Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition)

Home > Other > Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition) > Page 27
Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition) Page 27

by Nikola Hotel


  Ich war wütend auf Sergius, weil er es so weit hatte kommen lassen. Und ich war wütend auf mich selbst, dass ich das Nest nicht lückenlos überwacht hatte. Es wäre so einfach gewesen, eine Kamera zu installieren, dann hätten wir es sofort gesehen und sie hätte nicht tagelang im Wald hausen müssen. Wie naiv war es von mir gewesen zu glauben, dass sich der Nestling nicht würde verwandeln können. Wie hätte auch aus einem Mann wie Sergius etwas ganz Gewöhnliches entstehen sollen?

  Ich drehte mich wieder nach vorn und sah, dass Lara ihre Lippen fest aufeinandergepresst hatte. Sie fuhr sich nervös durchs Haar und trommelte mit den Fingerspitzen immer wieder auf das Lenkrad.

  »Du solltest sie niemals allein lassen«, raunte sie mir zu, wobei sie stur auf die Fahrbahn starrte. »Nicht eine Minute.«

  »Mach dir mal keine Sorgen. Wir werden es wohl zu dritt schaffen, auf ein Kind aufzupassen.«

  »Sie sollte wirklich zu einem Arzt. Hast du mit Alexej darüber gesprochen?«

  Ich nickte, was Lara natürlich nicht sehen konnte, und schickte ein Seufzen hinterher. »Der General hat einen sehr vertrauenswürdigen Arzt. Alexej war selbst schon bei ihm in Behandlung. Er ist absolut verschwiegen. Wir werden ihn anrufen, sobald wir in Orlík sind. Glaub mir, ich mache mir selbst genug Sorgen um sie. Hoffentlich bringen wir sie morgen dazu, etwas zu essen.«

  Eben hatte Ewa nämlich jeden Bissen, den wir ihr angeboten haben, abgelehnt. Wahrscheinlich misstraute sie dem fremdartigen Essen, wo sie sich bisher nur wie ein Rabe von Kleintieren und … Aas ernährt hatte.

  Nein, Isa, denk bloß nicht genauer darüber nach!

  Aber es war fast unmöglich, nicht daran zu denken, weil mir immer noch der Fotoausdruck im Kopf herumspukte, auf dem zu sehen war, wie sie sich über den Rehkadaver beugte.

  »Und du darfst nicht vergessen, die Foto-Dateien zu löschen. Am besten verbrennst du die Speicherkarte. Es ist nämlich möglich, auch gelöschte Dateien wieder sichtbar zu machen.«

  »Sobald ich zurück bin«, sagte Lara und umfasste das Lenkrad wieder fester.

  »Danke.« Ich legte eine Hand auf ihr Knie, um es zu drücken. »Danke, dass du uns fährst.«

  Laras Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Dann flüsterte sie: »Du hast immer noch nicht deine Eltern angerufen.«

  »Erinnere mich bloß nicht daran!«

  »Im Gegenteil. Das mache ich jetzt bei jeder Gelegenheit, bis du so genervt bist, dass es für dich das kleinere Übel ist, den Anruf einfach hinter dich zu bringen.«

  Das war Lara durchaus zuzutrauen, und weil ich ohnehin schon ein ziemlich schlechtes Gewissen hatte, zog ich mein Handy aus der Hosentasche. Das hätte ich besser nicht getan: schon wieder vierundzwanzig neue Nachrichten. Ich starrte auf das Display und versuchte, einen Großteil davon wegzuhypnotisieren, aber es gelang mir nicht. Sie waren nicht alle von meinem Vater, sondern auch von Timo, der garantiert von Papa beauftragt worden war, mich zusammenzustauchen. Ich löschte sie, ohne sie abzuhören, tippte aber schnell eine SMS für Timo, indem ich ihm versprach, mich morgen zu melden. Dann rief ich meine E-Mails auf und zuckte gleich beim ersten Absender zusammen: Roman.

  Verflixt, ich hatte in all der Aufregung ganz vergessen, ihn zurückzurufen.

  AW: Präparat A + S

  Von: Gnezda, Roman

  An: Radek, Isabeau

  Habe den ganzen Abend auf deinen Rückruf gewartet. (Hörst du den vorwurfsvollen Unterton?!) Beide Proben sind mit deiner ersten identisch, was die seltsame Form der Erythrozyten anbelangt. Habe aber etwas ganz anderes entdeckt, was sogar noch wesentlich bemerkenswerter ist! Mehr dazu, wenn du mich endlich zurückrufst. (Bin morgen allerdings nur bis 12 im Labor.) Kurze Frage: Ihr habt aber nicht vor, irgendwelche Biowaffen zu züchten, oder? ;-)

  Roman

  Roman!, schimpfte ich tonlos und knirschte mit den Zähnen. Warum konnte er mir denn nicht einfach in der E-Mail schreiben, um was es ging? Mit den Fingerspitzen klopfte ich auf die Rückseite meines Handys. Diese Nachricht war wirklich mehr als unbefriedigend. Wie gemein von ihm, mir erst diesen Brocken hinzuwerfen und dann nur Andeutungen zu machen.

  Aber Biowaffen? Wie bitte kam Roman denn jetzt auf diesen Trichter? Wollte er damit etwa sagen, dass die Blutproben von Alexej und Sergius mit irgendwelchen Krankheitserregern infiziert waren? Bedeutete das in letzter Konsequenz auch, dass sie wirklich krank waren, oder waren nur die Proben verunreinigt?

  Wenn er von Biowaffen sprach, dann konnte er damit doch eigentlich nur Bakterien oder Viren meinen. Oder war es möglich, dass ihr Blut vielleicht für diese Erreger nur eine Art Wirt war, während sie für Alexej und Sergius selbst keinerlei Relevanz hatten? Oder war ich nur total bescheuert, mir über Romans Worte überhaupt Gedanken zu machen?

  Roman war ein absoluter Nerd. Ich hatte ihn noch nie persönlich getroffen, sondern immer nur am Telefon oder per Mail mit ihm kommuniziert, aber ich wusste, dass er einen skurrilen Humor besaß. Er gab seinen Laborgeräten Namen! Also nicht Namen wie Heidi oder Paul, sondern Namen von Star-Wars-Raumschiffen. Das war garantiert wieder nur einer seiner üblichen Witze.

  Ich schob das Handy zurück in meine Tasche. »Alexej ist bestimmt längst da«, sagte ich.

  »Soll ich das als Kritik an meiner Fahrweise auffassen? Bin ich dir zu langsam?« Lara streckte mir mit einem kurzen Seitenblick die Zunge heraus.

  »Entschuldige, so war das nicht gemeint. Es ist nur … Ich hoffe einfach, dass er schon da ist. Ich bin ein bisschen aufgeregt wegen seiner Großmutter.«

  »Aber du hast sie doch gerade erst im Krankenhaus besucht. Sie freut sich bestimmt, wenn du kommst.«

  Sakra! Lügen haben wirklich kurze Beine. Ich sollte das nie, nie wieder versuchen, weil mein Talent dafür eher im Promillebereich lag.

  Ich warf einen Blick in den Seitenspiegel, konnte aber Jaros Gesicht nicht sehen und hoffte, dass er nicht zuhörte. »Sie ist ziemlich einschüchternd«, gab ich zu.

  »Ich verstehe«, sagte sie. »Aber Frauen in diesem Alter sind vor allem eins: nämlich lebenserfahren. Glaub mir, Süße, sie wird für alles Verständnis haben, weil es bestimmt nichts mehr gibt, das ihr fremd wäre. Sie hat doch schon so viel durchgemacht. Und wenn ich an Alexej denke, dann ist klar, dass sie eine sehr starke Frau sein muss.«

  Ich beugte mich im Sitz zu ihr hinüber. »Lara«, raunte ich, »sie wohnt in einer verdammten Burg!«

  Jetzt lachte Lara perlend, hielt sich aber gleich die Hand vor den Mund, um Ewa nicht zu wecken. Aber dieses unterdrückte Prusten sorgte nur dafür, dass ich mich noch unwohler fühlte.

  »Ich kann nicht mal essen, ohne mich zu bekleckern!«, erinnerte ich sie und war darüber fast ein wenig verzweifelt.

  »Na und? Ihr Enkel hat vielleicht gute Tischmanieren, aber er frisst Aas, wenn er ein Rabe ist. Und er hat ein paar Söldner an seinen Fersen kleben, weil sein Vater, der immerhin der Sohn des Generals gewesen ist, seinen ehemals besten Freund im Stich gelassen hat. Ich versuche mir gerade vorzustellen, wie du ihn deinen Eltern vorstellst. Burg hin oder her, Alexej hätte wesentlich mehr Grund nervös zu sein.«

  »So ein Blödsinn«, widersprach ich ihr. »Er ist total kultiviert und gebildet, und ich habe aus Blödheit mein Studium geschmissen. Er ist ein wahnsinnig toller Pianist – was alle Frauen lieben und meiner Mutter wahrscheinlich die Tränen in die Augen treiben würde –, und ich kann nicht mal summen. Er weiß immer, wie man sich zu benehmen hat. Außerdem …« Ich überlegte, aber weil mir nichts Besseres einfiel, sagte ich: »Er kann sogar Holz hacken.«

  Einen Augenblick herrschte Stille zwischen uns, dann begannen wir beide lauthals zu lachen.

  »Pssst!«, schimpfte Jaro. »Ewa ist gerade erst eingeschlafen. Könnt ihr mal aufhören damit?«

  »Entschuldige.«

  Ein wenig betreten sah ich wieder nach vorn auf die Straße. Meine Wangen fühlten sich inzwischen ganz heiß an, so nervös war ich, da lehnte sich Lara zu mir, während sie einen Gang runterschaltete. »Sag halt einfach, du könntest kochen.«

  Im Licht der Straßenlaterne sah ich deutlich, wie ihre Augen dabei funkelten.

  STURMSTILLE


  ISABEAU

  »Alexej hat gesagt, wir sollen bis runter vor das Tor fahren«, instruierte ich Lara.

  »Leider ist ab hier die Zufahrt gesperrt.« Sie deutete auf ein Schild, das die Touristen zu einem separaten Parkplatz führte.

  »Aber wir müssen Ewa ins Haus tragen.« Ich sagte ›Haus‹, weil mir das Wort ›Burg‹ oder ›Schloss‹ einfach nicht mehr über die Lippen kommen wollte.

  »Ich werde Ewa tragen«, sagte Jaro bestimmt.

  Natürlich würde er das. Ich schmunzelte über seine Ergebenheit und war auch unendlich froh, dass er sie so mochte.

  »Na gut.« Lara setzte den Blinker, obwohl um diese Uhrzeit außer uns ohnehin kein Mensch mehr auf der Straße unterwegs war, und lenkte den Wagen zurück auf die Straße. Der breite Kiesweg ging immer weiter bergab. Links waren einige Gebäude zu sehen, auf meiner Seite jedoch nur Hecken und Sträucher. Orlík lag auf einer Felsspitze, die mitten in die Moldau ragte. Vor einigen Jahrzehnten wurde eine Talsperre angelegt und hatte den Wasserspiegel ansteigen lassen, so wirkte der Felsen längst nicht mehr so imposant wie auf den alten Fotografien und Gemälden, die ich mir im Internet angesehen hatte. Doch mir langte es auch so.

  »Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich darum beneide, dass du hier schlafen darfst. Das ist so romantisch«, meinte Lara.

  »Ist es überhaupt nicht«, widersprach ich. »Und garantiert wirst du das auch nicht mehr sagen, wenn Wassilij klar wird, dass wir ihm den weißen Raben nicht geben werden und die Söldner uns hier finden.«

  »Da könntest du recht haben«, gab sie zerknirscht zu. Sie stoppte den Wagen direkt vor dem Eingangstor.

  Jaro schob Ewas Kopf vorsichtig von seinem Schoss, und ich stieg aus, um den Sitz nach vorne zu klappen und ihn herauszulassen. Er lief zum Kofferraum.

  »Was wollt ihr machen, wenn die Söldner tatsächlich kommen?«, fragte Lara jetzt, wo Jaro es nicht hören konnte.

  »Ich habe keine Ahnung. Es war wohl ein Fehler, den Selbstverteidigungskurs in der zehnten Klasse abzubrechen, oder?« Das war ein dummer Scherz, und weder Lara noch ich selbst konnten darüber lachen. Wir sahen zu, wie Jaro die Reisetasche über die Schulter wuchtete und zum Eingang trug.

  »Ich habe Angst, dass sie einfach verschwinden«, sprach ich das erste Mal aus, was mich seit Tagen unterschwellig beschäftigte.

  »Wer?«

  »Der Schwarm«, sagte ich. »Dass sie einfach alle Brücken abbrechen und … auswandern. Ich meine, sie können praktisch jederzeit und überall hin. Sie brauchen ja nicht einmal ein Visum. Auch sprachlich können sie sich überall verständigen.«

  »Du vergisst, dass sie ihre Familien hier haben.«

  »Aber sie sehen sie doch ohnehin kaum. Und ich glaube, dass … Alexej hat es zwar nie so deutlich gesagt, aber er hat angedeutet, dass sie diese emotionalen Bindungen verlieren, wenn sie nur lange genug im Schwarm leben. Ich glaube, sie vergessen einfach. Oder es sind nur mehr blasse Erinnerungen.«

  »Das meinst du nicht ernst, oder?«

  Ich wollte Lara wiedersprechen, denn es wäre wirklich sehr praktisch für den Schwarm, wenn es tatsächlich so wäre. Aber es war auch ungerecht von mir, so zu reden, denn sie alle waren äußerst treu und loyal. Außer Sergius vielleicht, aber der war eben ein Sonderfall. Allein wenn ich sah, wie liebevoll sich Jaro um das kleine Mädchen kümmerte, musste ich Laras Frage schon verneinen, doch ich schwieg.

  »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie alles hier zurücklassen würden«, sagte Lara. »Was ist mit uns? Wassilij könnte uns unter Druck setzen, um den Schwarm ausfindig zu machen. Er könnte uns bedrohen oder Schlimmeres.« Sie erschauerte. »Sie werden doch nicht abhauen und uns mit dem ganzen Mist hängen lassen.«

  »Aber sie haben es schon einmal getan«, platzte es aus mir heraus. Dann flüsterte ich, aus Angst, dass Ewa vielleicht doch etwas davon aufschnappen und verstehen könnte. »Alexejs Vater und seine Freunde sind verschwunden, als Wassilij damals verhaftet worden ist. Sie haben sich buchstäblich in Luft aufgelöst.«

  »Du kennst die genauen Umstände doch gar nicht«, raunte sie. »Du weißt nur, was damals in der Zeitung …« Lara brach abrupt ab, als Jaro zurückkam und die Beifahrertür aufzog. Mit einem Auflachen klopfte sie mir auf den Arm. »Bitte meldet euch zwischendurch. Wassilij wird wohl kaum unsere Telefone anzapfen, oder?«

  »Weiß man’s?« Ich versuchte zu lächeln, was dabei herauskam, fühlte sich aber eher nach einer Grimasse an. »Ich könnte eine Brieftaube schicken«, sagte ich und stieg aus, um Jaro Platz zu machen.

  Er hob die schlafende Ewa hoch, und ich stopfte die Decke um sie herum fest, damit sie nicht fror. Lara warf mir zum Abschied einen Handkuss zu. Ich sah ihr nicht nach, als sie losfuhr, sondern lief hinter Jaro her.

  Im Laufen presste Jaro Ewas kleinen Körper an sich. Er war erst fünfzehn Jahre alt, kam mir aber so erwachsen und mutig vor wie David. Außerdem besaß Jaro einen unerschütterlichen Optimismus, der mir leider abging, und ich liebte ihn wie einen Bruder, wurde es mir bewusst.

  »Jaro?« Mit schnellen Schritten schloss ich zu ihm auf.

  »Was ist?«

  Ich sah nur sein Profil, weil er verbissen nach vorne blickte. »Weißt du, ich … Wenn sie dir zu schwer wird, sag Bescheid, okay?«

  Er schnaubte. »Sie wiegt nicht mehr als eine Feder.«

  »Dann warte, ich halte dir die Tür auf«, sagte ich und überholte ihn. Das war aber nicht nötig, denn kaum hatte ich den breiten Torbogen erreicht, hörte ich, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Der rechte Seitenflügel wurde aufgestoßen, und Alexej tauchte mit einem verschmitzten Lächeln auf.

  »Ist Lara schon wieder gefahren?«, fragte er. Hinter ihm strahlten altmodische Laternen an den Wänden einen Gang an, der zu einem Innenhof führte.

  Ich nickte und musste erst einmal meine Ehrfurcht überwinden. »Kann man hier einen Rundgang mit Führung buchen? Wir hätten gerne drei Tickets«, sagte ich albern.

  »Nur zur vollen Stunde.« Alexej zog mich an sich. Seine Wärme zu spüren und den Druck seiner Lippen auf meinen, verdrängte meine nagenden Zweifel. Sein Haar war noch feucht, offenbar hatte er gerade erst geduscht. Ich vergrub mein Gesicht an seinen Hals und genoss es, von den nassen Strähnen an der Nase gekitzelt zu werden. Ganz egal, was er für ein Duschgel benutzte, ihm haftete immer ein männlich-holziger Geruch an, der mir die Knie weich werden ließ.

  »Sucht euch ein Zimmer«, raunte Jaro und verdrehte demonstrativ die Augen.

  »Erst einmal zeige ich dir, wo du das Mädchen hinbringen kannst. Kommt!« Er führte uns in den Innenhof zu einer kleinen gelben Tür. Der Schlüsselbund, den er in der Hand hielt, wog sicher mehr als ein Pfund. Wir betraten einen schmalen Gang mit einem unebenen Steinboden. Jede Tür, die wir passierten, musste erst aufgeschlossen und dann hinter uns wieder sorgsam verschlossen werden.

  »Oh Gott, musst du das jedes Mal machen?«

  »Man gewöhnt sich daran«, sagte Alexej. Als er meinen entsetzten Gesichtsausdruck sah, fügte er hinzu: »Morgen zeige ich dir den direkten Weg zur Wohnung des Generals. Hier laufen in der Saison tagsüber zu viele Touristen herum, und ohne Führung ist das Betreten nicht gestattet. Wir müssen hier die Treppe nehmen.« Mit dem ausgestreckten Arm zeigte er uns den Weg. »Wir benutzen vom ganzen Schloss nur eine Wohnung im zweiten Stock, der Rest ist für die Öffentlichkeit, und glaub mir, wenn du einmal völlig verschlafen und in absolut nicht standesgemäßem Aufzug in die Küche getorkelt bist und dabei eine taiwanesische Gruppe mit gefühlten hundert Fotoapparaten getroffen hast, dann achtest du beim nächsten Mal darauf, jede Tür wieder abzuschließen.«

  Ich musste grinsen. »Schläft deine Oma schon?«

  »Sie will euch morgen früh empfangen.« Er zwinkerte mir zu und hielt uns eine Tür auf, hinter der wir endlich einen Flur mit einem normalen Teppichboden sahen. »Das hört sich schlimmer an, als es ist. Aber du hast sie ja bereits kennengelernt. Sie legt eben wert auf Etikette und geht jeden Abend pünktlich um zehn ins Bett. Außerdem wollte sie dir nicht im Nachthemd gegenüberstehen. Da sind wir.«

  Auch wenn das hier eine Privatwohnung war, so war sie doch über und ü
ber mit Antiquitäten vollgestopft. Alexej deutete meinen überraschten Ausdruck richtig.

  »Leider sind das nicht wirklich alles schöne Erinnerungsstücke. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde viel verkauft und unrechtmäßig enteignet. Was du hier siehst, sind nur die Möbelstücke, die gerettet werden konnten. Manche hat der General sogar eigenhändig aus einem Stall in der Nachbarschaft geschleppt.« Seine Hand glitt über eine Kommode, die nur mäßig hübsch restauriert worden war. »In den Schubladen haben Hühner genistet und ihre Eier abgelegt. Die wertvollen Stücke sind natürlich alle in der Ausstellung.«

  »Ich will euch ja nicht stören, aber können wir das Sightseeing auf morgen verschieben?«, ächzte Jaro. »Ewa wird langsam unruhig.«

  Das Mädchen hatte sich geräkelt und halb aufgerichtet. Jetzt schlang sie ihre dünnen Ärmchen um Jaros Hals.

  »Pardon«, sagte Alexej und trat hastig durch den Flur auf eine Zimmertür zu. »Sie kann hier schlafen.« Er schob leise die Tür auf und wollte gleich das Licht einschalten, doch Jaro hielt ihn zurück.

  »Ich will nicht, dass sie aufwacht.«

  Im Schein der Flurlampe sah man nicht viel mehr außer einem Bett, einem Kleiderschrank und einem Nachttisch. Doch auf dem Boden lag ein flauschiger Teppich, und es war gut geheizt.

  »Direkt gegenüber ist noch ein Schlafzimmer, Jaro. Das kannst du nehmen, dann bist du gleich zur Stelle, wenn sie –«

  »Ich schlafe auch hier«, unterbrach er ihn. »Wenigstens ist es warm.« Er legte die Kleine behutsam auf das Bett und zog die zweite Decke über sie.

  »Nun gut.« Alexej nickte. »Ewa heißt sie, ja?« Unsere Blicke trafen sich, und ich sah das warme Leuchten darin. Ein Leuchten, das mir ganz viel versprach. Alles wird gut, sagte es mir. Alles wird gut.

  Wieso begann ich nur immer zu zweifeln, wenn Alexej nicht bei mir war? Immer wieder quälte mich dieses Gefühl, etwas zu verlieren, doch sobald er mir nah war, löste sich diese Beklemmung, diese negative Erwartung vollständig auf.

 

‹ Prev