts mehr zu sehen. Dafür sammelten sich die Rabenkrähen zu einem schwarzen Ballen, der den Himmel an dem Punkt bedeckte, von dem aus die Rehe geflohen waren.

  Als ich die Stelle erreichte, krächzten sie immer noch. Sie saßen einfach überall. Auf dem feuchten Boden, den umgestürzten Baumstämmen, dem Moos, dessen weicher Pelz bei diesem Tauwetter zum Vorschein kam wie aufgebrochene Wunden. Sie hockten auf den Ästen, wippten auf den Zweigen, drängten sich dicht an dicht. Kaum ein Fleck war frei von opalschwarzem Gefieder. Neben einem dornigen Gebüsch wuchs eine einzelne stark gekrümmte Eiche, deren Stamm so dick war, dass ihn zwei ausgewachsene Männer nicht hätten umfassen können. Das hier war das Zuhause des Würgers. Der kleine Vogel hatte überall seine Spuren hinterlassen: Im Dornenbusch war sein Gewölle aufgespickt, Reste von Mäusen und Kleinstvögeln klemmten zwischen den Ästen als seine makabre Vorratskammer.
r />   Dann entdeckte ich das nackte Bein, das sich mager wie von einem Hühnchen darauf zusammenkrümmte. Weiße Arme klammerten sich in großer Höhe an der Rinde fest. Eine Hand hielt eine angefressene Maus zwischen den Fingern. Sie hatte sich am Aas-Vorrat des Würgers bedient. Schlaues Mädchen.

  Wo war Sergius?

  Es schien, als bewachten die Rabenkrähen das Kind, das auf dem Baum hockte wie die Gestalt aus einem Schauermärchen. Doch von Sergius war weit und breit nichts zu sehen. Er hatte eine Armee zusammengetrommelt und dann die Truppe verlassen. Er war nicht nur ein Betrüger oder ein Dieb, der sich nahm, wonach es ihn gelüstete, er war auch noch ein Deserteur. Ein Abtrünniger, der sich abwandte und davonflog, wann es ihm passte. Er hatte uns gezeigt, wo das Mädchen war, und sich dann aus dem Staub gemacht.

  Seltsamerweise schien das Mädchen überhaupt keine Angst zu haben. Seine Haltung drückte keine Furcht aus, sondern es hatte sie eingenommen, damit es nicht vom Baum fiel. Es war ohnehin ein Wunder, dass das Kind, so mager und schwach, wie es aussah, dort hatte heraufklimmen können.

  Jaro und Milo hatten ebenfalls die Eiche erreicht. Mit wippendem Kopf gaben sie Laute von sich. Ich sah, wie das Mädchen den Kopf schüttelte. Nein, es wollte den Baum nicht freiwillig verlassen. Ich konnte im Mondlicht nicht erkennen, ob ihre Lippen blau angelaufen waren oder ihre Glieder zitterten, aber sie musste entsetzlich frieren!

  Als sich mein Rabenherz zusammenzog und Blutbahn für Blutbahn verkümmerte, gab ich ein Ächzen von mir, das die Krähen auf dem Boden vor mir aufscheuchte. Meine weiße Haut schob sich aus dem Gefieder heraus, und ich landete im Stand direkt vor der Eiche.

  Das Mädchen riss die Augen auf. Vielleicht war ich überhaupt der erste Mensch, der ihr begegnete. Vielleicht hatte sie noch nie ein anderes Wesen auf zwei Beinen gesehen. Als sie den Mund öffnete, gab sie ein Heulen von sich. Es war nicht das Wimmern eines Kindes, sondern ein energischer jaulender Ton, der mir durch Mark und Bein ging. Das war kein menschlicher Laut. Sie leckte sich über die Lippen und krähte heiser, aber in ihrer menschlichen Gestalt konnte sie nicht krächzen wie ein Rabe. Frustriert hielt sie inne. Dann holte sie mit ihrer kleinen Hand aus und warf zornig die Maus nach mir.

  Ich war zu überrascht, um sofort zu reagieren. Die Maus traf mich nicht, sondern landete vor mir im Schneematsch.

  Bože!, fluchte ich stumm, als ich ihren wütenden Gesichtsausdruck sah. Das war wahrhaftig Sergius’ Tochter. Aber ich würde mich garantiert nicht von einem Kind einschüchtern lassen, sah sie auch noch so schauderhaft aus in ihrer mageren Gestalt und mit dem struppigen Haar, das um ihr Gesicht gesponnen war wie dürres Stroh.

  »Komm runter, oder ich komm zu dir hinauf!«, rief ich ihr auf Tschechisch zu.

  Ihr Blick ging wild hin und her. Ich hätte nie gedacht, dass mich einmal ein Kind so raubtierhaft anstarren würde. Langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen. Jaro wippte mit dem Kopf und krächzte lang anhaltend. Er sprach jedes meiner Worte nach.

  Das war bizarr! Ich redete mit einem Mädchen und benötigte dafür einen Raben als Dolmetscher.

  »Komm runter!«, wiederholte ich.

  Wo immer meine Beine hintraten, stoben die Vögel auseinander. Sie hätten längst fort sein sollen. Ihre Scheu vor Menschen hätte sie verjagen müssen, aber sie schienen das Mädchen zu bewachen. Wenn der Teufel der Herr der Fliegen war, dann schien dieses Mädchen Herrin der Raben zu sein. Ich hatte den Baumstamm erreicht. Kaum dass meine Hände die Rinde berührten, fing das Kind an zu jaulen.

  Das brachte die Krähen endgültig dazu, aufzustieben. Fauchend wie eine Wildkatze kratzte das Mädchen am Baumstamm und versuchte, noch höher zu klettern. Flügel peitschten um mich herum, und Krallen zerkratzten mir die Schultern. Schützend hielt ich mir die Hände über den Kopf. In meinem ganzen Leben war ich als Mensch noch nie von einem Rabenvogel angegriffen worden und nun ausgerechnet, weil ich dabei war, ein Kind zu retten. Ein Kind, das ganz offensichtlich gar nicht gerettet werden wollte.

  Ich konnte nicht behaupten, dass ich große Lust hatte, in der Nacht nackt auf einen Baum zu klettern, aber mir blieb nichts anderes übrig. Irgendwie musste ich doch zu diesem Kind durchdringen. Darauf vertrauend, dass Jaro weiterhin für mich übersetzte, redete ich mit ruhiger Stimme auf sie ein.

  »Komm her zu mir, und ich zeige dir, wo du etwas Besseres findest als das Gewölle eines Würgers«, versprach ich ihr und zog mich am Stamm hoch.

  Sie schüttelte energisch den Kopf und wedelte abwehrend mit ihrer freien Hand. Den linken Arm hatte sie fest um einen Baumknoten gelegt.

  »Ich weiß, dass du eigentlich fliegen kannst. Und du wirst es auch bald wieder.« Ich hatte den untersten Ast erklettert und griff nach oben an den nächsthöheren. Jaro krähte geradezu vergnügt. Der kleine Mistkerl hatte offenbar einen Heidenspaß, mich dabei zu beobachten, wie ich mich hier sinnlos abrackerte.

  »Ich werde dir zeigen, wie du wieder fliegen kannst«, versprach ich ihr. »Du bist nicht dafür gemacht, auf zwei Beinen hier herumzuklettern. Genauso wenig wie ich.«

  Ihr Blick ging hektisch hin und her. Ich hielt den Atem an, weil ich befürchtete, dass sie jede Vorsicht fahren lassen und springen würde. Wusste sie überhaupt, dass sie jetzt nicht fliegen konnte? Das war eine wichtige Frage, und die Antwort erhielt ich gleich darauf, denn sie zog sich zurück und machte Gott sei Dank keine Anstalten zu springen. Vielleicht war sie auch bereits gestürzt und hatte aus dieser Erfahrung gelernt. Wenn sie nach ihrem Vater kam, dann war sie auf jeden Fall lernfähig. Ich kannte kaum einen Mann, der trotz seiner geringen Schuldbildung so viel wusste wie Sergius. Ihn hatte das Leben gelehrt. Mich hingegen hatte manches Mal das Gefühl überkommen, dass ich in der Schule und im Studium mein Bewusstsein für die Natur gegen Dinge von geringerem Wert eingetauscht hatte.

  Dieses Kind hier hatte zweifelsohne ein besonders großes Verständnis für seine eigene Natur.

  »Jaro!«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als meine Hand den Fuß des Mädchens nur knapp verfehlte. »Du kennst sie doch, verflucht noch mal. Was hältst du davon, deinen kleinen Rabenhintern mal hierherzubewegen und mir zu helfen?«

  Ich hörte ihn und Milo anhaltend keckern. Die beiden amüsierten sich wohl prächtig.

  Mit einem Fluch auf den Lippen schwang ich beide Unterschenkel um den nächsten Ast und wuchtete mich nach oben. Wehe, ich würde mir etwas verletzen, was ich in meinem Leben noch gut gebrauchen konnte!

  Jetzt war ich beinahe auf Augenhöhe mit Sergius’ Tochter, die auf die andere Seite des Stammes herumgeschwungen war.

  »Wenn wir beide hier runterfallen, dann werde nicht ich es sein, der sich dabei wehtut«, sagte ich drohend. »Hier, nimm meine Hand!« Ich streckte meinen Arm aus, den sie misstrauisch beäugte. Nie im Leben würde sie freiwillig meine Hand nehmen, das wusste ich, aber ich sah im Augenwinkel, wie Milo sich ihr von hinten näherte. Das Problem dabei war nur: Milo war viel zu schwer für einen Ast dieser Dicke. Würde er sich verwandeln, um sie zu ergreifen, konnte das böse ausgehen.

  Ich überlegte noch, wie ich ihn davon abhalten sollte, als er den Schnabel öffnete und mit seinem unvergleichlichen Bass ein düsteres »Kroak« ausstieß. Das Mädchen zuckte zusammen, und ich nutzte die Gelegenheit, schoss nach vorn und packte sie am Unterarm. Ein entsetzliches Kreischen tönte aus ihrer Kehle, dann schwankte sie und fiel. Ich schaffte es in letzter Sekunde, meinen Arm um den kleinen Körper zu schlingen, und riss ihn an mich. Sie war nicht viel schwerer als ein Hühnchen, doch leider ebenso wehrhaft.

  »Verflucht, halt still!«, schimpfte ich und presste ihren eiskalten Rücken gegen meine Brust, weil sie wie verrückt zappelte. »Wir fallen noch beide hier runter. Und wenn du mich beißt, dann …«

  Ich hatte es noch nicht ganz ausgesprochen, da schlug sie ihre Zähne in meinen Arm, der ihren Brustkorb umfasste. Dieses kleine Biest!

  Der anschließende Schrei des Mädchens, als ich versuchte, sie von mir abzuschütteln, vertrieb die fremden Rabenkrähen nun endgültig. Sie flatterten erregt in alle Himmelsrichtungen davon. Nur Jaro, András, Milo und Arwed blieben zurück. Erst als ich begann, vom Baum he
runterzuklettern, schien das Kind zu begreifen, dass ich ihr tatsächlich nichts antun wollte, und sie klammerte sich unerwartet fest an meinen Hals.

  »Gott sei Dank, ihr habt sie gefunden!« Der Schein einer Taschenlampe huschte über das Laub. Das war Isabeau. Und Lara!, stellte ich überrascht fest. Überrascht und erleichtert, denn ich würde das Kind nur zu gerne in weibliche Hände abgeben.

  Den letzten Meter sprang ich hinab und stellte das Mädchen vorsichtig vor mir auf den Waldboden. Das künstliche Licht, das ihre Augen erreichte, brachte sie dazu, erschrocken zusammenzuzucken. Sie ließ sich plötzlich fallen und kauerte sich zu meinen Füßen im patschnassen Laub zusammen. Machte sich so klein, als wollte sie in ein Nest kriechen, für das sie in ihrer menschlichen Gestalt viel zu groß geworden war.

  Lara gab einen unartikulierten Laut von sich. Sie ließ ihren Rucksack fallen und zog eine Decke heraus, die sie dem Rabenmädchen um die knochigen Schultern legte.

  WALDSCHULD

  ISABEAU

  Ich beobachtete das Rabenmädchen, das auf dem Rücksitz zusammengekauert schlief. Es hatte den Kopf auf Jaros Schoß gebettet, und er grinste mich an, als sich unsere Blicke trafen. Eine Hand von ihm lag leicht, fast bedeutungslos, auf ihrem Rücken, aber ich wusste, dass er damit jeden Atemzug von ihr bewachte. Seit wir sie eingefangen hatten, hatte er sie keine Sekunde aus den Augen gelassen. Nicht einmal, als Lara sie in die Badewanne gesteckt hatte.

  Jaro hatte vorgeschlagen, sie Ewa zu nennen, weil wir schließlich irgendeinen Namen brauchten, mit dem wir sie anreden konnten. Und Ewa war die erste Frau gewesen, so wie dieses Mädchen der erste weibliche Rabe des Schwarms war. Ewa wusste es zwar noch nicht, aber es sah so aus, als hätte sie gleich einen Beschützer gewonnen, auch wenn sie mit ihrer kämpferischen Art den Eindruck machte, dass sie den nicht brauchte.

  Sie war so erbärmlich dünn. Ihr Anblick tat mir beinahe körperlich weh, und als ich eben, bevor wir losgefahren waren, noch einmal die weiche Wolldecke über ihre Schultern gezogen hatte, war ich erschrocken, dass ich mit meiner Hand ohne Probleme ihren Oberarm umfassen konnte.

 

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